Seit ihrem ersten Besuch im Königsschloss kannte Alana sich hier gut genug aus, um nach ein wenig Suchen schließlich den abgekämpft wirkenden Haushofmeister in einem Pulk von Bediensteten auf dem Weg zwischen dem Ballsaal und dem Küchentrakt ausfindig zu machen und nach den Neuankömmlingen zu fragen.
Der Haushofmeister, der ungewöhnlich groß und dürr war, winkte Alana beiseite, ignorierte einen ungeduldigen Kammerdiener und eine Köchin mit hochrotem Kopf, die ihn ebenfalls dringend zu sprechen wünschten, und beugte sich zu ihr hinab. »Was kann ich für dich tun?«, fragte er höflich.
»Die Reisenden«, wiederholte Alana geduldig. »Gerade eben sind zwei Reisende angekommen, einer davon ist mein Lehrer Erramun. Wo sind sie untergebracht worden, bitte? Ich muss es wissen!«
Der Haushofmeister kratzte sich mit einem langen Finger nachdenklich am Kinn. Seine gelbgrauen Augen schlossen sich halb. »Ah, ja«, sagte er dann und lächelte breit. »Der Hauslehrer und sein Zögling. Im Westtrakt, gleich hinter dem kleinen Ballsaal. Weißt du, wo das ist?«
Alana wusste es, und der Haushofmeister beschrieb ihr die Lage des Zimmers, die er Erramun zugewiesen hatte. Alana bedankte sich und überließ ihn den wartenden Bediensteten und seiner Arbeit.
Der Gang, in dem Erramuns Zimmer sich befand, war schlecht beleuchtet. Trotzdem sah Alana die feuchten Fußspuren auf dem sauberen Boden. Vor der Tür, die der Haushofmeister ihr genannt hatte, stand in einer großen Pfütze ein Paar Stiefel, dessen weiches Leder dunkel war vor Nässe.
Alana klopfte an und wartete, aber im Zimmer rührte sich nichts. Sie nagte unschlüssig an ihrer Unterlippe. Wahrscheinlich lag Erramun, erschöpft von seinem Ritt, bereits in tiefem Schlaf. Ihn zu wecken wäre unfreundlich und rücksichtslos gewesen. Aber sie hatte so ungeduldig auf Ivaylo gewartet, dass ihr der Gedanke, ihn erst am nächsten Morgen zu sehen, beinahe unerträglich erschien.
Kurz entschlossen und energisch klopfte Alana ein zweites Mal gegen die Tür.
»Ja?«, hörte sie Erramun unwirsch antworten. »Was ist denn?«
»Ich bin es, Alana«, rief sie. »Entschuldige, dass ich dich störe. Ich suche Ivaylo. Du hast ihn doch mitgebracht, oder?«
Schritte näherten sich der Tür, dann öffnete der Lehrer. Seine feuchten Haare klebten an der Stirn und ringelten sich über seine Schultern und er trug ein loses, langes Hemd über einer gestrickten Hose. Alana hatte ihn noch nie zuvor so unformell gekleidet gesehen, und sie spürte, dass sie errötete.
Erramun griff hastig nach einem Hausmantel, der neben der Tür hing, und streifte ihn über. »Alana«, sagte er matt. »Hätte das nicht Zeit bis morgen gehabt?« Er schob die Tür auf. »Na gut, nun bist du einmal hier. Komm herein. Was wolltest du wissen?«
Alana trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich wollte dich nicht stören«, murmelte sie. »Es tut mir leid, wirklich. Aber ich habe mir solche Sorgen gemacht ‒ der Schnee. Und ich wusste doch nicht, ob ... ob Ivaylo ...« Sie verstummte, ärgerlich auf sich selbst und ihr dummes Gestotter.
»Ivaylo«, wiederholte Erramun. Alana rechnete es ihm hoch an, dass er nicht lächelte. »Ja, ich habe ihn mitgebracht. Der Ritt hat ihn aber sehr erschöpft, er schläft.«
»Ja, dann ...«, sagte Alana enttäuscht und erleichtert zugleich. »Dann gehe ich jetzt wieder. Danke. Bis morgen, Erramun.
Der Lehrer nickte und schickte sich an, die Tür zu schließen.
»Erramun?«, rief Alana, »geht es ihm gut?«
Der Lehrer hielt inne und blickte sie erstaunt an und Alana biss sich auf die Zunge. Wie konnte sie sich nur so albern aufführen? »Schlaf gut«, sagte sie hastig und ging davon. Sie hörte, wie hinter ihr die Tür ins Schloss fiel. »Dumm und albern«, schimpfte sie halblaut. »Dumme, alberne Gans!«
Sie verbrachte den Abend mit der versprochenen Kanne Schokolade lesend am Kamin, während Garnet, die eine Frühaufsteherin war, sich schon tief in ihr Bett verkrochen hatte und leise schnaufend fest schlief.
Daina hatte sie gefragt, ob sie ihr Gesellschaft leisten solle, aber Alana hatte verneint. Es war schön, sich in eine Decke zu wickeln, die Füße zum Kaminfeuer zu strecken und mit Nüssen und Schokolade versorgt auf eine Buchseite zu schauen.
Eine Buchseite. Irgendwann bemerkte Alana, dass sie ein und denselben Abschnitt schon zum vierten oder fünften Mal las, ohne auch nur ein einziges Wort aufgenommen zu haben. Sie klappte das Buch zu und ließ es in ihren Schoß fallen. Die Flammen in der Feuerstelle tanzten unruhig im Luftzug. Es hatte aufgehört zu schneien, aber ein starker Wind war aufgekommen und heulte um das Schloss, rüttelte an den Fenstern und orgelte dumpf im Kamin. Alana sah dem Tanz der Flammen zu und dachte unbehaglich an die schreckenerregende Vision zurück, die sie kurz vor der Ankunft Erramuns heimgesucht hatte.
Sie schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. Unwillkürlich griff sie dabei nach ihrem Sternenstein. Er war glatt und kühl, und während sie ihn festhielt, wurde er noch kälter und glatter, bis sie glaubte, ein Stück Eis in den Fingern zu halten. Sie sog scharf die Luft ein. Die Finsternis, die sie durch das Tor hatte kommen sehen, war hier im Schloss. Sie konnte sie fühlen, sie konnte sie sehen. Tausend Augen waren in der Dunkelheit und starrten sie an.
Der Sternenstein war so kalt, dass ihre Finger daran festklebten. Die Dunkelheit kroch durch das Schloss und verschlang alles Licht. Jemand musste ihr Einhalt gebieten, ehe sie alles auslöschte, was warm und hell und freundlich war!
»Erramun«, flüsterte Alana und riss die Augen auf. Im Kamin flackerte tröstlich und warm das langsam ersterbende Feuer. Alana beugte sich vor und legte hastig ein Scheit nach. Ihre Finger ließen sich kaum biegen, so erstarrt und kalt waren sie. Alana streckte sie zum Feuer und ließ die belebende Wärme in ihre Knochen kriechen. Es war bitterkalt im Zimmer, der Sturm ließ die Fensterläden klappern und zog durch alle Ritzen. Sie fröstelte unter ihrer Decke. Vielleicht sollte sie einfach ins Bett gehen, die Decke über den Kopf ziehen und sich auf das Wiedersehen mit Ivaylo freuen.
»Na warte«, murmelte sie. »Sverre und mich einfach so sitzen zu lassen!«
Sie ließ ein Feenlicht neben dem Bett brennen. Es beleuchtete schummrig das fertige Kostüm, für das sie am Nachmittag so lange hatte still stehen müssen. Alana legte die Wange auf die Hand und betrachtete es. Eigentlich war es richtig hübsch, mit einem knöchellangen, gebauschten Rock aus dunkelroter Seide, der an den Seiten ein wenig hochgerafft war und so die cremefarbenen Spitzen des Unterrocks hervorblitzen ließ. Das Mieder war mit kleinen Perlen in allen Schattierungen des Sonnenuntergangs bestickt und schillerte im Licht wie ein Schmetterlingsflügel, und die Ärmel waren weit und transparent und flossen weich über den Rock. An einem Bügel neben dem Kleid hing die Maske, die Alana zu dem Kostüm tragen würde. Sie war geformt wie ein roter Vogelkopf, mit blitzend grünen Juwelenaugen. Alana fröstelte bei ihrem Anblick. Was war es nur, das sie daran so verstörte?
Düsteres Schwarz und eisiges Weiß. Ein unbewegliches Katzengesicht, das den roten Vogel anstarrte. Mordlüstern, gefährlich, tödlich.
Alana keuchte und riss die Augen auf. Da war niemand außer Garnet, die sich so tief unter ihre Decke vergraben hatte, dass nur noch ein paar Haare herausschauten.
Alana richtete sich auf und zog die Decke um die Schultern. Das Bild des rot gefiederten Kopfes ließ sie nicht los. Es war nicht ihre eigene Maske, die sie vor Augen hatte, sondern eine größere, mit langen schwarzen Federn, die bis in den Nacken hingen, einem großen Schnabel und goldgeränderten Augen aus Onyx.
Wer ist der Mann im Vogelkostüm?, fragte sie sich stumm. Und wer verbarg sich hinter der Katzenmaske? Sie erinnerte sich daran, diese beiden in Sverres Spiegel gesehen zu haben. Die Katze hatte den Vogel bedroht und war daraufhin von dunklen Gestalten ergriffen und aus dem Bild gezerrt worden. Und danach ...
Danach war alles voller Blut. Alana schauderte und umklammerte ihren Sternenstein so fest, dass seine glatten Kanten in ihre Finger schnitten. »Sag mir, was ich gesehen habe«, flüsterte sie. »Sag es mir, Stein. Wird es hier passieren? Beim Winterjahrfest?«
Der Stein blieb stumm. Alana runzelte die Stirn. Hier im Schloss würde sich etwas Schreckliches ereignen, und sie war die Einzige, die davon wusste. Sollte sie jemanden um Hilfe und Rat bitten? Ihre Eltern oder Erramun?
Alana legte sich zurück und starrte an die Decke. Das Feenlicht warf verschwommene Schatten darauf, die wie Wolken aussahen. Wen auch immer sie um Rat fragte, sie musste ihm ihren Sternenstein zeigen und erklären, wie sie daran gekommen war. Damit fielen ihre Eltern aus. Ihr Vater hatte ihr sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er es missbilligte, wenn Alana sich mit Sverre abgab.
Sie seufzte und drehte sich auf die Seite. Erramun. Sie wusste nicht, wie er darauf reagieren würde. Er stand in ihres Vaters Diensten und war ihm zur Treue verpflichtet. Würde er sie an Gondiar verraten? Sie glaubte es nicht, konnte es aber auch nicht mit Bestimmtheit ausschließen.
»Ivaylo«, flüsterte sie. Mit ihm konnte sie über alles reden. Vielleicht wusste er Rat.
Alana kuschelte sich in ihr Kissen. Sie hatte sich so sehr auf den Ball gefreut und würde sich den Spaß nicht verderben lassen. Die Vogelmaske blinzelte ihr verschwörerisch zu ...
»Aus den Federn, Langschläferin.« Garnets unausstehlich fröhliche Stimme riss sie aus einem Traum, in dem sie mit einem Wolfsjungen und einer schwarz-weißen Katze durch den Schnee rannte.
»Was denn?«, murmelte sie schlaftrunken und rieb sich verwirrt die Augen. »Es ist doch noch mitten in der Nacht.« Tatsächlich war es so dunkel im Zimmer, als wäre die Sonne noch nicht aufgegangen.
Garnet ließ sich auf Alanas Bett fallen und hielt ihrer Freundin einen halb vollen Becher hin. »Tee«, sagte sie. »Schön heiß. Du musst pusten.«
Alana stützte sich ächzend auf einen Ellbogen und nahm die Tasse entgegen. »Du bist verrückt, so früh aufzustehen«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Es ist nicht früh«, entgegnete Garnet. »Ich bin schon seit Stunden auf!« Sie sprang auf und ging zum Fenster, um die Läden aufzustoßen. Mattsilbernes Licht sickerte ins Zimmer. »Schau nur, wie viel Schnee über Nacht gefallen ist.« Sie drehte sich um und klatschte in die Hände. »Ach ja, fast hätte ich es vergessen: Ivaylo ist angekommen!«
»Weiß ich«, murmelte Alana und blies über ihren Tee. »Hast du ihn gesehen?«
Garnet lehnte am Fenster und blickte hinaus. »Das gibt bestimmt noch mehr Schnee«, sagte sie. »Nein, er schläft wohl noch. Auch so einer, der nicht aus den Federn findet. Sollen wir gleich einen Schlitten anspannen lassen und eine Ausfahrt machen?«
»Sei nicht so eklig wach«, protestierte Alana.
Garnet grinste und hockte sich auf ihr Bett. »Koldo ‒ das ist der Stallbursche ‒ hat mir erzählt, was für eine Zicke diese Osane ist. Er ist nett. Versteht eine Menge von Pferden.«
»Na, dann muss er ja nett sein«, knurrte Alana. »Wer ist noch mal Osane?«
Garnet musterte sie mitleidig. »Du hast aber schlecht geschlafen, was?« Sie stand auf. »Ich muss etwas essen. Kommst du auch gleich zum Frühstück?« Die Tür klappte hinter ihrem letzten Wort zu.
Alana lehnte sich aufseufzend zurück und schloss noch einmal für einen Moment die Augen. Sie nahm sich vor, nie wieder mit Garnet ein Zimmer zu teilen, wenn es sich vermeiden ließ.
Als sie das nächste Mal erwachte, wusste sie nicht gleich, wo sie war. Sie ließ den Blick durch das Zimmer wandern, und erst, als er auf ihr Kostüm fiel, das im grauen Morgenlicht geheimnisvoll schimmerte, erinnerte sie sich wieder.
Es war kalt im Zimmer, weil das Feuer längst ausgegangen war. Alana nippte an dem Tee, den Garnet ihr gebracht hatte und verzog das Gesicht, weil er eiskalt und bitter war. Sie verzichtete schaudernd auf eine ausgiebige Wäsche und schlüpfte eilig in ihre Kleider. Hatte Garnet nicht etwas von Frühstück gesagt?
Wie sie von ihrem ersten Aufenthalt auf dem Schloss wusste, gab es in der Nähe des Küchentraktes einen kleinen Speisesaal, in dem auch für Spätaufsteher immer noch etwas zu essen bereitstand. Der Saal war mit Tischen und langen Bänken eingerichtet, Wachslichter wärmten Getränke und Speisen, die auf einem langen Tisch am Kopfende des Saales angerichtet waren, und ein großes Kaminfeuer am anderen Ende hielt die Kälte im Zaum.
Alana nahm sich eine Portion gerührter Eier und Brot und sah sich dann nach dem schönsten Platz um. Nur wenige der Tische waren besetzt, die meisten Schlossgäste schienen ihr Frühstück bereits eingenommen zu haben.
Sie ging auf den Kamin zu und entdeckte zwei Elfen, die an einem Tisch in der Ecke saßen und leise miteinander sprachen. Alana erkannte den schwarzen Schopf des ihr zugewandt Sitzenden und lachte erfreut. »Ivaylo«, rief sie und stellte ihren Teller ab. »Guten Morgen, Erramun. Habt ihr heute Nacht gut geschlafen?«
Zwei Augenpaare sahen sie an, beide gleich abweisend und kalt. Fischaugen und Katzenaugen, dachte Alana erschreckt.
Die grünen Augen belebten sich als erste. Erramun lächelte und rückte einladend beiseite. »Wie nett«, sagte er. »Komm, setz dich zu uns.«
Alana sah mit gerunzelter Stirn zu Ivaylo. Das Gesicht des Jungen war so verschlossen wie eine zugemauerte Tür.
Erramun räusperte sich angelegentlich, woraufhin Ivaylo seine Lippen zu einem Lächeln verzog, das seine kalten Augen nicht erreichte. »Hallo Alana«, begrüßte er sie.
»Uh, der Herr hat wohl schlechte Laune«, entfuhr es ihr. »Hast du Angst, dass ich dir die Meinung sage, weil du einfach abgehauen bist, ohne mir ein Wort zu sagen? Das kommt noch, Ivaylo, aber erst mal will ich frühstücken.«
Sie senkte den Kopf über ihren Teller und schaufelte wütend ein paar Gabeln Rührei in den Mund, ehe sie wieder aufblickte.
»Er ist noch müde von unserem Ritt«, sagte Erramun begütigend. »Das stimmt doch, oder? Ivaylo?«
Der Junge nickte. »Das stimmt«, sagte er mit seiner rauen Stimme. »Tut mir leid, Alana. Das war keine nette Begrüßung.«
Sie sah ihn misstrauisch an. Er lächelte, und seine Augen boten wieder den vertrauten Anblick, sahen nicht mehr aus, als gehörten sie einem toten Fisch.
»Dann ist ja gut«, sagte sie erleichtert.
Erramun schien geistesabwesend und nicht sehr gesprächig, und Ivaylo antwortete zwar freundlich, aber denkbar knapp auf alles, was Alana zu ihm sagte. Sie gab es schließlich auf, ein Gespräch in Gang zu bringen, und sie beendeten ihr Frühstück, ohne mehr als ein paar belanglose Worte miteinander gewechselt zu haben.
»Ivaylo, sehen wir uns denn nachher?«, fragte Alana enttäuscht, als die beiden Männer mit einer Entschuldigung vom Tisch aufstanden. »Ich wollte dir etwas erzählen.«
Der Junge nickte. »Ich komme zu dir«, sagte er und wies mit einer unbestimmten Kopfbewegung auf Erramun. »Ich wollte nur vorher Erramun noch ein wenig herumführen, damit er sich zurechtfindet. Er hat sich noch nie länger hier im Schloss aufgehalten.«
Aber natürlich, Ivaylo hatte lange hier im Schloss gelebt. Alana konnte sich das gar nicht recht vorstellen. Wie grausam mochte es für ihn gewesen sein, ganz allein, ohne seine Eltern und Freunde in der Obhut von Fremden aufzuwachsen?
»Weißt du, wo mein Zimmer ist?«, fragte sie, statt ihre Gedanken auszusprechen.
Ivaylo nickte und lächelte sie an. Es sah ein wenig gezwungen aus, fand Alana. Oder bildete sie sich das nur ein, weil er sich eben noch so seltsam benommen hatte?
»Bis nachher«, sagte Ivaylo und stand auf. »Ich freue mich. Wir haben uns bestimmt viel zu erzählen.«
Sie sah ihm verblüfft und misstrauisch nach.
Die Lust, sich im Schloss umzuschauen, war ihr vergangen. Alana ging auf ihr Zimmer zurück und versuchte, sich in ihr Buch zu vertiefen, stellte aber sehr schnell fest, dass es sie schrecklich langweilte. Also legte sie es beiseite und hockte sich auf die Bank vor dem Fenster, um in den Hof zu schauen.
Das Wintersonnenlicht ließ den Schnee leuchten und färbte alle Schatten kräftig blau. Alana hauchte gegen das Fenster und malte mit dem Finger kleine Kringel auf das Glas. Vielleicht war Garnets Vorschlag, eine Schlittenfahrt zu unternehmen, doch nicht so übel gewesen. Ob Aindru sie begleiten mochte? Sie bekam ihn nicht viel zu Gesicht, seit sie hier waren. Ihr Bruder hatte die Schlossbibliothek mit all den seltenen Büchern über Pflanzen und Heilkunde entdeckt und war höchstwahrscheinlich gleich dort eingezogen.
Die Tür klappte und Garnets leichter Schritt eilte über den Teppich auf Alana zu. »Was machst du?«, fragte sie und ließ sich neben Alana auf die Bank fallen. Sie roch nach Kälte und Pferden.
»Ich langweile mich«, erwiderte Alana, ohne den Blick vom Hof zu wenden. »Schau mal, da kommt ein Reiter. Noch ein Gast? Das Schloss platzt ja bald aus allen Nähten.«
Die beiden Mädchen drückten die Gesichter ans Fenster. Alana legte ihren Arm um Garnet, weil das so bequemer war. Sie betrachteten den großen Elfen, der gerade aus dem Sattel stieg und einem Stallburschen die Zügel seines Pferdes gab.
»Der sieht aber gut aus«, sagte Garnet, und Alana wusste wieder einmal nicht, ob ihre Freundin den Reiter oder seinen Hengst meinte. Das Pferd war wirklich schön, hochgebaut und edel, mit einem stolzen Kopf und langer, lohfarbener Mähne.
Sein Reiter sah ihm ähnlich, dachte Alana und lächelte. Hochgebaut und edel, das passte auch auf den Elfen. Auch er hatte eine lohfarbene Mähne, die wild um sein ernstes Gesicht fiel.
»Er sieht schrecklich traurig aus«, sagte sie laut. Als hätte der Elf sie gehört, blickte er auf und sah ihr direkt in die Augen. Leuchtend blau waren sie, wie die Schatten im Schnee.
Alana schnappte nach Luft. Der Elf kniete neben einer Frau und einem kleinen Mädchen, er lachte. Da war keine Trauer in seinen Zügen, nur Liebe. Glücklich und jung sah er aus, nicht viel älter als Edur, der Eidmann. Die Elfe lächelte ihn liebevoll an, während sie ihr Kind umarmte. Alles, was an ihrem Mann ‒ denn das war der Elf ‒ lohfarben und sonnenstrahlend war, das war an ihr silberweiß und hell.
Gebt acht, wollte Alana rufen, denn sie wusste, dass etwas Schreckliches passieren würde. Aber dann erkannte sie mit grausamer Endgültigkeit, dass alles, was sie sah, längst Vergangenheit war. Dieses schöne Bild war schon lange zu Staub und Asche zerfallen, und übrig geblieben war nichts weiter als der traurige, einsame Elf dort unten im Hof.
»Sie sind tot«, sagte Alana laut. Sie wollte die Bilder, die der Sternenstein ihr schickte, nicht betrachten. Finsternis kroch über den Boden und floss die Wände herab. Sie verschluckte das Kind und die Frau, und der Elf, der sich zu ihrer Rettung in das Dunkel stürzen wollte, wurde von einem anderen Mann zurückgehalten. Der Elf wehrte sich wie ein Wahnsinniger, Alana sah seine weit aufgerissenen Augen, den schreienden Mund, sie erkannte, dass er vor Angst und Zorn beinahe den Verstand verloren hatte.
Die Vision erlosch mit einem Schlag, der Alana durchschüttelte wie ein Erdbeben. »Meine Güte«, keuchte sie.
Garnet hielt sie fest umklammert. »Was war das?«, fragte sie besorgt. »Du hattest einen ganz glasigen Blick und hast gekeucht, als würdest du rennen.«
Alana wischte sich zittrig über das Gesicht. Es war feucht und kalt. »Wo ist er?«, fragte sie und drehte sich aus Garnets Griff zum Fenster. Der Hof war leer.
»Er ist hineingegangen«, erwiderte Garnet verständnislos. »Warum interessiert er dich? Wer war das überhaupt?«
Alana betrachtete die silberne Flagge des Königs über dem Portal. Der mondbleiche Stoff war überhaucht mit einem rosigen Schimmer, der sich, während Alana die Flagge betrachtete, verstärkte und dunkler wurde, bis die ganze Flagge in einem leuchtenden, dunklen Goldton erstrahlte. Der König weilte wieder in seinem Schloss.
»Auberon«, sagte Alana. »Das war der König.«
Sie hatte ihn erst einmal zu Gesicht bekommen, und das war beim letzten Winterjahrfest gewesen, wo er eine schneeweiße Eulenmaske getragen hatte, als er den Ball eröffnete. Er hatte pflichtgemäß einige Tänze mit den edelsten Damen des Reiches absolviert und war dann wieder in seine Gemächer zurückgekehrt. Alana hatte ihn niemals ohne Maske zu Gesicht bekommen.
»Er sieht so traurig aus«, wiederholte sie gedankenverloren.
Garnet lehnte sich gegen das Rückenpolster der Bank und knackte eine Nuss, die sie aus der Schale auf dem Tisch genommen hatte. »Er hat damals seine Familie bei einem Attentat verloren«, sagte sie. »Da sähest du auch traurig aus.«
Alana schauderte. »Weißt du, was das für ein Attentat war?«, fragte sie.
Garnet zuckte die Achseln. »Na, irgendwas Magisches wohl«, meinte sie. »Immerhin hat er danach alle Zauberei im Reich verboten. Fang!«
Alana fing den Nusskern auf, der ihr entgegenflog, und steckte ihn in den Mund. »Ivaylo benimmt sich so merkwürdig«, sagte sie und zerbiss die Nuss.
Garnet, die eifrig weiterknackte, lachte. »Ivaylo benimmt sich komisch, seit wir ihn kennen«, zog sie Alana auf.
»Nein, nein!« Alana wurde zornig, obwohl sie das gar nicht wollte. »Richtig merkwürdig. Wie ein Fremder. Und Erramun auch.«
Garnet kniff die Augen zusammen. »Vielleicht haben sie Geheimnisse vor dir?«, vermutete sie. »Sie waren ja wohl in Ivaylos Haus. Wenn sie da etwas gefunden haben, was mit seinen Eltern und ihrem Verschwinden zu tun hat ...«
»Seine Eltern sind nicht verschwunden«, erwiderte Alana. »Der König hat sie entweder irgendwo eingesperrt oder töten lassen.«
Garnet schlug die Hand vor den Mund. »Oh nein«, sagte sie. »Nein, das ist ja schrecklich! So grausam hat er gar nicht ausgesehen.«
Alana seufzte. Nein, so grausam hatte Auberon tatsächlich nicht auf sie gewirkt. Aber die Geschehnisse um den Tod seiner Familie, die sie als unfreiwillige Beobachterin hatte mitansehen müssen, hatten ihr einen Auberon gezeigt, der wahnsinnig vor Trauer, Furcht und Zorn war. War der König inzwischen wieder bei Sinnen?
Alana hob den Blick und schaute in das besorgte Gesicht ihrer Freundin. »Garnet«, sagte sie kurz entschlossen, »ich glaube, dass auf dem Ball etwas Schreckliches geschehen wird, und ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Sie erzählte Garnet von den Bildern, die der Sternenstein ihr geschickt hatte. Ihre Freundin lauschte mit gerunzelter Stirn und ohne sie zu unterbrechen. Als Alana geendet hatte, legte Garnet einen Finger an die Nase und atmete tief ein und aus. »Du musst es jemandem sagen.«
Alana breitete die Hände aus. »Wem? Meinem Vater? Wenn ich ihm erzähle, dass Sverre mir den Sternenstein gegeben hat, wird er mir nicht weiter zuhören. Wahrscheinlich schickt er mich zur Strafe gleich wieder nach Hause.«
»Wer ist der Katzenmann in Schwarz-Weiß und wer ist der rote Vogel?«, fragte Garnet in ihrer praktischen Art. »Wenn wir das wissen, können wir den roten Vogel vor dem anderen warnen.«
Alana zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht genau, was geschehen wird. Vielleicht ist es genau umgekehrt, und der Rote ist es, der dem Schwarz-Weißen Böses will. Das Blut und die Dunkelheit kamen erst, nachdem der Rote den Katzenmann weggeschickt hatte.«
Garnet schnaufte und stützte das Kinn in die Hand. »Es ist nicht sehr nützlich, dass du diese Sachen siehst, wenn du gar nicht weißt, was du da siehst«, murmelte sie.
Alana musste wider Willen lachen. »Nein«, gab sie belustigt zu. »Es ist sogar ziemlich lästig. Aber der Stein macht, was er will.« Wie immer, wenn sie an den Sternenstein dachte, legte sie die Hand auf die kleine Wölbung unter ihrem Hemd. Sie hörte auf zu lachen und neigte den Kopf zur Seite. »Ich habe so etwas schon früher gesehen«, sagte sie überrascht. »Garnet, darüber habe ich nie nachgedacht. Ich habe schon vor dem Stein solche Dinge gesehen ‒ nur nicht so deutlich und auch viel seltener! Es ist gar nicht der Stein, der mir die Bilder bringt!«
Diese Erkenntnis ließ sie verstummen. Sverre hatte immer gesagt, der Stein sei ein Werkzeug ‒ mächtig in der Hand eines starken Magus, schwach in der eines unkundigen Kindes. Alana hatte nicht recht begriffen, was er damit sagen wollte, aber jetzt begann sie es zu erahnen. Wenn das so war, wenn nicht der Stein ihr den Weg wies, sondern es sich gerade umgekehrt verhielt ...
Alana zog den Sternenstein hervor, hielt ihn fest, blickte ihn an und sagte: »Zeig mir den roten Vogel!«
Sie hörte, wie Garnet nach Luft schnappte, dann bewölkte sich der Stein, ein Nebelschleier legte sich über ihre Augen, die Geräusche der Umgebung wurden schwächer und verstummten gänzlich, und Alana fand sich körperlos im Nebel schwebend wieder, ohne jedes Gefühl dafür, wo sie war. Sie kämpfte einen Anflug von Panik nieder und konzentrierte sich auf ihre Frage. Wer war der Elf in der roten Maske?
Der gestaltlose Nebel verdichtete sich zu einer dunkleren, noch formlosen Wolke. Umrisse traten aus dem wirbelnden Nichts, eine Gestalt begann sich abzuzeichnen, wurde stofflicher. Die Silhouette bekam Masse, füllte sich mit Gewicht und Farbe, bis ein hochgewachsener, in dunkles Rot gekleideter Mann vor ihr aufragte. Reglos stand er da, wie eine angezogene Schneiderpuppe.
Näher heran, dachte Alana. Das Etwas im Nebel, das ihr Ich war, trieb gemächlich auf die erstarrt dastehende Figur zu. Sie konnte die Einzelheiten des Kostüms erkennen, sah die glänzenden Federn, mit denen Maske und Kopfputz besetzt waren, konnte die Falten des Stoffes und die Erhebungen und Vertiefungen der Muskeln und Knochen darunter erkennen.
Aber wer ist es?, dachte sie hartnäckig. Ich will sein Gesicht sehen!
Ein ausdrucksloses Vogelgesicht, scharfschnabelig, mit starr funkelnden Juwelenaugen. Die kleinen Öffnungen für die Augen des Elfen, der die Maske vor seinem Gesicht trug, waren erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Alana strengte ihre merkwürdig eingeschränkten und gleichzeitig übersensiblen Sinne an, um einen Blick auf die Augen des Elfen zu erhaschen und so wenigstens eine Ahnung zu bekommen, wessen Gesicht sich unter der Vogelmaske verbarg.
Zeig es mir!, dachte sie. Komm schon, zeig es mir!
Die Gestalt des Maskierten erzitterte, als wäre sie eine Wasserfläche, über die der Wind streicht. Das Zittern wurde heftiger und das Abbild des Elfen begann sich zu zerstreuen. Rote, schwarze und goldene Partikel fielen davon ab und schwebten in alle Richtungen davon.
Nein!, dachte Alana enttäuscht und streckte die Hand aus. Warte, ich habe doch noch nichts sehen können!
Doch ihre körperlosen Finger glitten durch die schillernden, glänzenden Stäubchen, ohne den Zerfall aufhalten zu können. Als Letztes verschwand das Gesicht, und kurz bevor sich alles in tanzende Farben aufgelöst hatte, die nach und nach immer heller wurden und in den allgegenwärtigen Nebel trieben, erhaschte sie inmitten der schimmernden Rottöne einen wimpernschlagkurzen Blick aus strahlend blauen Augen.
Ah!, sagte sie und kehrte mit einem beinahe schmerzhaften Ruck in ihren Körper zurück.
»Blaue Augen«, hörte sie sich sagen.
»Wer hat blaue Augen? Der Vogelmann?« Garnets Stimme.
Alana holte tief Luft und strich mit der Hand über ihr Gesicht. Es fühlte sich gut an, wieder einen Körper zu haben. Sie öffnete die Augen und ihr Blick fiel auf ihre Finger. »Was ist das?«, fragte sie verblüfft.
Garnet, die an ihre Seite gekommen war, starrte ebenso erstaunt auf Alanas Hand. Schillernd rote, goldene und blauschwarze Teilchen wie Staub von Schmetterlingsflügeln überzogen ihre Finger. Und noch während die beiden sie ansahen, begannen sie zu verblassen und verschwanden.
Alana löste sich aus der Erstarrung und rieb ihre Finger aneinander. Da war nichts. »Hast du das auch gesehen?«, fragte Alana unsicher. Garnet nickte.
Aber die beiden konnten sich nicht mehr über die seltsame Erscheinung unterhalten, denn jemand klopfte energisch an die Tür und trat ein, kaum, dass Alana »Ja, bitte?« gesagt hatte.
»Oh, Ivaylo«, sagte Alana. Es klang nicht allzu begeistert, und deshalb setzte sie eilig ein strahlendes Lächeln auf.
»Soll ich wieder gehen?«, fragte der Elfenjunge eingeschnappt. »Ich dachte, du wolltest mir dringend etwas erzählen, aber wenn es dir gerade nicht passt ...« Er machte Anstalten, die Tür zu öffnen.
»Nein, bleib«, rief Alana, und Garnet sprang auf und griff nach Ivaylos Hand, um ihn ins Zimmer zu ziehen.
»Setz dich hin, sei nicht so empfindlich«, sagte sie. »Iss eine Nuss. Du siehst ganz verhungert aus.«
Das stimmte, dachte Alana. Ivaylo wirkte blass, hohläugig und irgendwie ‒ substanzlos. Als hätte er tagelang nichts gegessen und nicht geschlafen. Aber seine Augen hatten wieder einen klaren, lebendigen Ausdruck, sie waren nicht so leer und tot wie eben am Tisch, stellte sie erleichtert fest.
Ivaylo zerbiss lustlos den Nusskern und spuckte ein Stückchen Schale aus. »Danke«, murmelte er. »Ich bin nicht hungrig.« Er hockte sich auf die Kante eines Sessels, sprungbereit wie ein Tier auf der Flucht ‒ oder ein Wolf kurz vor dem Angriff. Alana räusperte sich unbehaglich.
»Geht es dir gut?«, fragte sie.
Ivaylo lächelte und hob die Schultern. »Warum sollte es mir nicht gut gehen?«, fragte er zurück. »Ich bin nur ziemlich erledigt von unserem Ritt gestern. Wir sind fast erfroren.«
Alana nickte erleichtert. Er hörte sich ganz normal an, da war nichts Ungewöhnliches oder Fremdes in seiner Stimme und seiner Art zu sprechen.
»Wie gefällt es dir hier im Schloss?«, mischte Garnet sich ins Gespräch. Ivaylo sah sie groß an.
»Ach, das habe ich vergessen«, sagte Garnet und schüttelte den Kopf über sich selbst. »Du warst ja früher hier zu Hause.«
»Ich wurde hier festgehalten«, korrigierte der Junge sie scharf. »Das ist ja wohl etwas anderes. Zu Hause bin ich im Schattenwald.«
Garnet murmelte eine Entschuldigung und lehnte sich zurück. Sie würde jetzt nichts mehr sagen, das sah Alana ihr an. Sie schenkte Garnet einen mitfühlenden Blick und wandte sich an Ivaylo: »Sei nicht so grob. Sie hat es doch nicht böse gemeint. Du kennst dich jedenfalls viel besser im Schloss aus als wir beide.«
Ivaylo nickte nur. Sie schwiegen. Dann deutete Ivaylo zum Fenster und sagte: »Sollen wir nicht ein wenig vor die Tür gehen? Die Sonne ist ganz warm. Hier drinnen ist es schrecklich klamm.«
Das stimmte nicht, es war angenehm warm im Zimmer, denn das Kaminfeuer brannte, seit Alana zum Frühstück gegangen war. Alana sah fragend zu Garnet, die gleichgültig die Achseln zuckte. »Meinetwegen«, sagte Alana und griff nach ihrem Mantel. »Zeigst du uns das Gelände?«
»Es gibt einen schönen Park«, sagte Ivaylo, während sie die Treppe hinuntergingen. »Natürlich ist er jetzt nicht so prächtig wie im Sommer, aber wir können trotzdem ein wenig dort herumlaufen. Ganz bestimmt ist der Teich zugefroren, und wir können darauf schlittern, das ist lustig.«
Alana sah ihn von der Seite an. Das Interesse für zugefrorene Teiche und prächtige Parkanlagen passte so gar nicht zu Ivaylo.
Sie stapften über den Hof, wo der Schnee außerhalb der ausgetretenen Spuren wadenhoch lag. Garnet vergnügte sich damit, hin und wieder in den unberührten Schnee zu treten und ein paar neue Spuren neben die alten zu legen.
»Wie war es zu Hause?«, fragte Alana. »Hast du deinen Freund getroffen, und hat er sich gefreut, dich wiederzusehen?«
Ivaylo sah sie verwundert an. »Mein Freund?«
Alana erwiderte verblüfft seinen fragenden Blick. »Ja, bei dir zu Hause«, sagte sie ungeduldig. Hatte er nicht richtig zugehört? »Im Schattenwald.«
»Ach so«, murmelte Ivaylo und wandte sich ab. »Ja, es war nett. Dort drüben geht es in den Park.« Er deutete mit dem Kinn auf ein schmiedeeisernes Tor.
Alana wartete, ob er noch etwas sagen würde, aber er ging stumm weiter. Alana zuckte mit den Schultern, tat ihre Frage ab und betrachtete das Tor genauer. Ineinandergeschlungene Ranken und Blätter, Rosenblüten und Vögel mit ausgebreiteten Flügeln bildeten das Gitter des Tores. Die Riegel waren Katzen im Sprung nachgebildet, und seine Angeln sahen aus wie kauernde Hunde, die das Tor in den Pfoten hielten.
Ivaylo schob es mit der Schulter auf. Dahinter breitete sich eine weite, verzauberte Schneefläche aus, die von kleinen Bauminseln unterbrochen wurde. Auf den Gehölzen lag dick der Schnee, und es war still wie in einem Traum.
»Schön«, flüsterte Alana, die die Stille nicht stören wollte. »Man mag gar nicht hineingehen, der Schnee ist so unberührt. Schau mal, dort sind nur ein paar Spuren von Vogelfüßen.«
Garnet zog an ihrer Hand. »Los, komm. Heute Nacht schneit es wieder, dann sind unsere Spuren ausgelöscht.« Sie betraten die makellose Fläche und sanken tief in den Schnee ein. Nach wenigen Schritten begann ihr Atem schwerer zu gehen, und als sie sich dem Seeufer näherten, keuchten die Mädchen dicke Atemwolken aus. Ivaylo, der so ungerührt neben ihnen herschlenderte, als liefe er über eine saftige Wiese, sagte: »Er ist ganz und gar zugefroren. Kommt, lasst uns aufs Eis gehen.«
Garnet verschnaufte eine Weile und ließ den Blick wandern. »Schau mal, wir sind doch nicht die Ersten hier«, sagte sie ein wenig enttäuscht. Am Seeufer führten Fußspuren entlang.
»Das ist doch egal«, sagte Alana matt. Sie hatte kalte Füße, eine halb erfrorene Nase, Hunger und keine allzu große Lust mehr, auf dem See herumzulaufen. »Komm, wir gehen eine kleine Runde, damit er Ruhe gibt«, sagte sie halblaut zu Garnet und lief hinter Ivaylo her.
»Sag mal«, rief sie, als sie ihn einholte, »was hast du dir eigentlich dabei gedacht, Sverre so im Stich zu lassen?«
Sein Blick war fragend und ein wenig abwesend. »Wen?«
Alana schnappte empört nach Luft. »Das ist doch nicht dein Ernst!«, schimpfte sie. »Du läufst ohne ein Wort davon, lässt den armen Zwerg und mich einfach sitzen und kümmerst dich um nichts mehr ‒ und jetzt tust du auch noch so, als wüsstest du nicht, vom wem ich rede! Was ist los mit dir?«
Ivaylo wandte den Kopf ab. »Tut mir leid«, murmelte er. »Ich war in Gedanken.«
Alana dachte, er würde noch eine Erklärung oder ein paar Worte zu seinem Verschwinden hinzufügen, aber Ivaylo blieb stumm. Sie zuckte die Achseln und ließ sich zu Garnet zurückfallen, die langsam hinter ihnen herstapfte.
»Was ist?«, fragte Garnet. »Du machst ein Gesicht wie schlechtes Wetter.«
Alana fauchte nur und deutete wortlos auf Ivaylo. Garnet hob die Brauen. »Was ist los mit ihm?«, stellte sie die gleiche Frage, die Alana vorhin Ivaylo gestellt hatte.
Alana zuckte mit den Schultern. »Sein Besuch im Schattenwald hat ihm nicht gerade gut getan. Er ist genauso eklig und unausstehlich wie ganz zu Anfang.«
Garnet blieb stehen und hielt Alana fest. »Komm, wir gehen ins Haus zurück«, sagte sie. »Ich friere und die Sonne ist auch fast weg. Lass den Stockfisch doch alleine übers Eis rutschen.«
Die beiden hakten sich unter und drehten um. In den Spuren, die sie in den tiefen Schnee gezogen hatten, kam ihnen jemand entgegen. Weiß, silber und hellblau schwebte die Elfe auf sie zu, eine Wolke blonden Haars unter einer weiten, lichtblauen Kapuze, zierliche Stiefelchen, die kleine Kappen aus Schnee zierten, ein großer Muff an einer silbernen Kordel, porzellanblaue Augen in einem herzförmigen Gesicht, das so blass war wie der Schnee.
»Oje«, murmelte Garnet. »Osane, die Zicke.«
Zu Alanas Erstaunen winkte und lächelte das Mädchen, als es auf sie zukam. »Warte auf mich«, rief sie.
Alana und Garnet blieben stehen, Garnet kniff misstrauisch die Augen zusammen. Osane passierte sie, warf ihnen einen kühlen Blick zu und lief zu Ivaylo weiter, der stehen geblieben war und wirklich auf sie zu warten schien.
»Das glaube ich nicht«, sagte Garnet. »Kneif mich, das glaube ich nicht!« Sie drehte sich wieder um und zog die widerstrebende Alana hinter sich her. »Das muss ich aus der Nähe sehen«, hörte Alana sie murmeln.
Dann standen sie alle beisammen unter einem Himmel, der sich rosa, pudergrau und veilchenviolett zu verfärben begann, als die Sonne hinter den Bäumen versank. Osane, die mit zwitschernder Stimme und girrendem Lachen neben Ivaylo stand und mit schief gelegtem Köpfchen zu ihm auflächelte, hörte auf zu lachen und zu girren und sah die beiden Elfenmädchen unfreundlich an.
»Alana, meine Cousine«, stellte Ivaylo sie vor. »Und das ist ihre Freundin Garnet. Das ist Osane, die Tochter des Edlen Argider.«
»Erfreut«, sagte Alana und deutete einen höflichen Knicks an. Osane neigte den Kopf und murmelte etwas Ähnliches. Alana sah den abschätzigen Blick, mit dem das Mädchen Garnets Jacke musterte, und kniff die Lippen zusammen.
Osane wandte ihren Blick ab, zeigte den beiden Mädchen die kalte Schulter und hakte sich bei Ivaylo unter. »Ich habe so auf dich gewartet«, flötete sie. »Gehen wir noch zum Sommerhaus hinunter? Ich habe den Diener angewiesen, dort zu heizen.« Sie zog Ivaylo ein paar Schritte mit sich, bevor er anhielt und sich zu Alana und Garnet umdrehte. »Wollt ihr mitkommen?«, fragte er.
»Das klingt nicht sehr begeistert«, flüsterte Garnet.
Alana schnaubte leise. »Nein, danke«, rief sie dann laut. »Wir wollen zurück ins Schloss. Meine Mutter wartet auf uns.« Sie schnaubte wieder und fügte leise hinzu: »Meine Mutter, die Edle Daina. Du eingebildetes Huhn.«
Garnet begann unterdrückt zu kichern. Sie warf Ivaylo eine Kusshand zu, prustete und drehte sich hastig um. »Komm schnell«, sagte sie, »ehe ich mich nicht mehr beherrschen kann. Ich würde des Edlen Tochter zu gerne ein paar Schneebälle in den hochwerten Kragen stopfen.«
Die Dämmerung sank schnell herab, und auf den letzten Metern, die die beiden Freundinnen über den Schlosshof zurücklegten, wurden rundum schon Fackeln entzündet.
Alana hatte die Hände in ihre Ärmel gesteckt und starrte grübelnd auf den Weg. Garnet sah sie mitfühlend an. »Sei nicht traurig«, sagte sie, als sie durch das Portal gingen. »Er hätte gar nicht gut zu dir gepasst.«
Alana wandte ihr das Gesicht zu. »Wer?«, fragte sie erstaunlich gelassen. »Ach, Ivaylo. Nein, an den habe ich jetzt gar nicht gedacht. Ich frage mich immer noch, wie ich herausfinden kann, wer im Kostüm des roten Vogels steckt.«
Garnet riss die Augen auf. »Und ich dachte, ich müsste dich trösten, weil du dir gleich im Zimmer die Augen ausheulst wegen ihm ‒ du Eiskönigin!«
Alana lächelte nicht. »Ich habe jetzt keine Lust, mich mit Ivaylos überaus seltsamem Betragen zu beschäftigen«, sagte sie schroff. »Wenn er glaubt, uns so behandeln zu können, dann soll er das meinetwegen tun. Ich renne ihm jedenfalls nicht hinterher.«
Garnet räusperte sich und nickte. »Nun, das ist sehr vernünftig und erwachsen von dir.«
»Machst du dich über mich lustig?«, fragte Alana.
Garnet nahm ihren Arm und drückte ihn. »Ganz bestimmt nicht«, versicherte sie. »Komm, lass uns heiße Schokolade trinken und Maronen rösten. Es gibt nichts Besseres gegen Lieb... gegen böse Gedanken.«