Trond Hammerschlag führte uns in einen lang gestreckten Höhlenraum, der hell ausgeleuchtet und eher spartanisch eingerichtet war. Ein langer Tisch an der Längswand, einige Stühle und Bänke, Truhen und Kisten, die an den Wänden aufgereiht standen. Es war kühl wie in einem Keller.
Ich schaute mich um, suchte nach dem Grund für die gesicherte Tür, da stürmte ein Zwerg in einer knielangen Lederschürze auf mich zu, der eine riesige Axt schwang und laut »Aus dem Weg!« brüllte.
Ich warf mich vor meinen König, aber der Zwerg preschte an uns vorbei, ohne uns weiter zu beachten, und schlug mit der Axt nach etwas, das ich nicht erkennen konnte.
»Ist etwas durchgekommen?«, hörte ich Trond erstaunlich gelassen fragen.
»Wir überlegen, das Tor zu schließen«, erwiderte ein zweiter in dickes Leder gewandeter Zwerg. Er stand neben Trond und Arve und stützte sich auf eine Art Pike. Unter seiner Schürze und den langen Stulpenhandschuhen blitze das Rot der Gelehrtengewandung hervor.
»Seit wann ist es undicht?«, fragte Vetle und nahm eine Schürze vom Haken neben der Tür. Er zog sie über und griff nach einem Paar Handschuhe.
»Wir beobachten seit etwas über einer Stunde vermehrte Aktivität. Brage ist der Anker, aber er wird langsam müde, und ich wage es nicht, ihn abzulösen. Vorsicht!« Der Zwerg hob seine Pike und deutete damit auf ein kleines, wolliges Wesen, das hakenschlagend an uns vorbeirannte. Ich erkannte lange Ohren und eine kleine Nase, panisch rollende Augen und kräftige Hinterläufe und rief erstaunt: »Ein Kaninchen?«
Der Zwerg mit der Pike versperrte ihm den Weg und es schlug erneut einen Haken und rannte auf mich zu. »In Deckung«, schrie der axtschwingende Zwerg, der keuchend hinter dem armen Tier herhetzte.
Ich blieb stehen und sah mir das Spektakel an. Das Kaninchen raste auf mich zu und sprang dann mit einem weiten Satz in meine Arme. Die Zwerge fuchtelten mit ihren Waffen und schrien: »Lass es fallen!«, »Wirf es weg!«, und in dem Moment, als ich lachend das Nackenfell des Kaninchens packen wollte, um den Verrückten um mich zu zeigen, wie harmlos das Wesen war, das sie da verfolgten, knurrte das kleine Tier wie ein riesiger Hund und schlug mir seine Zähne in die Hand.
Ich schrie und schleuderte es von mir, warf, ohne nachzudenken, einen Blitz hinterher, der das tollwütige Tier töten sollte, aber der Blitz prallte von dem Kaninchen ab wie von einem Gegenzauber und schlug zischend in einen Tisch ein. Das kleine, pelzige Tier kreischte und sprang erneut auf mich zu.
Der Zwerg mit der Pike warf sich zwischen mich und das Kaninchen, fing die zuschnappenden Zähne im Leder seiner Handschuhe, und dann blitzte die Axt dicht neben seinem Arm herab und machte dem erstaunlichen Spektakel ein Ende.
Ich kniete neben dem Bündel Fell und Knochen nieder, berührte es mit den Fingerspitzen und blickte dann fragend zu Trond und seinen Gelehrten auf.
Der König schmunzelte. »Das ist eins der größeren Lebewesen, die durch ein einzelnes Dämonentor hierher gelangen können.«
»Das war ein Dämon?«, fragte Auberon. Er klang enttäuscht.
»Das ist eine der vielen Dämonenarten, die wir bisher katalogisieren konnten«, erklärte der Zwerg mit der Pike. »Wir haben ihn ›Hasendämon‹ genannt.«
Wie originell. Ich verkniff mir den Einwand, dass es sich offensichtlich um ein Kaninchen und nicht um einen Hasen zu handeln schien, und fragte: »Welche Arten kennt ihr noch?«
»Das ist jetzt nicht wichtig«, unterbrach Trond Hammerschlag. »Vetle, wir wollen das Tor sehen.«
Der junge Gelehrte, der inzwischen vom Kopf bis zu den Füßen in dickem Leder steckte und sich entsprechend schwerfällig bewegte, bedeutete uns, ihm zu folgen.
Auberon, der in der letzten Stunde sehr schweigsam gewesen war, schüttelte den Kopf. »So etwas wie dieses Tier habe ich noch nie gesehen, auch nicht in der Nähe der Tore, die wir geschlossen haben.«
»Das wäre auch ungewöhnlich«, erklärte Vetle. »Wenn das Tor nicht von einem Gelehrten offen gehalten wird, bekommt es nicht genügend Energie, um Dämonen in unsere Welt zu locken. Ihr müsst euch das wie ein Signalfeuer oder einen lockenden Duft vorstellen. Ein ungebundener Stein, der von einem Laien für die Beschwörung benutzt wird, schafft gerade ein kleines Fenster, durch das man hindurchsehen kann und das keine Aufmerksamkeit auf der anderen Seite erregt.«
»Dann sind diese Tore also völlig ungefährlich«, murmelte Auberon. Die Erkenntnis machte ihm zu schaffen ‒ und mir ebenfalls. All die Mühe, die wir aufgewandt hatten ‒ umsonst?
»Das kann man leider nicht so allgemein sagen«, mischte sich Arve ein. »Dass sich durch unser Tor vermehrt Dämonen manifestieren, dürfte nämlich eigentlich nicht geschehen.«
»Schauen wir es uns an«, sagte Vetle und zog einen Vorhang beiseite.
Der vertraute, erschreckende Anblick eines weit offenen Dämonentores schlug uns entgegen. Ich wich unwillkürlich zurück. Der gleichzeitig heiße und eiskalte Odem des Tores, die tobende Stille, das brüllende Nichts, die blendende Schwärze ‒ all diese widersprüchlichen Eindrücke packten und schüttelten mich, dass ich glaubte, meine Knochen unter der Belastung knirschen zu hören.
Auch Trond Hammerschlag war nicht unbeeindruckt davon. Er hatte die Augen zusammengekniffen und schien die Luft anzuhalten. Auberon stand weit vorgelehnt, als müsste er gegen einen starken Wind ankämpfen, und schrie: »Ist das hier stärker als die Tore, die wir kennen?« Vetle nickte.
Ich sah einen Zwerg in der schützenden Ledermontur, der neben dem Inferno hockte und das Gesicht in den Händen vergraben hatte. Wie hielt er es so dicht neben dem offenen Tor aus?
Vetle fing meinen Blick auf und rief: »Brage verankert das Tor. Er hält die Verbindung zum Steinträger und warnt uns, wenn eine Veränderung eintritt.«
Der Zwerg hörte Vetles Stimme und blickte auf. Seine Augen blickten ins Leere und sein bärtiges Gesicht war vor Anspannung verzerrt. Er bleckte die Zähne. »Angriff«, stieß er hervor.
Vetle fluchte. Er deutete auf die Ränder des schwarzen Nichts und ich erschrak. Diesen Anblick kannte ich. Das Tor drohte unter der Belastung zu reißen. Dann erkannte ich, was das Tor zum Bersten brachte, und mein Atem stockte.
Etwas Schwarzes, Gestaltloses versuchte sich durch die Öffnung zu zwängen. Eine Wesenheit drängte sich zu uns in den hell erleuchteten Raum und verschluckte das Licht. Ich vermeinte, Klauen zu erkennen, spitze Stacheln und Zähne, sich windende Auswüchse, Köpfe mit Spinnenaugen, die aus Greifern herauswuchsen und wieder hineinsanken, lange, dunkelblaue Zungen und geifersprühende, schnappende Mäuler ‒ ein ständig sich veränderndes, ungeheuerliches Wesen, das sich vielgliedrig an die Ränder des Tores klammerte und den Weg in unsere Welt suchte.
»Wir müssen es sofort schließen«, brüllte Vetle gegen das Getöse des Tores an. Er winkte dem Zwerg mit der Pike, der seine Waffe wortlos fallen ließ und sich mit dem Axtträger, Vetle und Arve Sägezahn vor dem Tor aufstellte. Die Zwerge senkten die Köpfe und intonierten eine dissonante, brummende Inkantation, die ähnlich nervenzerrende Wirkung auf mich hatte wie das Geheul des Tores und der Anblick des Wesens, das sich gegen die Öffnung warf.
Ich erwartete, das gewohnte mühevolle, zermürbende Stückwerk zu sehen, das ich verrichtete, um ein Tor zu schließen, wurde aber überrascht. Von einem Atemzug auf den nächsten war es still und friedlich im Raum. Statt der klaffenden Öffnung in eine andere Realität stand ein ausgemergelt wirkender, graugesichtiger Zwerg vor uns, der mit trockenen Lippen stammelte: »Wie lange?«
»Drei Stunden, Truls«, antwortete Brage, sein Anker, nicht weniger heiser und stützte den Taumelnden.
»Drei?«, fragte der und traute offensichtlich seinen Ohren nicht. »Ich war so lange ... so endlos lange ...«
Die Zwerge scharten sich um ihn, flößten ihm Wasser ein, rieben seine Hände und klopften seinen Rücken.
Trond Hammerschlag neigte sich zu Auberon und mir und murmelte: »Die Zeit im Tor scheint jedes Mal anders zu vergehen. Mal schneller als bei uns, mal viel langsamer. Meine Leute wissen noch nicht, woran das liegt und ob man es steuern kann.« Sein Blick fiel auf mich, er nickte ernst und sagte: »Deine Hand, Munir. Möchtest du ein Tuch, um das Blut zu stillen?«
Erst da bemerkte ich, dass in stetem Tröpfeln Blut aus den Wunden in meiner Hand rann, die mir der Hasendämon gebissen hatte. Die Wunden schmerzten nicht und ich sah sie verwundert und ein wenig besorgt an.
»Sie sind nicht giftig«, erklärte Trond, der meine Miene richtig deutete, und reichte mir einen Lappen, den er vom Tisch neben uns genommen hatte. Der Stoff schien sauber zu sein, also schlang ich ihn wie einen Verband um meine Hand. Es überraschte mich, wie gelassen die Zwerge den Angriff der Wesenheit auf das Tor nahmen. Was wäre mit uns passiert, wenn das Ding durchgebrochen wäre?
Ich sprach diese Frage laut aus, und Vetle, der seine Handschuhe ausgezogen hatte und nun auch die Schürze ablegte, winkte ab. »Das Labor ist gut gesichert«, sagte er. »Es hätte diesen Raum nicht verlassen können.«
»Aber wir wären mit ihm hier eingesperrt gewesen«, wandte ich ein.
Vetle zuckte mit den Schultern. »Ja, sicher«, sagte er gleichmütig. »Das hätte unangenehm werden können.« Damit wandte er sich ab und widmete sich wieder dem erschöpften Zwerg.
Ich atmete kurz durch und gesellte mich zu Auberon, der sich in gedämpftem Ton mit Trond Hammerschlag beriet. Der Zwergenkönig hatte die Arme verschränkt und eine sture Miene aufgesetzt.
»Du kannst dich jetzt kaum hinstellen und mir erzählen, dass ihr nichts damit zu tun habt«, hörte ich Auberon leise und scharf sagen. »Irgendjemand muss diese Steine ja geschaffen haben.«
Der Gedanke war mir auch schon gekommen. Sternensteine waren Zwergenmagie.
Trond blieb dabei, den Kopf zu schütteln. »Keiner meiner Zwerge würde sich dafür hergeben«, sagte er entschieden. »Keiner, Auberon. Diese ungebundenen Steine müssen einer anderen Quelle entstammen. Vielleicht hat einer deiner Rebellen einen Weg gefunden, etwas Ähnliches zu erschaffen. Der Zauber ist schwierig, aber nicht unmöglich. Wenn jemandem aus deinem Volk im letzten Krieg die Abhandlungen von Magnar Donnerkeil über Sternensteine in die Hände gefallen sind, dann könnte er mit ein wenig magischem Geschick so etwas durchaus hergestellt haben.«
»Ich würde gerne einmal so einen ungebundenen Stein sehen«, sagte ich. »Vielleicht bringt mich das einer Lösung näher.«
»Das ließe sich bewerkstelligen«, erwiderte Trond. Seine plötzliche Bereitwilligkeit überraschte mich, ich wechselte einen erstaunten Blick mit Auberon.
Trond drehte sich zu seinen hitzig über irgendetwas debattierenden Gelehrten um und klatschte fest in die Hände. »Darf ich um Gehör bitten? Vetle?«
Der junge Zwerg eilte herbei, und der Zwergenkönig fragte: »Haben wir noch Steine in ihrem Urzustand in der Stillekammer?«
Vetle drehte sich um und wiederholte laut Tronds Frage. Arve Sägezahn, der sich auf eine Bank gesetzt hatte und zu schlafen schien, hob erschreckt den Kopf. »Steine im Urzustand?«, krächzte er. »Ungebundene Steine? Ja, natürlich haben wir ungebundene Steine. Wir halten immer Sternensteine in ihrer ursprünglichen Form vorrätig. Das ist schließlich meine Aufgabe, junger Trond!« Er schoss einen strafenden Blick unter buschig weißen Brauen auf den Zwergenkönig.
Ich verbarg ein Lachen hinter meiner Hand und sah Auberon schmunzeln.
»Sehr schön, Arve«, sagte Trond erstaunlich mild. »Das ist doch sehr schön. Dann bist du doch sicher so freundlich und führst unseren Gast zu ihnen? Er möchte sie sich ansehen.«
Arve stemmte sich auf die Beine und humpelte heran. »Wer, dieser Elfenbengel von Magier? Hältst du das etwa für klug?«
»Sei nicht so unhöflich, Arve Sägezahn«, tadelte ihn der Zwergenkönig. »Wir helfen unseren Gästen, so gut wir können.«
Auberon grinste breit. »Darf ich dich bei Gelegenheit an deine Worte erinnern, Trond?«
Der Zwerg maß ihn mit einem Blick, der unter anderen Umständen dazu geführt hätte, dass Schwerter und Äxte ins Spiel kamen. Heute aber war alles anders. Auberon lachte und schlug dem Zwerg auf die Schulter, worauf Trond Hammerschlag nur amüsiert grunzte.
Ich überließ die beiden so verschiedenen und doch so ähnlichen Könige ihrer kollegialen Unterhaltung und folgte dem voranhumpelnden Arve Sägezahn, der leise vor sich hinschimpfte. »Neumodische Zeiten«, hörte ich ihn grummeln. »Spitzohriges Gelichter. Zu meiner Zeit wäre das niemals ...«
Ich ließ ihn reden und schaute mich um. Der Höhlenraum erstreckte sich noch ein ganzes Stück weiter, als es mir bei unserem Eintreten bewusst geworden war. Er machte einen Knick und endete an einer weiteren magisch verschlossenen Tür. Arve Sägezahn hörte auf zu murmeln und öffnete die Tür. »Bitte«, sagte er missmutig.
Ich folgte seiner Aufforderung und trat ein. Es war eisig kalt und dunkel, der Raum lag in einem grünlich-violetten Dämmerlicht. Ich suchte nach der Lichtquelle.
»Hier«, sagte Arve und schob mich ohne große Umstände auf einen tischhohen Steinblock zu. In den Block war eine Höhlung gemeißelt. Der Lichtschimmer schien aus dieser Höhlung zu stammen, aber als ich ihn näher in Augenschein nehmen wollte, hielt Arve mich auf. »Einen Moment«, sagte der Zwerg. Er nahm ein aufgerolltes Stück Stoff von einem Bord neben der Tür und hielt es mir hin. »Um die Augen«, erklärte er.
Ich rollte den Stoff ab, er war spinnwebendünn und durchscheinend. Was sollte das bewirken? Ich sah Arve fragend an.
Der alte Zwerg war damit beschäftigt, sich selbst die Augen zu verbinden. Er hatte Mühe damit, die Arme hoch genug zu heben, damit er mit seinen steifen Fingern den Knoten schlingen konnte, und ich nahm es mir heraus, ihm dabei zu helfen. Er knurrte einen überraschten Dank.
»Nun du, junger Elf«, sagte er in etwas freundlicherem Ton als zuvor. »Falls du an deinem Augenlicht hängst, heißt das. Du kannst natürlich auch mit ungeschützten Augen hineinschauen. Ich führe dich dann gerne wieder zurück.« Er lachte keckernd.
Ich zuckte die Achseln und verband mir die Augen mit dem nutzlos dünnen Stoff. Es wurde ein wenig dämmriger, aber ich konnte die Umrisse des Tisches, den Zwerg neben mir und vor allem den hässlichen Lichtschein noch immer gut unterscheiden.
Arve schob mich jetzt zum Tisch. »Hier sind sie«, sagte er. »Vier Stück. Mehr davon auf einmal zu verwahren, wäre gefährlich. Sie neigen dazu, sich zu entzünden.«
Ich blickte auf die Höhlung nieder, die etwa die Größe zweier Hände hatte, und die Steine, die darin lagen. Sie waren es, die das grünviolette Licht ausstrahlten. Harmlos sahen sie aus, wie ganz gewöhnliche, daumengroße Kieselsteine. Ich hob die Hand, um einen davon aufzunehmen, und Arve bewegte sich erstaunlich schnell für so einen alten Zwerg ‒ er schlug mir auf die Finger, dass ich glaubte, er hätte sie mir gebrochen.
»Au!«, rief ich empört. »Was soll das denn?«
Arve schüttelte den Kopf. »Du weißt nichts über Sternensteine, he?«
Nein, das tat ich nicht. Es wollte mir ja keiner dieser holzköpfigen Zwerge etwas darüber verraten. »Was muss ich wissen?«, fragte ich ein wenig gereizt.
»Die Urform brennt«, erwiderte Arve kurz. Er sah sich suchend um, bückte sich ächzend und pickte einen Fetzen Stoff auf, der neben dem Tisch lag. »Schau hin«, sagte er.
Der Stoff landete auf einem der Steine und verglühte in einer grellweißen Stichflamme.
»Deshalb die Kälte«, sagte ich und betrachtete den Steinblock, der mit Reif überzogen war.
»Deshalb die Kälte«, bestätigte der alte Zwerg. Er blickte auf die Steine hinab.
»Wie kann jemand damit arbeiten?«, fragte ich. Das Bild der versengten, geschwärzten Hände, die wir an den toten Dämonentoren entdeckt hatten, erschien vor meinen Augen und ließ mich schaudern.
Arve schnaubte nur und griff ohne zu zögern in die Höhlung. Er pickte einen der Steine auf und hielt ihn mir entgegen. »Nimm ihn«, forderte er mich auf.
Ich zögerte einen Augenblick lang, dann griff ich zu. Kalt und glatt lag der Stein in meiner Hand. Ich sah Arve fragend an.
Der Zwerg verschränkte die Arme und fixierte mich wachsam. Ich schaute auf den Stein nieder. Nichts unterschied ihn von denen, die in der Höhlung ruhten. Nichts ‒ bis auf ... Ich prüfte den Stein mit meinen magischen Sinnen und stieß auf eine unnachgiebige Hülle aus reiner Energie.
»Du hast ihn in einen Schutzzauber gehüllt«, stellte ich fest. Die Anerkennung, die in meiner Stimme schwang, war echt. Der alte Zwerg hatte den Zauber gewirkt, ohne dass ich etwas davon mitbekommen hätte.
Arve schmunzelte. »Richtig, junger Elf.« Er beugte sich vor und tippte gegen meine Hand. »Du wolltest die Steine untersuchen. Bitte.«
Es war schwierig bis unmöglich, etwas von der ursprünglichen magischen Schwingung des Sternensteins aufzunehmen, solange der Schutzzauber darum gewoben war. Ich hob nach einer Weile nutzlosen Herumstocherns seufzend den Kopf und fragte: »Gibt es keine Möglichkeit, diesen Stein ohne seinen Schutz genauer zu examinieren?«
»Doch, die gibt es«, erwiderte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah, dass Auberon, Trond und Vetle zu uns gestoßen waren. Sie alle trugen diese albernen Augenbinden, was unserem Treffen eine unwirkliche, geheimnisvolle und gefährliche Atmosphäre verlieh.
Vetle, der gesprochen hatte, kam an meine Seite und betrachtete den schimmernden Stein. Dann hob er den Kopf und sah seinen König und danach mich an. »Wir haben so etwas noch nie getan und haben keine Erfahrung damit, was passiert, wenn ein ungedämpfter, ungebundener Stein übergeben wird. Das ist die pure Urform ungezähmter und wilder Magie. Es ist möglich, dass du den Stein nicht unter Kontrolle bekommst. Das Experiment ist lebensgefährlich. Ich rate davon ab.«
Ich warf einen Blick auf den schimmernden Stein. »Wenn ich den Stein nicht untersuche, werden wir nie weiter in das Geheimnis der Dämonentore vordringen. Ich muss es wagen.«
Vetle blickte zu seinem König. Trond hob mit einer zweifelnden Geste die Schultern, sah wiederum Auberon an. Der nickte. »Was auch immer es ist, Munir wird es meistern«, sagte er mit solch sicherem Vertrauen in mich, meine Stärke und meine Fähigkeiten, dass ich verlegen den Kopf senkte.
Arve erhob seine Stimme: »Ich bin dagegen, Trond Hammerschlag. Wie viele Elfen willst du noch als Steinträger durch die Welt laufen lasse?«
Der Zwergenkönig brachte den Alten mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er nickte Vetle zu, der meinen Arm ergriff und mich zu einem schwarzen Stein lenkte, der etwas erhöht aus dem Boden ragte. Er reichte mir ein Paar Handschuhe aus Fischleder und sagte: »Stell dich hierhin. Wenn etwas schiefgehen sollte, haben wir dich isoliert.«
Der Stein strahlte eine kribbelnde Spannung aus, die mir ameisengleich die Beine hinauflief. Ich schauderte. »Was könnte passieren?«
Vetle kämmte sich mit den Fingern durch seinen Bart. Er schien nach Worten zu suchen. »Es könnte sein, dass es dir nicht gelingt, den Stein zu bändigen«, sagte er schließlich. »Ich habe keine Erfahrung damit, wie Elfen mit Sternensteinen zurechtkommen. Möglicherweise gibt es einen Zusammenbruch der Harmonien ...« Er sprach weiter, aber mit den ersten Worten hatte er bereits den Bereich verlassen, in dem ich ihm noch folgen konnte.
Ich unterbrach ihn, indem ich ihm auf die Schulter klopfte. »Lass gut sein«, sagte ich. »Was muss ich jetzt tun?«
Er erklärte mir, dass er den Stein nun befreien würde und dass ich den ersten Moment des Aufflammens abpassen müsse, um eine Verbindung zwischen mir und dem Wesen des Steins herzustellen. Danach würde ich nach eigenem Ermessen verfahren müssen, weil jeder erste Kontakt mit einem Sternenstein nach einem anderen Muster verliefe.
»Aber wenn das geklappt hat, kannst du jederzeit aus dem Rapport springen«, endete Vetle mit einem aufmunternden Lächeln. »Ich halte den Schutzkreis um dich und den Stein aufrecht, dann können eventuell vorkommende Entladungen keinen von uns verletzen.«
»Was ist die Quelle der Entladung?«, fragte ich mit einer unguten Vorahnung.
»Du«, erwiderte Vetle fröhlich und zog einen Bannkreis um mich.