Erramun sprach kein Wort mit Ivaylo, während sie durch den Garten gingen. Ivaylo fühlte, wie sein Herz heftig klopfte. Ein paar Worte über deine Ausbildung und über deinen Vater, hatte der Lehrer gesagt. Über deinen Vater.
Die Worte dröhnten in Ivaylos Ohren. Er schluckte, um die plötzliche Trockenheit in seinem Hals zu bekämpfen. Niemand hier hatte mit ihm über seine Eltern gesprochen. Alle taten beinahe so, als hätte es Farran und Audra nie gegeben. Sie sind tot, dachte Ivaylo. Sie müssen tot sein, denn warum waren sonst alle so abweisend und verschlossen, wenn die Sprache auf Farran und Audra kam?
Über deinen Vater. Ivaylo warf einen Blick auf Erramun. Der Lehrer hatte seine Hände auf den Rücken gelegt und schien weder zu sehen noch zu hören, was um ihn herum vorging. Hatte er vergessen, dass Ivaylo ihm folgte?
»Wohin gehen wir?«, fragte Ivaylo.
Erramun antwortete nicht sofort. Dann wandte er den Kopf und sah Ivaylo nachdenklich an. »Ich möchte nicht, dass wir gestört werden«, erwiderte er. »Ich besitze ein kleines Refugium unten am Fluss, in das ich mich gelegentlich zurückziehe. Du bist der erste meiner Schüler, den ich dorthin mitnehme. Verrate es den anderen nicht.« Er zwinkerte zwar bei diesen Worten, aber sein Gesicht wurde sofort wieder ernst.
Ivaylo nickte und klemmte das Buch unter den anderen Arm. Wollte Erramun ihn wirklich darin unterweisen, wie man Portale öffnete? Er mochte es sich kaum ausmalen.
»Was versprichst du dir davon?«, fragte Erramun. Ivaylo musste nicht fragen, was er meinte.
»Ich möchte versuchen, meine Eltern zu finden«, erwiderte er. »Wahrscheinlich sind sie tot. Aber vielleicht werden sie nur irgendwo festgehalten und können mir keine Nachricht schicken.« Er machte eine hilflose Handbewegung. Dort draußen. Außerhalb der Welt der Elfen. Gefangen gehalten von Wesen, die er sich nicht vorstellen konnte, die Fangzähne hatten und giftigen Geifer sprühten, die hundert Arme besaßen und keine Beine, Augen wie eine Spinne hatten oder zwei Köpfe. Böse Wesen. Mächtige Wesen. Sein Vater hatte ihm von den Toren in andere Welten erzählt, die so gefährlich zu öffnen waren, und von den Wesen, die dahinter lauerten. Seine Eltern waren spurlos verschwunden, und er konnte sich nicht vorstellen, dass sie tot waren. Vielleicht hatten seine Eltern sich in eine dieser anderen Welten gerettet. Es musste einfach so sein! Und wenn es so war, würde er sie zu finden wissen. Er war stark und er hatte keine Angst vor Dämonen.
Erramun nickte nachdenklich. »Du scheinst die naheliegende Möglichkeit auszuschließen, dass sie in einem von Auberons Kerkern sitzen?«
Ivaylo riss die Augen auf. »Wie kommst du darauf?« Als Erramun nicht antwortete, fuhr er fort: »Ja, das schließe ich aus. Ich habe länger als ein Jahr auf dem Königsstein gelebt. Ich hätte es gemerkt, wenn sie dort eingekerkert gewesen wären. Munir hat sich jeden Tag um mich gekümmert. Ich hätte bemerkt, wenn er mich angelogen ...« Ivaylo verstummte. Hätte er es wirklich bemerkt?
»Munir.« Erramun lächelte, als er den Namen aussprach, und dennoch klang er wie ein Schimpfwort. »Auberons treuer Hund.« Er erläuterte seine Worte nicht, sondern deutete energisch nach vorne. »Lass uns nicht trödeln. Wir haben viel miteinander zu bereden.«
Ein kleines Haus kauerte geduckt an der Böschung zum Fluss. Seine Vorderfront überwucherte rankender Wein, dessen Laub sich in allen Rottönen des Sonnenuntergangs färbte. Eine Weide mit tief hängenden Zweigen verdeckte die Seite, die zum Weg zeigte. Ivaylo wäre beinahe an dem Haus vorbeigelaufen, ohne es zu bemerken. Er folgte Erramun über den von Holunderbüschen gesäumten Pfad, der zur Haustür führte. »Sei willkommen«, sagte der Lehrer und öffnete die niedrige Tür. Er musste ein wenig den Kopf einziehen, um unter dem Türstock hindurchzupassen. Ivaylo lachte und machte eine Bemerkung darüber.
Erramun schmunzelte und entzündete mit einer beiläufigen Handbewegung ein Feenlicht. In dem kleinen, niedrigen Raum war es kühl und dämmrig.
»Das ist ein Zwergenhaus«, staunte Ivaylo, der sich umschaute.
»Mit einem schönen Kamin«, entgegnete der Lehrer. »Bist du so freundlich und machst uns darin ein Feuer? Holz findest du hinter dem Haus.«
Wenig später brannte das Kaminfeuer und vertrieb die klamme Kälte aus dem Raum. »So ist es schon besser«, murmelte der Lehrer und ließ sich in einen durchgesessenen Lehnstuhl sinken.
Ivaylo hockte sich auf die Kante des Stuhls, der auf der anderen Seite des Kamins stand. Er war viel zu aufgeregt, um sich gemütlich zurückzulehnen. »Mein Vater«, sagte er, denn das brannte ihm am meisten auf der Seele. »Du wolltest mit mir über ihn sprechen.«
Erramun ließ sich nicht drängen. Er betrachtete Ivaylo nachdenklich. Ivaylo ließ es über sich ergehen, obwohl er vor Ungeduld barst. Er zwang sich, tief und langsam zu atmen und seinerseits den Lehrer zu mustern. Erramun erinnerte ihn an eine große, wachsame Katze, deren Trägheit nur vorgetäuscht war, um das Opfer in Sicherheit zu wiegen. Seine strahlend grünen Augen schauten verschleiert unter halb gesenkten Lidern hervor, aber in ihrer Tiefe blitzte ein kaltes Feuer. Ivaylo wand sich unbehaglich unter diesem Blick.
»Was weißt du über das Schicksal deiner Eltern?«, fragte Erramun unvermittelt.
»Nichts«, erwiderte Ivaylo, ohne nachzudenken. »Gar nichts. Sie waren plötzlich fort und ich fand mich auf dem Königsstein wieder.«
Erramun schüttelte den Kopf. »Du erinnerst dich nicht daran, wie du dorthin gelangt bist?«
Ivaylo verneinte. »Ich glaube, dass Jäger mich aufs Schloss brachten«, sagte er zögernd. »Aber ich bin mir nicht sicher.«
»Munir hat es dir nicht verraten?« Erramun schien den Namen des Zauberers nicht ohne einen spöttischen Unterton aussprechen zu können.
Ivaylo faltete die Hände und legte das Kinn darauf. »Ich erinnere mich kaum an meine Zeit auf dem Königsstein. Es ist, als hätte ich das Jahr im Halbschlaf verbracht.«
Erramun nickte, als hätte Ivaylo etwas bestätigt, was er bereits vermutet hatte. Er beugte sich vor und hielt Ivaylo seine offene Hand hin. »Darf ich versuchen, deine Erinnerungen zu finden?«
Ivaylo schreckte zurück. »Wie?«, fragte er voller Misstrauen.
Erramun ließ die Hand nicht sinken. »Ich werde nichts tun, was dich verletzt. Ich werde auch nicht in deine Gedanken eindringen.« Er hielt Ivaylos Blick gefangen. Aus seinem Gesicht sprach nichts als Aufrichtigkeit. »Aber vielleicht muss ich dir zuerst von mir erzählen. Du kennst mich nicht, ich bin dir fremd.«
Er lehnte sich wieder zurück und legte die Hand auf die Armlehne des Stuhls. Seine andere Hand ruhte entspannt in seinem Schoß. Ivaylo sah die vertraute Bewegung, mit der Erramuns Daumen über die Handfläche rieb.
»Ich bin deinen Eltern hier in Gondiars Haus begegnet«, begann er zu sprechen. »Das war vor deiner Geburt, Ivaylo. Sie waren oft zu Besuch, bis Farran und Gondiar sich zerstritten. Das Zerwürfnis war ernst, und ich habe damals nicht begriffen, worum es dabei ging. Inzwischen glaube ich es zu wissen.«
Ivaylo griff nach seinem Sternenstein, wie immer, wenn er aufgeregt oder voller Angst war. »Was ist geschehen?«
Erramun rieb sich über die Nase. »Es ging um Politik«, sagte er. »Wie so oft, wenn Menschen sich streiten. Gondiar ist ein treuer Gefolgsmann unseres Königs. Farran dagegen ...« Er dachte nach, suchte nach den richtigen Worten.
»Mein Vater hielt nichts von Auberon und seiner Herrschaft«, sprach Ivaylo aus, was Erramun nicht laut sagen wollte. »Er fand es falsch und gefährlich, jede Zauberei zu verbieten. Er wollte sich nicht vorschreiben lassen, wie er seine Fähigkeiten zu benutzen hat. Mein Vater ist ein starker Magier, noch stärker als Munir«, schloss er stolz.
Erramun nickte bedächtig. »So muss es gewesen sein.« Seine Brust hob sich in einem langen Seufzer. »Ich verstehe deinen Vater ‒ auch wenn ich nicht weiß, ob ich sein Verhalten gutheißen kann. Wir alle sind Untertanen des Königs. Was er sagt, ist Gesetz.«
Ivaylo lachte spöttisch. »Auch, wenn es grundfalsch ist, was er sagt?«
Erramun neigte zweifelnd den Kopf. »Ist es an uns, das zu entscheiden?« Sein Blick war lauernd, er schien auf etwas zu warten.
»Was erwartest du von mir?«, fragte Ivaylo mühsam beherrscht. »Ich hege den Verdacht, dass Auberon etwas mit dem Verschwinden meiner Eltern zu tun hat. Und wenn das wirklich der Fall ist, dann ...« Er vollendete seinen Satz nicht, weil ein Ansturm von Bildern und Gefühlen ihn verstummen ließ. Farran und Audra, von Jägern getötet, irgendwo verscharrt. Seine Eltern, die in einem lichtlosen Kerker tief unter der Erde verhungerten. Audra, die mit ihren letzten Atemzügen nach ihm rief. Farran, der mit einem Fluch gegen seinen Peiniger auf den Lippen starb.
Ivaylo ballte die Fäuste.
»Du weißt nicht, was die Wahrheit ist«, gab Erramun zu bedenken. »Möglicherweise sind deine Eltern freiwillig ins Exil gegangen.«
»Ohne mich?«, erwiderte Ivaylo bitter.
Erramun nickte ernst. »Ohne dich. Es ist hart, getrennt von allen anderen Elfen zu leben. Vielleicht wollten sie dir das nicht antun. Du hast hier eine Familie, bei der du es gut hast.«
Ivaylo sprang auf und lief durch den Raum. »Es ist nicht in Ordnung!«, rief er. »Es geht mir nicht gut hier. Das ist nicht meine Familie!«
»Die kleine Alana hat dich aber sehr gern«, gab Erramun zu bedenken.
Ivaylo schwieg eine Weile. Er setzte sich wieder hin und seufzte. »Ja, schon«, gab er widerwillig zu. »Und trotzdem ...«
»Und trotzdem«, stimmte Erramun zu Ivaylos Erstaunen zu. »Du bist nicht aus eigenem Willen hier. Das ist es.« Er dachte nach. »Wärst du lieber auf dem Königsstein geblieben? Bei Munir?«
Ivaylo wollte verneinen, aber dann hielt er inne, um über die Frage nachzudenken. Es hatte ihn getroffen, dass Munir ihn hier abgeliefert hatte wie ein ungeliebtes Möbelstück. »Ich hätte nichts dagegen gehabt«, entgegnete er schließlich. »Munir ist der Magier des Königs. Er hätte mich unterrichten können.«
»Zauberei ist aber doch verboten«, erinnerte Erramun ihn.
Ivaylo presste die Lippen zusammen. »Es ist falsch«, sagte er dann. »Ich habe die Fähigkeiten meiner Eltern geerbt. Ich könnte ein guter, starker Zauberer sein, wenn man mich ließe!«
»Der könntest du sein«, stimmte Erramun sanft zu.
Ivaylo sah ihn fragend an. Der Lehrer wirkte traurig und ein wenig ratlos. Er schien mit ihm zu fühlen. Ivaylo spürte einen Kloß im Hals. Zumindest Erramun schien er nicht gleichgültig zu sein!
»Lass uns nachsehen, was wirklich geschehen ist«, sagte Erramun schließlich. Erneut streckte er seinen Arm aus, und dieses Mal legte Ivaylo seine Hand in die des Lehrers. Beide schlossen die Augen und atmeten gleichzeitig tief ein und wieder aus. »Gut so«, murmelte Erramun. »Jetzt lass dich fallen. Es ist, als würde dein Körper einschlummern, aber dein Geist bleibt hellwach. Lass deine Augen geschlossen, aber sieh mich an. Deine Ohren hören nichts von dem, was um dich herum passiert, aber du lauschst meiner Stimme. Nur meiner Stimme.« Er schwieg einige Atemzüge lang. Dann setzte er leise hinzu: »Du siehst, hörst, riechst, schmeckst ‒ erinnerst dich!«
Ivaylo spürte, wie seine Muskeln sich entspannten, sodass er gegen die Lehne des Stuhls sackte. Sein Kopf fiel nach hinten. Er atmete tief und langsam. Schwebte er? Er hatte die Augen geschlossen, aber er konnte sich selbst sehen, wie er dort in den Stuhl geschmiegt saß, und Erramun, der seine Hand hielt.
Was für ein eigenartiges Gefühl, wollte er ausrufen, aber ihm fehlten die Lippen, um die Worte zu formen, der Atem, um sie auszusprechen. Körperlos schwebte er über seiner in den Sessel zurückgesunkenen Gestalt.
Als der Zustand ihn zu ängstigen begann, verspürte er einen festen Ruck, und dann war wieder alles an seinem Platz. Er dehnte leicht die Schultern, atmete ein und genoss das Gefühl der durch seine Nasenlöcher streichenden Luft.
Erramun schnalzte leicht mit der Zunge. »Jetzt schau zurück«, sagte er leise und scharf.
Und Ivaylo blickte zurück. Er hockte auf dem Dachgeflecht des Hauses und hörte, wie seine Mutter um sein Leben flehte. Er beobachtete, wie sein Vater sich schützend vor sie stellen wollte, und wie sie ihn beiseiteschob, um einen großen Elfen anzuflehen. Er sah, wie ein zweiter, dunkler Elf sie grob anfuhr. »Munir«, rief er erschreckt aus und bäumte sich auf.
»Still«, sagte eine Stimme besänftigend. »Das ist vorbei.« Jemand strich über seine Stirn und beruhigte den Aufruhr in seinem Kopf. Ivaylo zwang sich, das Bild erneut zu betrachten. Munir, es war wirklich Munir, der Audra festhielt. Und der Große, der seinen Vater mit kaltem Blick musterte, das war Auberon, der König selbst!
Ivaylo unterdrückte ein Stöhnen. Die Jäger. Sie hatten ihn entdeckt. Sie würden ihn töten!
Wieder beruhigte ihn die Berührung einer warmen Hand. »Was geschah dann?«, fragte die Stimme.
Ein langer Ritt, er war kaum bei Bewusstsein. Ein steinernes Zimmer, in dem er vor Angst schreiend zu sich kam. All diese festen, dunklen Wände um ihn herum! Stein und noch mal Stein, kein Licht, keine Luft, keine Bäume, die sich leise flüsternd bewegten. Er schrie und schlug um sich und die Hände hielten ihn fest.
Zitternde Atemzüge. Ivaylo erinnerte sich an den Königsstein. Munir verbrachte jeden Tag Zeit mit ihm. Dann war er allein, weil der Zauberer im Land unterwegs war. Er streifte durch das Königsschloss und suchte nach seinen Eltern. Wo waren sie? Sie mussten doch irgendwo hier sein!
Lange Zeit. Lange Zeit. Er wurde müde. Es war so schwer, sich zu erinnern. Schlafen.
Als Ivaylo erwachte, fiel sein Blick auf den Kamin. Das Feuer war heruntergebrannt, und nur noch rötliche Glut glomm auf dem Rost. Erramun saß in seinem Stuhl, ein Feenlicht schwebte über seiner Schulter. Er klappte das Buch zu, in dem er gelesen hatte, und sah Ivaylo aufmerksam an. »Wie geht es dir?«
Ivaylo rieb sich den steifen Nacken. »Gut, glaube ich. Kann ich etwas zu trinken haben?«
Der Lehrer schenkte einen Becher Wasser ein und reichte ihn Ivaylo. Der trank und spritzte sich ein paar Tropfen ins Gesicht, um wach zu werden. Erramun wartete geduldig.
»Woran erinnerst du dich nun?«, fragte er, als Ivaylo den Becher abstellte.
Ivaylo legte das Kinn in die Handfläche und dachte nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Es ist zu viel, das ich nicht verstehe. Dass Auberon mit dem Verschwinden meiner Eltern zu tun hat, überrascht mich nicht sehr. Und ich hätte mir denken können, dass Munir mehr weiß, als er mir sagen wollte.«
Er schlug mit der Hand gegen die Armlehne des Stuhls. »Aber ich hätte niemals geglaubt, dass er mehr als nur das Wissen darüber mit seinem Herrn teilt. Er hat sogar selbst Hand angelegt, er hat meine Mutter ...« Seine Stimme brach, und er benötigte einige Atemzüge, um sich zu fassen.
»Das alles habe ich klar vor Augen«, fuhr er schließlich fort. »Dennoch stimmt mit meinen Erinnerungen etwas nicht. Ich war noch ein Kind, als sie meine Eltern und mich verschleppten. Und ich weiß, dass ich ein Jahr lang in Munirs Obhut auf dem Königsstein gelebt habe.« Er blickte Erramun an und suchte nach Worten. Dann wurden seine Augen groß. »Ein Jahr lang?«, fragte er sich selbst. »Ich kann mich an den Apfelbaum im Schlosshof erinnern. Er war groß und alt, und das ganze Schloss duftete, wenn er in Blüte stand. Seine Äpfel waren klein und rot und saftig. Ich erinnere mich an vier Sommer, in denen ich auf einem seiner Äste hoch oben in der Krone gesessen und Äpfel gegessen habe.« Er schlug die Hände vors Gesicht, bis ins Innerste erschüttert.
»Munir hat dich mit einem Bannzauber belegt«, sagte Erramun. »In jedem neuen Jahr hast du das alte vergessen. Wahrscheinlich wollte er dir auch deine Erinnerung an deine Eltern nehmen, aber das ist ihm nicht gelungen.«
»Warum hat er mir das angetan?«, rief Ivaylo aus. Er hatte Munir immer als jemanden betrachtet, der ihm gegenüber zwar nicht in allem vollkommen offen war, ihm aber doch mit Zuneigung und Fürsorge begegnete. Wie konnte es sein, dass der Zauberer ihn so hintergangen hatte? Er hatte Ivaylo vorgegaukelt, dass er ein vertrauenswürdiger Freund sei, und ihn in Wirklichkeit die ganze Zeit über belogen, getäuscht und verraten.
»Sie wollten dich im Auge behalten, denke ich«, sagte Erramun. »Sie wollten sichergehen, dass du ihnen nicht gefährlich werden kannst.«
»Ein Kind!«, rief Ivaylo aus. »Ein kleiner Junge, der nachts nach seiner Mutter weint!« Er biss die Zähne aufeinander.
»Ein kleiner Junge, der alle Talente und Fähigkeiten besitzt, einmal ein mächtiger Zauberer zu werden«, wandte Erramun ein.
»Ich hasse sie!«, rief Ivaylo voller Überzeugung aus. »Ich hasse Auberon und seinen Zauberer! Sie haben mir meine Eltern genommen und mich zu etwas gemacht, das ich nicht bin!« Er sprang auf und lief zur Tür. Dort blieb er stehen und legte schwer atmend die Stirn gegen das raue Holz.
Er hörte, wie Erramun aufstand und zu ihm kam. Eine Hand legte sich leicht und beruhigend auf seinen Nacken. »Ich bin an deiner Seite«, sagte der Lehrer. »Lass uns sehen, ob wir für deine Eltern noch etwas tun können. Vielleicht leben die beiden noch. Es sähe Auberon ähnlich, sie in einem seiner Kerker zu vergessen.«
Ivaylo schauderte. »Ich fürchte, dass Munir ihnen etwas viel Schlimmeres angetan hat«, flüsterte er. »Er hat mich so schnell vom Königsstein geschafft, es war wie eine Flucht. Da muss es geschehen sein, was auch immer er getan hat.«
Erramun holte scharf Luft und wandte den Kopf ab. Ivaylo griff nach seiner Schulter. »Was ist es? Woran hast du gerade gedacht?«
»Nichts«, erwiderte der Lehrer und drehte sich weg. »Nein, es kann nicht sein, mein Junge. Das kann ich mir nicht vorstellen. Das brächte noch nicht einmal Munir fertig.« Er fuhr sich mit unsicheren Händen über das Gesicht. »Lass mich darüber nachdenken. Es ist eine Vermutung, nichts weiter.«
Er lächelte Ivaylo an, es sollte wohl aufmunternd oder beruhigend wirken, aber seine Augen blickten so ernst und beinahe erschreckt, dass es Ivaylo angst und bange wurde. »Was ist es?«, schrie er den Lehrer an.
Erramun befeuchtete seine Lippen und ging zum Kamin. Er beugte sich nieder und stocherte in der ersterbenden Glut. Funken flogen auf, sie beleuchteten gespenstisch sein angespanntes Gesicht. Er legte ein Scheit auf die Glut und richtete sich wieder auf. »Du hast nach einem Weg gesucht«, begann er zögernd zu sprechen. »Das Buch, das du aus dem Schrank ... entliehen hast.«
»Ja?«, drängte Ivaylo, als Erramun nicht fortfuhr.
»Warum hast du gerade dieses Buch genommen?«
Ivaylo griff nach seinem Sternenstein. »Es schien mir das richtige zu sein«, sagte er. »Ich glaube, dass meine Eltern gefangen gehalten werden, aber nicht hier. Ich würde es spüren, wenn sie noch hier wären.« Er hob die Hand in einer verzweifelten Geste. »Ich kann es dir nicht erklären, Erramun. Ich wüsste es einfach. Da ist aber nichts. Es ist Leere. Nicht-Sein. Entweder sind sie wirklich tot und begraben ...«, seine Stimme brach.
»... oder sie leben noch, sind aber an einen Ort verbannt worden, den keine Elfenseele erreichen kann«, vollendete Erramun den Satz.
Ivaylo sah ihn verblüfft an. »Ja, das meinte ich.«
Der Lehrer nickte und starrte ins Feuer. Gelbe Flammen begannen um das neu aufgelegte Holz zu tanzen und es zu verzehren. »Wie stark bist du?«, fragte er.
Ivaylo presste seinen Sternenstein zwischen den Fingern. »Ich habe keine Angst.«
»Das ist gut. Was wir beginnen müssen, erfordert Mut und Stärke. Ich habe erwachsene Elfen, fähige Magier, bei diesem Werk vor Angst zittern und weinen sehen.« Erramun hob die Hand, seine Handfläche nach oben gerichtet, und zeigte sie Ivaylo. Die Stelle, über die immer sein Daumen rieb, war rot und glänzte.
Unwillkürlich berührte Ivaylo die Narbe in seiner eigenen Handfläche. »Du besitzt einen Sternenstein«, sagte er.
Erramun sah ihn an, ohne zu blinzeln. Einen Moment lang erschien sein Blick erstarrt und tot, dann belebte er sich wieder. »Du weißt, was das ist?«
Ivaylo erwiderte den Blick des Lehrers. Dann nickte er. »Ich habe auch einen.«
Erramuns Augen weiteten sich leicht. »Darf ich ihn sehen?«, bat er.
Ivaylo griff nach der Kette, an welcher der Stein hing. Er zögerte. Es widerstrebte ihm einen kurzen Augenblick lang, ihn Erramun zu zeigen. Dann schüttelte er den Kopf, belächelte sein Zaudern und zog die Kette über den Kopf.
Erramun hielt die Kette behutsam zwischen den Fingern und legte den Stein dann auf den Tisch, ohne ihn zu berühren. »Wer hat ihn geschaffen?«, fragte er. »Dein Vater? Und wie kannst du ihn so völlig ungeschützt tragen?«
»Mein Vater, hm ...«, sagte Ivaylo unbestimmt. »Aber wovor sollte ich den Stein denn schützen?«
Erramun lachte. Er berührte den Sternenstein vorsichtig mit dem Fingernagel. »Nicht ihn. Dich.«
Ivaylo sah ihn verständnislos an. Erramun schüttelte den Kopf und holte eine kleine Dose aus der Tasche. »Schau hier. Was denkst du, was das ist?«
Ivaylo beugte sich über die Dose. Sie war fein gearbeitet, mit einem winzigen Verschluss und einer zarten Rune, die ihren Deckel verzierte.
Verzierte? Ivaylo blickte genauer hin. So ein seltsam schimmerndes Metall, war das etwa ‒ »Feensilber«, sagte Ivaylo. »Und die Rune, die vor Schaden schützt.« Er sah den Lehrer fragend an.
Erramun schnippte das kleine Schloss auf. Im Inneren der Dose lag ein unscheinbarer Kiesel, etwa so groß wie zwei Männerdaumennägel. »Fass ihn nicht an«, sagte Erramun scharf, als Ivaylo nach dem Stein greifen wollte. »Was meinst du, warum ich ihn derart gesichert habe?«
Ivaylo faltete die Hände auf dem Rücken und beugte sich wieder über die Dose. »Aber wenn das dein Sternenstein ist, dann kann er mir doch nicht schaden«, sagte er verständnislos.
Erramun zog die Brauen hoch. »Wir sprechen möglicherweise nicht über die gleiche Sache. Das ist Zwergenmagie, sehr kompliziert und schwer zu meistern. Ein echter Sternenstein verbrennt dir die Hand, wenn du dich nicht schützt – zum Beispiel mit einem speziellen Handschuh aus Fischleder.« Er schloss die Dose und steckte sie wieder weg. »Nur mit einem solchen Sternenstein lässt sich ein Tor öffnen. Dein Stein muss irgendetwas anderes sein, wahrscheinlich ein harmloses Spielzeug.«
Ivaylo hielt den Atem an. Ein Tor öffnen ‒ das war es, was er schaffen wollte!
Er packte Erramuns Arm und drückte ihn so fest, dass er den Knochen darin spüren konnte. »Meiner ist ein echter Sternenstein«, beteuerte er. »Ich habe ihn von Trond Hammerschlag selbst bekommen.«
Erramun löste seinen Arm aus Ivaylos Klammergriff. »Der Zwergenkönig?«
Ivaylo nickte ungeduldig. »Das Tor. Du musst mir zeigen, wie man es öffnet! Jetzt!«
Der Lehrer lachte. »Lieber Junge«, sagte er, »das ist kein Zauber, den man eben mal zwischen Abendessen und Sonnenuntergang bewerkstelligt. Er verlangt eine gewisse Vorbereitung. Ich würde vorschlagen, du beschäftigst dich mit dem Buch, das du dir herausgesucht hast. Und vielleicht ...« Er zögerte und warf einen prüfenden Blick auf Ivaylos Stein, der immer noch auf dem Tisch lag.
»Vielleicht?« Ivaylo zügelte mühsam seine Ungeduld.
»Du könntest mir deinen Stein geben, damit ich ihn mir genauer ansehe. Du bist also der Meinung, dass es ein echter Sternenstein ist? Und der Zwergenkönig selbst hat ihn dir gegeben? Das kann ich kaum glauben. Irrst du dich da nicht?«
»Ich weiß es«, erwiderte Ivaylo kurz. »Ich habe ihn an mich gebunden, deshalb diese Narbe in meiner Hand.« Er blickte unwillkürlich auf Erramuns Hand. »Wieso fragst du mich das alles?«
Warum sah die Narbe des Lehrers so frisch aus? War Erramun gerade erst in den Besitz des Steins gelangt? Auf welchem Weg? Und hatte er nicht schon dieses Brandmal in der Handfläche, als Ivaylo ihn das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte? Ivaylo runzelte verwirrt die Stirn.
»Ich sage doch, wir sprechen möglicherweise über zwei unterschiedliche Dinge«, sagte Erramun. Er klang ärgerlich. »Es hat mich viel Mühe, Schmerzen und Zeit gekostet, den Stein zu erschaffen, den ich dir gezeigt habe. Ich möchte gerne herausfinden, wie er sich von deinem unterscheidet. Gibst du ihn eine Weile in meine Obhut?«
Ivaylo widerstrebte der Gedanke. Er hatte sich von seinem Stein, seit er ihn an sich gebunden hatte, keinen Augenblick getrennt.
»Ich weiß nicht«, sagte er unschlüssig.
Erramun schien das zu kränken. »Wie soll ich dir bei deiner Suche helfen, wenn du mir nicht vertraust?«
Ivaylo seufzte und schob den Stein zu Erramun. »Hier.« Er sah beklommen, wie sein Sternenstein in Erramuns Hand verschwand. »Nein«, sagte er. »Nein, warte, ich ... gib ihn mir zurück. Es ist nicht richtig, dass ich dir meinen Stein gebe.«
»Hab keine Angst«, beruhigte Erramun ihn. »Ich behalte ihn nur über Nacht, morgen bekommst du ihn wieder.«
Ivaylo biss die Zähne aufeinander. Was war es, das ihn so erschreckte? Hatte er etwas in den Augen des Lehrers gesehen, das er sich nicht erklären konnte? Oder war es einfach die Tatsache, zum ersten Mal seit Langem von seinem Stein getrennt zu sein?
Erramun blickte ihn unverwandt an und Ivaylo konnte seine Miene nicht deuten. Der gedämpfte Schein des Feenlichts warf seltsame Schatten über Erramuns Züge und verlieh ihnen einen höhnischen Ausdruck.
»Geh nach Hause«, sagte der Lehrer. »Morgen früh sehen wir uns hier wieder, einverstanden? Dann bringe ich dir bei, wie man ein Tor in die Welt der Dämonen öffnet. Das wolltest du doch, oder?«
Ivaylo fand sich vor der Tür des Häuschens wieder, das Buch in der Hand. Es hatte zu dämmern begonnen und am Himmel blinkten die ersten Sterne. Die Luft war kalt und klar, sie trug schon die Ahnung von Winter mit sich. Vom Fluss her stieg kalter Dunst auf, der Ivaylo frösteln machte.
Er klemmte das Buch fest unter seinen Arm, schob die Hände in die Taschen seiner Jacke und ging mit schnellen Schritten zum Haus zurück. Morgen früh, dachte er. Heute Nacht lese ich das Buch, und morgen früh zeigt Erramun mir, wie ich ein Tor öffnen kann! Er schauderte und begann zu laufen, auf die tröstlich helle Wärme des Hauses zu.