Es war wie ein Aufwachen aus einem langen, bösen Traum in eine Wirklichkeit, die nicht minder schrecklich erschien. Alana hörte Ivaylos Stimme, die flehte: »Hilf mir! So hilf mir doch!« Der Ruf wurde schwächer und verklang, noch während sie sich abmühte, zu ihm zu gelangen, aber ihre Füße wollten sich nicht bewegen, ihre Lippen waren verschlossen und ihre Hände gebunden.
Sie blinzelte und spürte, dass Tränen in ihren Wimpern hingen. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust. Sie hustete.
»Orrin sei Dank, sie ist wieder da«, sagte eine vertraute Bassstimme. Eine Hand stützte sie und half ihr, sich zu setzen. Ihre Beine waren eingeschlafen, als hätte sie zu lange unbeweglich in einer Position ausgeharrt. Alanas Blick klärte sich, und mit dem, was sie erblickte, kehrte auch die Erinnerung an das Geschehene zurück.
Alana hustete erneut und räusperte sich. »Erramun«, krächzte sie.
»Was ist mit ihm?« Das bärtige Gesicht mit den zwinkernden Augen ließ eine plötzliche Sehnsucht nach ihrem Zuhause in ihr aufflammen. Sie schluckte. »Sverre. Wo kommst du her?«
Der Zwerg deutete über ihre Schulter. »Mein Kerkermeister besaß die Güte, mich zu entlassen.«
»Was ist mit Erramun«, wiederholte eine andere Stimme Sverres Frage.
Alana wandte sich um. Munir hockte vor einem gähnenden Tor aus schwarzem Feuer und dunkler Leere, das ein nervenzerfetzendes schrilles Heulen ertönen ließ. Alana schnappte nach Luft. »Was ist das?«
»Ein Dämonentor, und zwar ein erstaunlich großes«, antwortete Sverre. »Das kann sehr gefährlich werden. Aber keine Sorge, wir haben es rechtzeitig entdeckt. Jetzt bleibt nur die Frage, ob wir riskieren, es zu schließen, oder ob wir abwarten sollen, bis die Steinträger daraus zurückkehren.« Er runzelte die Stirn.
»Sofort schließen«, sagte Munir kurz. Er starrte das Tor voller Sorge an. »Auf der Kronfeste habe ich mit eigenen Augen gesehen, was mit jemandem geschehen kann, der ein solches Tor öffnet. Ich kann nicht verantworten, dass ein Dämonenreiter hier im Schloss herumläuft!«
»Aber das wird wahrscheinlich einen der beiden Steinträger töten«, wandte der Zwerg ein. Er sah Alana scharf an. »Weißt du, wer das Tor geöffnet hat?«
»Nein, das weiß ich nicht. Aber Osane war hier«, erwiderte Alana matt. »Mit Ivaylo.«
»Ivaylo!«, rief Munir aus. »Bist du dir sicher?«
Sverre nickte nachdrücklich. »Ich habe dir gesagt, dass hier ein gebundener Stein drinsteckt. Das Tor ist stabil und sendet ungewöhnlich starke Signale aus.« Er deutete mit dem Daumen auf das Tor. »Sie wollten dir deinen auch abnehmen, habe ich recht, Steinnichte?« Als Alana nickte, murmelte er mit enttäuschter Miene. »Ivaylo. Der dumme Junge.«
»Wer ist Osane und was ist mit deinem Lehrer?«, unterbrach Munir ihn ungeduldig.
»Osane ist Erramuns Halbschwester«, erklärte Alana. Etwas machte ihr große Angst, und als die Erinnerung mit einem Mal wiederkehrte, sprang sie auf. »Er will Auberon töten«, rief sie aus. »Ihr müsst ihn warnen!« Sie schlug die Hand vor den Mund und riss die Augen auf. »Munir, sieh dich vor! Ich habe den König doch vor einem Mann in schwarz-weißem Kostüm gewarnt. Erramun hatte genau so ein Gewand, aber er hat sich nun Ivaylos Wolfsmaske genommen. Er wird dich stattdessen verhaften lassen!«
Munir sah sie verwirrt an. »Was hast du? Wer hat was? Wen hast du gewarnt? Alana, Kind, ich verstehe nur die Hälfte von dem, was du mir erzählst.«
Alana zwang sich zur Ruhe. So knapp wie möglich berichtete sie Munir und Sverre, was sich ereignet hatte. Munir lauschte mit grimmiger Miene und Sverre stieß kleine Knurrlaute aus.
»Lauf«, sagte der Zwerg schließlich zu Munir. »Lauf, rette deinen König. Ich gebe hier auf alles acht. Wenn das Dämonengezücht versucht, seine Nase aus dem Tor zu stecken, schlage ich ihm den Schädel ein.«
Munir war schon an der Tür. »Argiders verrottete Sippe«, hörte Alana ihn fluchen. »Ich habe es doch geahnt ...«
Alana ließ sich auf die Kante eines Sessels fallen. Sie fühlte sich so zerschlagen wie nach einem langen Ritt. Das schwarze Nichts des Tores warf ein brüllendes Flackern in den Raum.
»Erklärst du mir, was es mit diesem Tor auf sich hat?«, bat sie Sverre.
Der Zwerg hockte sich auf einen niedrigen Schemel und streckte bequem die Beine aus. Alanas Blick fiel auf seinen Knöchel, wo sich sonst die Hose über der Fessel aus Feensilber gespannt hatte. »Deine Fessel ...«, sagte sie erleichtert, »du bist wirklich frei?«
Sverre nickte und fingerte in seiner Gürteltasche herum, bis er seinen Tabakbeutel gefunden hatte. Dann schaute er sich unschlüssig um, zuckte mit den Achseln und begann seine Pfeife zu stopfen. »Vielleicht hält uns das ja die Dämonen vom Leib«, sagte er schmunzelnd. Er setzte den Tabak in Brand und deutete mit dem Mundstück der Pfeife auf das Tor, das unablässig einen schrillen, sausenden Ton ausstieß. Alana musste dem Impuls widerstehen, sich zu kratzen, so unangenehm war das Gefühl.
»Dies ist ein Doppeltor«, erklärte der Zwerg. »Zwei Personen haben es mithilfe ihrer Steine geöffnet und sich dann verbunden.«
Alana starrte das schreckliche schwarze Nichts an, das sich mitten im Zimmer erhob. Als hätte man es aus der Luft geschnitten, dachte sie und ging einen Schritt näher heran. Sie hob die Hand ...
»Halt«, rief der Zwerg und packte ihr Handgelenk. »Wenn du das tust, wirst du dich und deinen Stein ebenfalls mit dem Tor verbinden. Und dann bist du unverankert dort drüben gelandet, und ich weiß nicht, wie ich dich heil in unsere Welt zurückbekommen soll!«
Alana zuckte zurück. Ihr Sternenstein hatte begonnen zu summen, als wollte er den Klang des Tores nachahmen. Der Ton schrillte unangenehm und gleichzeitig verlockend in ihrem Geist.
»Was kann so ein Tor tun?«, fragte sie fasziniert.
Sverre grunzte und stieß eine große Qualmwolke aus. »Vieles und nichts«, sagte er. »Durch das Tor könnten Dämonen versuchen, in unsere Welt zu kommen. Es ist aber für ein Doppeltor ein recht kleines Tor, weil die beiden Steinträger anscheinend nicht wissen, wie man es vergrößert. Das ist unser Glück, denn so passen nur kleine Dämonen hindurch. Außerdem fühlen sie sich hier nicht sehr wohl ‒ sie würden in ihren eigenen Körpern hier nicht lange überleben, so wie wir es in ihrer Welt nicht lange aushalten können.«
Alana runzelte die Stirn. »Dann ist so ein Tor doch vollkommen nutzlos und ungefährlich«, wandte sie ein.
»Nutzlos ‒ in gewisser Weise. Ungefährlich ‒ ganz und gar nicht.« Sverre legte die Pfeife beiseite und beugte sich vor, um die Umrisse des Tores in die Luft zu zeichnen. »Es ist groß genug, um einen Elfen passieren zu lassen. Dieser Elf könnte dann ‒ freiwillig oder unfreiwillig ‒ auf der dunklen Seite von einem Dämonen gefangen genommen werden.«
»Ja und?«, fragte Alana verständnislos. »Dann würde er sterben, weil wir auf der anderen Seite nicht lange überleben können.«
Sverre schüttelte den Kopf. Seine Augen musterten sie seltsam mitleidig. »Nein, du verstehst nicht. Der Elf wäre ganz und gar gefangen. Sein Körper gehorcht dem Dämonen. Der Dämon reitet ihn, wie wir ein Pferd reiten. Es mag sich sträuben oder versuchen, seinen Reiter abzuwerfen, aber in der Regel gelingt es ihm nicht, wenn es gesattelt und gezäumt wurde.«
Alana atmete tief und langsam ein und wieder aus, denn sie merkte, dass eine Welle der Übelkeit in ihr hochstieg. Sie erinnerte sich an Ivaylos tote, kalte Augen, die sie so fremd und distanziert angesehen hatten. Sein seltsames Verhalten, seit er ohne Abschied fortgegangen war. Dass er nichts von seinem Besuch im Schattenwald erzählt hatte. Und schließlich sein Angriff auf sie hier im Zimmer. Sie schloss die Augen und kämpfte die Übelkeit hinunter.
Als sie wieder sprechen konnte, sagte sie: »Das ist es also, was mit Ivaylo geschehen ist? Osane und Erramun haben ihn ins Dämonenreich gebracht, und nun gehorcht sein Körper einem Dämon.«
Sverre nickte bedächtig. »Ich fürchte, dass es so ist.«
»Was kann man dagegen tun? Wie vertreibt man so einen Dämonenreiter?« Alana umklammerte sein Handgelenk. Sverre streichelte ihr behutsam über die Finger.
»Wir haben noch keinen Weg gefunden, wie sich das bewerkstelligen lässt. Einer meiner Freunde wird von einem Dämonen besessen. Wir haben ihn in kaltes Eisen und Feensilber gelegt und seine Tür verschlossen.« Er nickte traurig. »Ich kann dir nichts Besseres sagen. Aber wir geben nicht auf, Alana. Wir werden eine Lösung finden.«
Alana wandte sich dem flammenden Portal zu. »Und nun ist er wieder im Dämonenreich«, murmelte sie. »Sverre, was wird dort nur mit ihm passieren?« Sie starrte das Tor wütend an. »Wir müssen ihn da herausholen«, sagte sie entschieden. »Und dann nimmst du ihn mit zur Kronfeste und sorgst dafür, dass dieser Dämon verjagt wird. Versprichst du mir das?«
Sverre antwortete nicht sofort. Dann sagte er traurig: »Wir können ihn da nicht rausholen. Er hat sich mit dieser Osane zu einem einzigen Portal verbunden. Wo sie ist, ist auch er.«
»Können wir die beiden nicht einfach trennen?«, fragte Alana und machte eine schneidende Handbewegung an der Stelle, wo das Tor eine Einbuchtung aufwies.
Sverre wiegte bedenklich den Kopf. »Wenn wir das tun, besteht die Gefahr, dass wir einen von beiden dabei töten. Und wahrscheinlich wird derjenige, der den ungebundenen Stein hält, sterben.« Er biss nachdenklich auf seiner Pfeife herum. »Allerdings ‒ Ivaylos Stein ist gebunden ...«, murmelte er. »Der von Osane nicht. Um sie würde keiner von uns trauern, habe ich recht?« Er erhob sich und trat auf das Tor zu.
»Warte«, rief Alana alarmiert. Bilder sprangen durch ihr Bewusstsein, die sie nicht einordnen konnte. Erramun hielt einen Stein in der Hand. Vor ihm Ivaylo, der zögernd danach griff und dann die leere Hand sinken ließ. Dann wieder ein anderes Bild. Ivaylo, der mit einem glänzend schwarzen Stein spielte. Er ließ ihn durch seine Finger wandern und das Licht brach sich in den glänzenden Kanten. »Warte, da stimmt etwas nicht! Ich habe ein ganz übles Gefühl dabei!« Sie legte das Gesicht in die Hände. Was bedeuteten diese Bilder, die ihr eine so deutliche Warnung zuriefen?
»Ivaylo«, sagte sie. »Da ist etwas falsch mit seinem Stein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bekomme es nicht zu packen.« Alana sprang auf und stellte sich neben Sverre dicht vor das Tor. Ihr Stein sirrte und sang so laut, dass sie kaum noch etwas hören konnte. Jemand rief. Alana schloss die Augen. Wer war es, hörte sie da nicht ihren Namen?
»... mir«, hörte sie. »...lana. Hilf ...«
»Ivaylo«, keuchte sie. »Er ruft um Hilfe!« Sie nahm wahr, dass Sverre nach ihr griff und versuchte, sie aufzuhalten, aber Ivaylos Hilferufe aus dem Tor und die Verlockung, die diese sausende, heulende Finsternis trotz alledem für sie darstellte, waren stärker als jegliche Vorsicht. Alana sprang vor und steckte beide Arme tief in das Tor hinein.
»Was machst du?«, schrie der Zwerg und hielt sie fest.
Alana schüttelte sich, um ihn loszuwerden. Sie bog ihren Kopf zurück und kniff die Augen fest zusammen, um die rasende Leere so dicht vor ihrem Gesicht nicht sehen zu müssen. Sie spürte, wie das Tor nach ihr griff und sich mit ihr vereinigen wollte. Ihr Stein schrillte nun genauso laut und unangenehm wie das Tor. Die Schwärze zerrte an ihr und drohte, sie aufzusaugen, aufzulösen, in sich aufzunehmen. Alanas Sinne schwanden. Sie war taub und blind, und sie spürte, wie ihr Körper dem Torzauber nachzugeben begann. Sie musste das Tor verlassen oder sie würde sich mit ihm verbinden. Aber irgendwo hier war Ivaylo, sie konnte seine Gegenwart spüren. Mit einem letzten Aufbäumen ihres Willens warf sie das, was sie von ihrem Körper noch fühlen konnte, nach vorne. Ihre Finger berührten inmitten der eiskalten, brennend heißen Schwärze einen menschlichen Körper, einen Arm, ein Handgelenk, klammernde Finger. Mit einem entschlossenen Griff packte sie die Hand mit ihren beiden Händen und stöhnte: »Sverre, zieh!«
Es fühlte sich an, als würde sie in der Mitte entzweigerissen, und renkte ihr fast die Arme aus den Schultern, aber sie hielt fest. Dann gab es einen heftigen Ruck, und Alana fiel schwer zurück gegen Sverre, der grunzend unter ihr zu Boden ging.
Alana schrie vor Schreck, denn sie hielt ein kreischendes, um sich schlagendes, tretendes, kratzendes und beißendes Elfenmädchen umklammert. Krallenfinger fuhren auf Alanas Gesicht zu, und sie konnte gerade noch verhindern, dass sich spitze Nägel in ihre Augen bohrten.
Sverre arbeitete sich unter ihnen hervor und riss Osane von Alana fort, indem er einfach eine Faust in das wolkige, blonde Haar der Elfe grub und fest daran zog. Osane schrie wie am Spieß und fuhr herum, um sich des unerwarteten Angriffs zu erwehren. »Ein Zwerg!«, hörte Alana sie voller Abscheu ausrufen. »Ein dreckiger Zwerg! Nimm deine Pfoten weg, du ...«
Sverre ließ sie los, zerrte seinen Hammer aus der Gürtelschlaufe und zog ihn Osane über den Kopf. Die Elfe verdrehte die Augen und fiel in sich zusammen.
»Ist sie tot?«, erkundigte sich Alana ohne großes Mitgefühl. Sie betastete einen langen Kratzer unter ihrem Auge und spürte, wie sich eine schmerzhafte Beule auf ihrem Wangenknochen bildete. »Hoffentlich.«
Sverre begutachtete sein Werk und schüttelte beinahe bedauernd den Kopf. »Ich fessele sie sicherheitshalber.« Er zog einen Lederriemen aus einer seiner Hosentaschen, und während er ans Werk ging, schimpfte er: »Du hast dich und mich mit deiner unbedachten Tat in sehr große Gefahr gebracht. Wenn dein Stein sich mit dem Tor verbunden hätte, hätten wir dich da nicht mehr herausfischen können. Und Ivaylo hast du damit auch nicht geholfen. Mach so etwas nie wieder!«
Alana rappelte sich auf und blickte auf das geschrumpfte Dämonentor. »Er ist also immer noch da drin«, sagte sie entmutigt. »Was machen wir jetzt?«
Sverre stieß einen saftigen Fluch aus. Er blickte von Osane auf, deren Hand er inspiziert hatte. »Rühr dich nicht«, sagte er hastig. »Sie trägt seinen Stein um den Hals!«
»Was?« Alana spürte, wie sie vor Anspannung zu zittern begann.
Sverre stand auf und zeigte ihr, was er zwischen den Fingern hielt. »Das ist Ivaylos Stein, habe ich recht?«
Alana sah auf den stumpfbraunen Stein nieder und nickte. Sie schlang die Hände ineinander und stöhnte: »Das war es! Als ich ihn zuletzt gesehen habe, hatte er einen schwarzen, glänzenden Stein, mit dem er herumspielte. Es war nicht sein Stein!«
Sverre runzelte die Stirn. »Sie haben ihm statt seines eigenen einen ungebundenen Stein gegeben? Warum? Das verstehe ich nicht.«
Alana starrte das Portal an, das unheilvoll schimmernd vor ihnen stand. »Und jetzt kann ihn niemand mehr daraus befreien?«, fragte sie.
Sverre schüttelte den Kopf. »Nicht, ohne ihn zu töten.« Er seufzte. »Wahrscheinlich ist es schon geschehen. Wir haben die beiden gewaltsam getrennt, und das wird dafür sorgen, dass das Tor kollabiert.« Er machte eine hoffnungslose Handbewegung. »Vielleicht ist es besser so. Wenn er das hier überlebt hätte, hätte er sich vor Auberons Gericht wiedergefunden. Oder auf ungewisse Zeit in den Kerkern der Kronfeste.«
Alana hörte ihm nicht zu. Sie kniete vor dem Portal und lauschte angestrengt. »Ich kann ihn rufen hören«, sagte sie verzweifelt. »Er ist da drinnen gefangen! Er kann sich also gegen seinen Dämonen wehren.«
Sverre hockte sich neben sie und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Wir können ihm nicht helfen. Wenn ich in der Kronfeste wäre und Vetle oder Truls mir beistehen könnten, würde ich es wagen, hineinzugehen und ihn zu suchen. Aber ohne einen Anker auf unserer Seite ist das Selbstmord!«
Alana ließ den Kopf sinken. »Ich kann ihn doch nicht einfach da drinnen sterben lassen.«
Sverre drückte wortlos ihre Schulter und ließ dann Ivaylos Stein in ihre Hand gleiten. Sie schloss ihre Faust darum und schluckte bittere Tränen hinunter. Ivaylo hatte sie hintergangen, verraten und skrupellos missbraucht, aber sie wusste nun, dass er von einem Dämonen kontrolliert worden war. Hatte er sich freiwillig mit Erramun und Osane verbündet oder hatten die Dämonen ihn dazu gezwungen? Könnte er ein Verräter sein? Aber warum hätte er dann immer wieder um Hilfe gefleht?
Alana wurde aus ihren Gedanken gerissen, als die Tür aufgestoßen wurde und der Raum sich mit dunkel gekleideten Jägern füllte.
»Ihr kommt zu spät«, empfing der Zwerg die Eindringlinge. »Und? Lebt euer König noch?«
Die dunkle Mauer aus Jägern, die mit grimmigen Mienen das Zimmer besetzten, teilte sich. »Ich lebe noch, danke der Nachfrage«, sagte eine müde Stimme. Der große, rot gewandete Elf trat mit schnellen Schritten ein und kniete neben Alana nieder. »Geht es dir gut? Bist du verletzt?«, fragte Auberon besorgt.
Alana sah ihn an und biss sich auf die Lippen, um nicht loszuweinen. »Erramun war der schwarz-weiße Elf aus meinem Traum«, sagte sie. »Ich habe es nicht gewusst, Auberon. Munir hat nichts damit zu tun, du darfst ihn nicht verhaften lassen!«
Auberon lächelte. Er hob die Hand und berührte den Kratzer, den Osane ihr beigebracht hatte. »Tapferes Mädchen«, sagte er. »Nun, deine nicht minder tapfere Freundin hat mich zwar vor meinem Zauberer gewarnt, aber ich war so frei, diese Warnung in den Wind zu schlagen.«
Alana sah über seine Schulter hinweg, wie Munir mit finsterer Miene das Zimmer betrat. »Du hast ihn nicht festgenommen«, sagte sie erleichtert.
»Warum hätte ich das auch tun sollen?«, flüsterte Auberon ihr zu. »Er hat mir mehr als einmal das Leben gerettet. Er ist mein Freund und mein engster Vertrauter. Wenn ich ihm nicht mehr traue, dürfte ich mich auch auf meine eigene Hand nicht mehr verlassen.«
Er blickte an ihr vorbei auf das Dämonentor. »Wer hat es geöffnet?«
Sosehr sie sich auch beherrschen wollte, bei dieser Frage begann Alana zu weinen. »Nun, wie es aussieht, war es Ivaylo zusammen mit dieser Osane«, brummte Sverre.
Das Gesicht des Königs verfinsterte sich und er sah seinen Zauberer an.
Munir hob die Hände in einer hoffnungslosen Geste. »Ich kann es kaum glauben«, sagte er.
Auberon schüttelte mitleidig den Kopf. »Munir, der Junge ist der Sohn eines Verräters. Du hast mein Mitgefühl, mein Freund. Ich weiß, wie sehr du an deiner Familie hängst ‒ obwohl du genau genommen keine andere Bindung haben solltest als an deinen König!«, fügte er mit sanftem Tadel in der Stimme hinzu.
Alana schwirrte der Kopf. Was hatte Ivaylo mit Munirs Familie zu tun?
»Hilf mir!«
Sie fuhr herum. Hatte nur sie den Schrei gehört? Es hatte den Anschein, denn Auberon, Munir und Sverre beratschlagten gedämpft, wie und ob sie das Tor schließen sollten, und die Jäger führten die gefesselte, benommen wankende Osane zur Tür hinaus.
»Alana, hilf mir doch!«
Ihr Sternenstein wog so schwer wie ein Fels und zog sie hinab. Das Dämonentor flackerte auf und begann sich zu schließen. Mit einem letzten Blitz aus schwarzem Feuer erlosch das Tor. Auf dem Boden lag ein schwarz glänzender Stein – Osanes wilder Sternenstein, den Ivaylo benutzt hatte.
»Ist er nun dort gefangen?«, fragte sie. Munir legte wortlos seinen Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich.
»Hilf mir«, hörte sie weit in der Ferne Ivaylos Stimme rufen. »Hilf mir doch, bitte!« Sein Stein, den sie immer noch fest umklammert hielt, wurde so heiß, dass er ihr die Finger verbrannte.
»Wie öffnet man so ein Tor?«, fragte sie laut. »Sverre! Ich muss es wissen! Ich kann ihn noch hören! Wie öffnet man es?«
»Aber das ist Wahnsinn«, hörte sie den Zwerg ausrufen.
»Du hast gesagt, ohne einen Anker auf dieser Seite würdest du es nicht wagen hineinzugehen«, erwiderte sie scharf. »Gut, du bist mein Anker und ich gehe hinein. Sverre, bitte! Ich kann ihn dort herausholen!«
»Aber dann holst du einen Dämonenreiter zu uns«, antwortete der Zwerg. Er sah hilflos von Munir zu Auberon. »Sagt etwas dazu, Ihr Herren. Ich befinde mich auf Eurem Territorium.«
»Öffne ein Tor und lass es uns versuchen«, erwiderte Munir zu Alanas großer Überraschung. »Wir drei sind im Umkreis von acht Tagesritten die Einzigen, die einem Dämonentor gewachsen sind. Wenn irgendjemand den Jungen daraus befreien kann, dann sind wir es.« Sein Blick streifte Alana mit Trauer und großem Mitgefühl. »Er hat dieses Schicksal nicht verdient«, fuhr er mit ruhiger Stimme fort. »Wenn Alana recht hat und Ivaylo immer noch dort drüben ist und um Hilfe ruft, dann sollten wir sie ihm gewähren.«
Auberon neigte nachdenklich den Kopf. »Und wie willst du es deiner Schwester erklären, dass du die kleine Elfe an das Dämonenreich verloren hast, wenn es schiefgeht?«, fragte er erstaunlich sanft.
Munir hob den Kopf und erwiderte fest Auberons Blick. »Wir werden Alana nicht verlieren«, sagte er. »Sverre soll mein Anker sein. Ich gehe hinüber.«
Auberon nickte überrascht, und Alana rief: »Du? Aber wie willst du das ohne Sternenstein bewerkstelligen?«
»Er hat einen Stein«, erwiderte Sverre und biss nachdenklich auf seinen Daumen. »Ich habe allerdings noch nie zuvor einen Elfen verankert. Ihr spielt mit meinem Leben, meine Herren. Wenn Munir dort drüben etwas zustößt, werde auch ich das nicht überleben.«
»Wirst du es dennoch wagen?«, fragte Munir. »Ich weiß, dass ich dich nicht danach fragen dürfte. Aber der Junge ruft um Hilfe. Ich bitte dich, mich einzuweisen.«
Sverre sah den Elfenkönig an. »Du kennst die Risiken?«
Auberon machte eine resignierende Handbewegung. »Meine Einwilligung habt ihr. Auch, wenn ich mich frage, ob ich verrückt bin, sie euch zu geben.«
Der Zwerg nickte seufzend »Also gut. Alana, du kannst mich mit deinem Stein unterstützen. Komm an meine Seite und lege deine Hand auf meine Schulter. Hab keine Angst, dir wird nichts geschehen. Es ist nur eine zusätzliche Kraftquelle, die du mir gibst.«
Er begann damit, den Elfenzauberer zu unterweisen. Alana war überrascht, wie einfach es war, einen solchen Durchgang in eine andere Welt zu schaffen. »Das könnte doch jeder tun«, rief sie aus.
»Jeder, der einen solchen Stein besitzt«, gab Sverre zurück. »Und den zu erschaffen wiederum ist nicht ganz so einfach, auch wenn dieser Erramun es offensichtlich geschafft hat.« Er rieb sich mit einer müden Geste über die Augen. »Ich werde dich nun hier verankern«, sagte er zu Munir. »Nimm Verbindung mit deinem Sternenstein auf. Es ist leichter für mich, weil du einen gebundenen Stein hast. Ungebundene Steine zu verankern kostet ungleich mehr Mühe und ist gefährlich, weil man sie leichter verliert. Alana, ich brauche jetzt deine Kraft.«
Alana schloss die Augen und legte ihre Hand auf Sverres Schulter. Sie spürte, wie er ein geistiges Gewicht aufbaute, das schwer und solide wie ein großer Felsen vor ihrem inneren Auge emporragte. Das war der Anker, mit dem Munir sich gleich verbinden musste.
Ihr Stein ruhte warm und vertraut an ihrer Brust, und Ivaylos Sternenstein, der immer noch große Hitze ausstrahlte, ohne sie jedoch zu verbrennen, pochte in einem unruhigen, schnellen Rhythmus in ihrer Hand.
Ihre Gedanken rasten. Munir würde scheitern. Wie wollte er Ivaylo finden? Er konnte doch nicht einmal seine Rufe hören! Wenn sie nichts unternahm, würde Ivaylo in der anderen Welt sterben. Doch weder Munir noch Sverre würden zulassen, dass sie hinüber ins Dämonenreich ging und dort ihr Leben riskierte. Am liebsten hätte sie alle Warnungen in den Wind geschlagen und sich kopfüber in das schreckliche Tor gestürzt, auch wenn ihr bei dem Gedanken daran vor Entsetzen der Atem stockte.
Sverres Aufmerksamkeit richtete sich nun voll und ganz auf Munir, der auf den rechten Moment wartete, sich mit dem Anker zu verbinden. Sverre gab ihm das Zeichen, doch Alana kam Munir zuvor. Innerhalb eines einzigen Atemzugs ergriff sie den Anker und befahl ihrem Stein, das Portal zu öffnen.
Sie fiel. Mit einem erschreckten Aufschrei griff sie haltsuchend ins Leere. Dunkelheit war um sie, in der rötliche Sterne glommen. Sie fiel durch die Finsternis, begleitet von schwebenden Schemen, die mit schrillen Stimmen ihren Namen riefen.
Eine Ewigkeit verging so, bis der Schrecken des endlosen Falls verblasste und einer grenzenlosen Langeweile Platz machte. Alana drehte sich um die eigene Achse und strengte das an, was sie für ihre Augen und Ohren hielt.
Ihr Körper hatte sich auf seltsame Weise in etwas verwandelt, das keinen festen Zusammenhalt mehr besaß. Sie wusste immer noch, wo ihr Kopf und was ihre Füße waren und dass sie zwei Hände hatte, aber nichts davon fühlte sich so an oder sah so aus, wie sie es kannte.
»Ivaylo«, rief sie mit ihrer Nicht-Stimme. »Wo bist du?« Ein drängendes Gefühl der Eile verjagte die Langeweile des Falls. Fiel sie überhaupt? Schwebte ihr Nicht-Körper nicht vielmehr bewegungslos in dieser Funken sprühenden Dunkelheit?
Wieder rief sie nach Ivaylo. Oder dachte an ihn, sie konnte es nicht unterscheiden. Am Rand ihres Blickfeldes flammte mit ihrem Gedankenruf etwas auf und erlosch wieder.
»Ivaylo«, versuchte sie es erneut. Aufflammen. Erlöschen. Alana drehte sich in die Richtung der Erscheinung und rief/dachte Ivaylos Namen.
Schwarzes Feuer. Die Ahnung einer Antwort: »Hilf mir!«
»Ich komme«, dachte sie laut und schob sich mit der Kraft ihres Willens auf das schwarze Feuer zu. Es wuchs vor ihr in die Höhe, je näher sie ihm kam: eine Feuersäule aus schwarzem Glanz und tödlicher Hitze, die um ein Zentrum tobte, das sie nicht erkennen konnte, und dabei ein tosendes Donnern erklingen ließ. Sie schloss geblendet ihre Nicht-Augen. Das Donnern und Toben des schwarzen Feuers ließ sie nahezu taub werden. Aber trotzdem hörte sie durch das Tosen hindurch schwach Ivaylos Hilferufe, die sie hierher geleitet hatten.
»Wo bist du?«, schrie sie.
Die Antwort schien von einem Punkt tief unter ihr zu stammen. Alana ließ sich an der Feuersäule entlang nach unten gleiten. Die Hitze ‒ oder Kälte? ‒, die davon ausstrahlte, schmerzte sie bis ins Innerste dessen, was sie für ihren Körper ‒ oder ihre Seele? ‒ hielt.
Wieder rief sie nach Ivaylo und wieder erklang eine schwache Antwort. Tiefer hinab.
Sie tauchte in einen Abgrund, dessen Dunkelheit noch tiefer war als die Funken sprühende Finsternis, durch die sie bisher gefallen war. Nur sie und die tobende, rasende, brüllende Säule aus schwarzem Feuer existierten noch. Alana spürte, wie sie die Kräfte verließen. Sie schrie Ivaylos Namen, voller Angst, dass sie aufgeben musste, zurückkehren, ihn verlassen, ehe sie ihn gefunden hatte. Oder, noch schlimmer, dass sie endlos weiter durch die Finsternis fallen würde, trudeln, taumeln, wie ein Vogel, der tot aus zu großer Höhe stürzt. Sie sah sich in alle Ewigkeit stürzen, während ihr Fleisch von den Knochen faulte und sie langsam zu Staub und Moder zerfiel, immer noch stürzend, fallend, fallend, stürzend ...
Sie stand. Ungläubig bewegte sie ihre Zehen. Sie fühlte Grund unter ihren Füßen. Sie besaß wieder einen Körper, den sie sehen, spüren, berühren konnte.
Alana schaute sich um. Ringsumher erstreckte sich eine weite, leblose Ebene unter einem düsteren, sonnenlosen Himmel. Der Boden unter ihren Füßen war aus narbigem Felsgestein, das unvermutet immer wieder von Stellen unterbrochen wurde, die wie glasierter Ton glänzten und spiegelglatt waren. Irgendwo am Horizont flackerte der Widerschein eines bläulichen Feuers. Alana wurde schwindelig. Die Luft erschien ihr viel zu dicht und viel zu warm, und sie spürte ein schweres Gewicht auf ihrer Brust. Verzerrte Geräusche, falsche Farben und verwirrende Gerüche narrten ihre Sinne. Ein widerlich blauer Gestank stieg in ihre Nase, und der Geschmack von Hundegebell würgte sie in der Kehle. Ihre Augen spielten ihr Streiche, sie sah Bewegungen am Rand ihres Blickfeldes, die verschwanden, wenn sie den Kopf wandte. Alana zwang sich dazu, nicht erschreckt herumzufahren, sondern starr geradeaus oder auf ihre Fußspitzen zu blicken. Dies war kein Ort, an dem sie lange bleiben durfte.
Sie ging ein paar Schritte und vernahm schrilles Geheul und dumpfe Knurrlaute, die entweder weit entfernt oder ganz in der Nähe erklangen – sie konnte es nicht auseinanderhalten. Welche Geschöpfe auch immer diese Laute hervorbrachten, sie wollte ihnen lieber nicht begegnen.
»Ivaylo«, rief sie atemlos.
»Hier«, ertönte die schwache Antwort. Ein Stück voraus stand das untere Ende der Feuersäule, die sie hergeleitet hatte, auf dem glasig gebrannten Boden. Alana tastete sich voran, rutschte, glitt aus, fing sich wieder, machte den nächsten Schritt.
Dann sah sie eine Gestalt, die reglos auf dem Boden hockte. Sie hielt einen Arm weit von sich gestreckt, die Handfläche war nach oben gerichtet, und aus ihr heraus entsprang die monströse, riesenhaft emporwachsende Säule aus schwarzem Feuer.
Alana erkannte ihn nicht sofort, so blass und ausgezehrt erschien ihr sein Gesicht. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten durch sie hindurch, an ihr vorbei, in die Finsternis hinter ihr. Alana kniete vor ihm nieder, ohne das sengende Feuer zu beachten, das seiner Hand entsprang, und legte die Hände auf seine Schultern, um ihn sacht zu schütteln.
Kein Muskel regte sich in seinem angespannten Gesicht. Tief in seinen leblosen Augen brannte ein winziger, eisheller Funke. »Ivaylo«, rief Alana ihn an. »Ich habe dich gehört. Ich bin hier, um dich nach Hause zu bringen.«
Er bewegte sich nicht, gab mit keinem Zeichen zu erkennen, dass er sie bemerkt hatte. Alana schüttelte ihn ein wenig fester. »Wach auf«, rief sie laut. »Ivaylo!«
Es war vergebens. Alana ließ sich auf die Fersen zurückfallen und ballte die Hände. Es konnte doch nicht sein, dass sie den Weg hierher auf sich genommen hatte, um jetzt zu scheitern?
Etwas summte leise und melodisch. Alana bemerkte, dass bei diesem Klang Ivaylos Lider schwach zu zucken begannen. Das Summen verklang und er saß wieder vollkommen starr da.
»Was war das?«, fragte Alana laut. Wieder presste sie die Hände vor Aufregung zur Faust zusammen und wieder erklang der leise Ton.
Ivaylo schloss die Augen und öffnete sie wieder. Seine Pupillen verengten sich und fixierten Alana. »Du?«, flüsterte er ungläubig.
Der Ton verhauchte, Ivaylo sank wieder in seinen todesähnlichen Zustand zurück.
Alana riss ihre Hände zum Gesicht und öffnete die Faust. Ivaylos Sternenstein lag in ihrer Hand, matt, glanzlos und unscheinbar. Aber als sie ihn ansah, begann er sanft zu summen, und ihr eigener Stein, der sicher auf ihrer Brust ruhte, erwärmte sich und gab ein Echo des Tones von sich. Das Duett der beiden Stimmen verwob sich zu einer flüsternden Melodie, wie ein sanfter Windhauch, der mit zartem Frühlingslaub spielt.
Ivaylo sah sie an. »Alana«, sagte er stockend. »So lange ... ich hatte alle Hoffnung aufgegeben ...«
Sie sah, dass er versuchte, seine Hand nach ihr auszustrecken, und beugte sich vor, um sie zu ergreifen. Seine Finger waren so eisig kalt und steif, dass sie glaubte, eine Marmorstatue zu berühren und kein lebendiges Wesen.
Alana hielt seine Hand und rieb sie, um etwas Wärme hineinzubringen, während sie leise auf ihn einredete. Sie erzählte ihm, dass sie gekommen war, um ihn nach Hause zu holen. Dass sie ihn vermisst hatte. Dass alles gut werden würde. Dass Sverre auf sie wartete. Und während sie seine Hand rieb und redete, verklang das Singen der beiden Sternensteine, und sie spürte voller Verzweiflung, dass das Leben erneut aus seinen Fingern wich, sah, wie seine Augen wieder glanzlos wurden und sich matt verschleierten.
»Bleib hier!«, schrie sie ihn an und packte mit beiden Händen die verstummten Steine. »Singt weiter«, flehte sie. »So singt doch!« Doch die Steine lagen wie tot in ihrer Hand.
Alana schloss die Augen und legte ihre Hände vor das Gesicht. Sie musste nachdenken.
Die Sternensteine bargen die Lösung. Ihr Klang befreite Ivaylo aus dem Bann, unter dem er stand. Also musste sie es schaffen, die Steine zum Singen zu bringen. Wie konnte das gelingen?
Alana zog ihren Sternenstein über den Kopf und nahm ihn in die Hand. Ivaylos Stein ruhte still in der anderen. Sie legte ihre Hände geöffnet nebeneinander auf ihre Knie und schaute darauf hinab. Ihre Hände berührten sich, und sofort begannen die Steine zu singen. Ivaylos Brust hob sich in einem tiefen, bebenden Atemzug.
»Gut«, sagte Alana entschlossen. Sie legte ihren Stein zu Ivaylos in ihre linke Hand, schloss sie fest zur Faust und sah Ivaylo an.
Sein Blick belebte sich und er öffnete den Mund. »Oh«, seufzte er. »Alana, bring mich nach Hause.«
»Das habe ich vor«, erwiderte sie energisch. Sie stand auf, die singenden Steine fest in der Faust, und reichte ihm ihre freie Hand, um ihm aufzuhelfen. Er griff unsicher nach ihr und versuchte, auf die Füße zu kommen, schaffte es aber nicht. »Ich kann nicht«, sagte er. »Er hält mich fest.« Sein Kopf drehte sich zu seiner linken Hand, aus der die Feuersäule stieg.
»Verflucht«, sagte Alana. Sie ließ ihn los und machte einen Schritt auf das schwarze Feuer zu. Ivaylos Hand hing reglos in der Luft und die Flammensäule entsprang ganz offensichtlich seiner Handfläche. Alana beugte sich nieder, aber da war nichts, was seine Hand oder seinen Arm festhielt.
»Seltsam«, murmelte sie und näherte ihr Gesicht vorsichtig seiner Hand. Sie musste die Augen zusammenkneifen, weil die Hitze und diese seltsame schwarze Flamme sie blendeten und erschreckten. Durch ihre Wimpern betrachtete sie seine Hand. Im Herzen des tobenden Feuers sah sie etwas Dunkles, Glänzendes liegen. »Was ist das?«, fragte sie ratlos.
Ivaylo stöhnte. »Erramun hat mir meinen Stein genommen. Und der Dämon mit den hellen Haaren, seine Schwester, gab mir das Brennende, das Versengende, den Schmerz. Ich fiel und fiel durch die Dunkelheit, bis ich mich hier wiederfand. So lange, Alana. So endlos lange ...« Seine Stimme brach in einem Schluchzen.
Alana hob den Kopf und sah die Tränen, die über Ivaylos abgezehrtes Gesicht liefen. In der kurzen Zeit, die sie hier war, war Ivaylo noch abgezehrter und hohläugiger geworden. Bei ihrem Eintreffen war ihr sein Gesicht schon bleich erschienen wie das eines Todkranken. Aber jetzt erblickte sie straff über die Knochen gespannte Haut, tief in die Höhlen gesunkene Augen, Lippen, die sich scharf von den gebleckten Zähnen zurückzogen ‒ ein Totenschädel, überzogen mit pergamentdünner, totenbleicher Haut. Ivaylo wankte.
Ihr blieb keine Zeit mehr. Kurz entschlossen griff Alana mitten durch das tobende Feuer nach Ivaylos Hand. Es versengte ihre Haut, verkohlte ihr Fleisch, ließ ihr Blut kochen und verglühen, verbrannte ihre Knochen zu weißglühender Asche, aber sie zuckte nicht zurück. Vor Schmerz schreiend, packte sie mit auflösenden Fingern den Dämonenstein, riss ihn von Ivaylos Hand los und schleuderte ihn von sich.
Das laute Tosen des Feuers, das sie schon beinahe nicht mehr bemerkt hatte, verstummte mit einem Schlag, der sie beinahe taub machte. Die Flammensäule fiel mit einem wütenden Kreischen in sich zusammen und hinterließ ein blendend weißes Nachbild. Eine riesige, schwarz geflügelte Gestalt brach daraus hervor und schwang sich brüllend in die Luft. Dann hielt die Kreatur inne, dreht sich mit mächtigen Flügelschlägen zu den beiden Elfen und fixierte Alana.
Der Dämon ließ sich im Sturzflug auf sie hinunterfallen. Ein Gluthauch traf Alana. Glitzernde, blutrote Augen musterten sie tückisch. Der Dämon riss sein Maul auf und der stinkende Atem der Kreatur hüllte Alana ein. Der Anblick der violetten, geifertriefenden Zunge dicht vor ihrem Gesicht ließ sie zurückweichen. Der Dämon gab ein fauchendes Geräusch von sich und schraubte sich dann mit knatternden Schlägen seiner ledrigen Schwingen hoch in die Luft.
Ivaylo sah dem Dämonenreiter nach. »Er holt seine Leute«, stöhnte er. »Wir müssen uns beeilen.«
Die überstandene Gefahr und der Schmerz in ihrer verbrannten Hand ließen Alana beinahe ohnmächtig werden. Sie biss sich auf ihre Lippe, bis sie Blut schmeckte, und rang die heranwogende Dunkelheit nieder. Das Summen und Sirren der nahenden Ohnmacht wurde leiser und verklang. Und jetzt erst hörte sie den Gesang der beiden Sternensteine, die sie krampfhaft umklammert hielt, zum ersten Mal so laut und triumphierend, wie er die ganze Zeit unter dem Toben der Feuersäule erklungen war.
Alana richtete sich auf, denn sie war zu Boden gesunken, und hielt ihren Blick von ihrer schmerztobenden, feuerbrüllenden Hand abgewandt. Sie wollte nicht sehen, was die Flamme des Dämonensteins damit angerichtet hatte. Es fühlte sich entsetzlich an, und sie wusste, dass man das, was sich dort am Ende ihres Armes befand, nicht mehr als Hand erkennen würde. Schaudernd schloss sie für einen kurzen Moment die Augen, dann straffte sie ihre Schultern und sah Ivaylo an.
Er erwiderte ihren Blick mit einem Nicken, das gleichzeitig Angst und Zuversicht zeigte. »Ich bin frei«, sagte er und machte einen Schritt und dann noch einen in ihre Richtung.
Alana stieß den angehaltenen Atem aus und hielt ihm ihre unverletzte Hand mit den beiden Sternensteinen entgegen. »Nimm ihn«, sagte sie heiser. Der tobende Schmerz in ihrer Hand zog sich den Arm empor und lähmte ihre Bewegungen. Aber sie musste Ivaylo noch zurückbringen, den ganzen, weiten Weg.
Er nahm mit vorsichtig ausgestreckten Fingern seinen Stein von ihrer Handfläche. Sie fürchtete, dass der Gesang der Steine abbrechen würde und er wieder in seine Starre verfiel, aber das geschah nicht. Ivaylo hielt seinen Stein fest und seufzte. Dann zog ein schwaches Lächeln über sein totenblasses Gesicht. »Danke«, sagte er. »Aber jetzt lass uns fliehen, ehe mein Dämon mit seiner Armee zurückkehrt!«
Alana nickte stumm. Der Rückweg. Es überlief sie eiskalt und glühend heiß. Sie war gefallen, viele Ewigkeiten lang. Sie hatte die Feuersäule und Ivaylos Ruf als Orientierung genommen. Wie aber sollte sie jetzt den Weg zurück ins Elfenreich finden?
Sie fühlte die Tränen, die ihr übers Gesicht liefen, erst, als Ivaylos Finger sie von ihren Wangen strichen. »Du hast Schmerzen«, sagte er. »Deine Hand, Alana.«
Sie schaute nicht auf die Stelle, auf der sein schreckerfüllter Blick ruhte. »Es ist nichts«, sagte sie. »Wir müssen zurück, und ich weiß nicht, wie ich den Weg finden soll.«
Wir müssen zurück. Sie begann es zu spüren. Etwas saugte an ihr, zerrte, ließ sie müde und kraftlos werden. Dies war kein Ort, an dem sie überleben konnten. Wo war der Ausgang aus dieser Welt? Sie konnte sich nicht daran erinnern, und es blieb ihr keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Da war zwar der Anker, Sverre, den sie fest und stark spürte, aber er konnte ihr nicht den Weg hinaus weisen. Er war einfach nur da. Sverre hatte Munir bestimmt erklärt, wie er den Rückweg finden würde, aber in ihrer Angst um Ivaylo hatte sie den Ausführungen des Zwerges nicht gelauscht.
»Gehen wir«, sagte sie. »Hier entlang.« Jede Richtung konnte die richtige sein ‒ oder die falsche. Sie standen auf einer endlosen, schwarz glänzenden Ebene mit einem Boden aus spiegelglatt gebranntem Gestein. Es gab keinen Horizont, keine Erhebungen, nichts, woran das Auge sich orientieren konnte. Nur Schwärze und seltsame Lichter.
»Warte«, sagte Ivaylo nach einer Zeit, die sie schweigend gegangen waren. »Ich glaube nicht, dass ich es schaffe.« Er stützte sich auf ihren Arm, den sie ihm schweigend reichte, und rang nach Luft.
Alana drehte sich zu ihm und legte ihre Arme um ihn. Sie wollte ihn stützen, ihm Kraft und Zuversicht einflößen, die sie selbst nicht empfand. Er erwiderte ihre Umarmung vorsichtig, als hätte er Angst, ihr wehzutun.
»Ich kann mich erinnern«, flüsterte er in Alanas Ohr. »Ich erinnere mich an das, was der Dämon dir getan hat, während er mich ritt. Ich schäme mich so.«
Sie legte den Kopf an seine Schulter, zu erschöpft und von den Schmerzen in ihrer Hand viel zu sehr in Anspruch genommen, um etwas zu erwidern. Eine Weile standen sie so und hielten sich aneinander fest. Alana spürte seinen Atem an ihrer Wange. Sie drückte sich fest an ihn, denn es erschien ihr einen Moment lang, als würde sein ausgezehrter Körper sich in ihren Armen verflüchtigen und nur einen geisterhaften Nebelstreif zurücklassen. Ihr Herz schlug schwer und angstvoll.
»Bleib bei mir«, sagte sie.
»Für immer«, erwiderte er. Ihre Wangen berührten sich. Alana drehte den Kopf und streifte sein Gesicht mit ihren Lippen. Es fühlte sich süß und beruhigend an.
Ivaylos Blick ruhte fragend und groß auf ihrem Gesicht. Sie erwiderte ihn voller Erleichterung. Wie sehr hatte sie der kalte, tote Blick seines Dämonenreiters erschreckt. Aber dies waren ganz und gar lebendige Augen, viel lebendiger als das bleiche Gesicht, aus dem sie schauten.
Er lächelte schwach. »Ich kenne dich inzwischen ganz gut«, sagte er mit einem Anflug seines alten Humors. »Du lässt dich nicht durch ein paar dumme, kleine Hindernisse entmutigen. Wir haben uns in einer fremden Welt verlaufen und ein Dämonenheer ist uns auf den Fersen. Na und? Die erledigen wir doch mit links.«
Alana atmete hastig ein. Dann begann sie zu lachen und Ivaylo fiel darin ein. Die beiden hielten einander fest, umarmten sich lachend in der Finsternis, und jetzt endlich waren es ihre Lippen, die sich fanden.
»Also«, sagte er rau, als sie sich losließen und ein wenig verlegen voneinander abrückten. »Dann lass uns mal überlegen, wie wir hier rausfinden. Kann uns nicht dein Stein den Rückweg weisen?«
»Das könnte er vielleicht«, erwiderte Alana nachdenklich. »Du hast recht, der Stein muss die Lösung sein.« Sie drehte ihren Sternenstein zwischen den Fingern. »Vielleicht kann ich mit meinem Stein ja meinen Anker erreichen.«
»Deinen Anker«, wiederholte Ivaylo verständnislos.
»Ja, Sverre.« Alana winkte ab. »Ich erkläre es dir später. Lass mich jetzt versuchen, ob er mich hört.« Sie hockte sich auf den harten Boden, schaute auf ihren Sternenstein nieder und konzentrierte sich auf die silbernen Fäden darin. Der schwache Glanz der Fädchen verstärkte sich. Alana stellte sich vor, in das Innere ihres Steins zu tauchen und wie eine Fliege im Bernstein neben den silbernen Einschlüssen zu schweben. Es war still und friedlich. »Sverre«, sandte sie einen lauten Gedankenruf aus. »Sverre, ich brauche deine Hilfe!«
Niemand antwortete. Alana sammelte sich erneut und schickte mit aller Kraft einen erneuten Ruf aus. »Sverre!«
Dann wartete sie mit steigender Verzweiflung auf eine Antwort. Hatte sie sich zu weit vorgewagt? War die Verbindung gerissen, und Ivaylo und sie fanden sich jetzt gestrandet im Dämonenreich, ohne eine Hoffnung, jemals wieder zurückzufinden?
Sie begann, sich von ihrem Stein zu lösen, als eine kaum wahrnehmbare Regung sie innehalten ließ. Hatte sie ihren Namen vernommen? Sie lauschte mit angehaltenem Atem.
»...lana«, ertönte es schwach aus weiter Ferne.
»Ich bin hier«, sandte sie den Ruf, so stark sie konnte. »Wir sind beide hier, Sverre! Wo ist der Weg?«
Wieder lauschte sie, atemlos, gespannt. Nichts.
»Ich bin zu schwach«, flüsterte sie und spürte, wie Ivaylo ihre Hand nahm.
»Was muss ich tun, um dir zu helfen?«, fragte er ruhig.
Alana öffnete die Augen und sah ihm ins Gesicht. Hatte es ein wenig mehr Farbe bekommen, erschien es nicht mehr ganz so erschreckend und knochig? Dennoch schüttelte sie den Kopf. »Ich will nicht, dass du hier unten stirbst«, entgegnete sie. »Du bist zu geschwächt, um mir beizustehen.«
»Wir werden beide hier unten sterben, wenn es uns nicht gelingt, Sverre zu erreichen«, widersprach er. »Wenn ich nur eine Last bin und dir nicht helfen kann, dann lass mich hier zurück und rette dich selbst.«
Wie eine Antwort erklang in der Ferne schrilles Geheul und ein Lärm wie von trommelnden Hufen. Der Dämonenreiter kehrte zurück und er brachte seine Truppen mit sich.
Alana umarmte Ivaylo heftig. »Ich lasse dich nicht allein!« Sie blickte in die Richtung, aus der der Lärm der heranrückenden Dämonenarmee zu ihnen schallte. »Wir haben keine Zeit mehr. Du hast recht. Wir sollten es beide gemeinsam versuchen.« Sie überlegte. »Die Steine haben ein starkes Signal gesendet, als ich sie beide zusammen in meiner Hand hielt. Sollen wir ...« Sie musste nicht zu Ende sprechen. Ivaylo legte seinen Sternenstein in ihre Hand und schloss seine Finger darum. Alana verschränkte ihre Finger mit seinen, fühlte die glatte Härte ihres Steins und die sanfte, raue Rundung des seinen und lächelte. »Ich rufe Sverre«, sagte sie.
»Und ich gebe dir Kraft«, erwiderte Ivaylo.Dieses Mal war ihr Ruf wie ein Lichtstrahl in der Dunkelheit, ein Blitz am trüben Himmel. Er fuhr hinauf und hinaus und die Stimmen der Steine begleiteten ihn.
Sverres Antwort kam unverzüglich und deutlich: »Hier ist euer Weg!«
Alana spürte einen Zug wie von einer festen Leine. Sie schluchzte vor Erleichterung und fragte: »Fühlst du es auch?«
Ivaylo bejahte. Er löste seinen Griff, mit dem er ihre Hand und die beiden Steine hielt, aber im gleichen Moment schwand die Verbindung zu Sverre. »Halt«, rief Alana und packte seine Hand. »Wir müssen verbunden bleiben.« Sie musterte ihn besorgt. »Schaffst du es?«
Ivaylo nickte knapp. Seine Lippen waren bläulich verfärbt und unter seinen Augen lagen schwarze Schatten. Er hielt sich viel länger als sie hier im Dämonenreich auf, und das schien ihm nach und nach die Lebenskräfte zu rauben. Auch Alana spürte das beständige Saugen und Zerren an ihren Kräften.
Sie schaute sich um. Das Getöse der Dämonen war lauter geworden, doch so weit ihre Augen reichten, war die Ebene leer. Sie drückte Ivaylos Hand. »Sie sind noch weit entfernt. Lass uns noch einen kurzen Moment ausruhen.« Alana drängte den tobenden Schmerz in ihrer verletzten Hand zurück und beruhigte ihren Geist. Sie vernahm Ivaylos mühsamen Atem und musste einen Anfall von Panik herunterschlucken. Wir schaffen es, dachte sie. »Wir müssen es einfach schaffen!«
»Ja«, erwiderte er, und sie bemerkte jetzt erst, dass sie laut gesprochen hatte.
»Komm«, sagte Alana und half ihm auf die Beine. Sie barg ihre verletzte Hand an der Brust, wobei ihr Blick zum ersten Mal auf den geschwärzten, blutig roten Klumpen verbranntes Fleisch fiel, der einst eine Hand mit fünf Fingern gewesen war. Sie schauderte.
»Tut es sehr weh?«, sagte Ivaylo. Sie nickte und blinzelte ein paar Tränen fort.
»Es sieht so schrecklich aus«, murmelte sie. »Wie kannst du mich noch mögen, wenn ich so eine, eine ...« Sie hatte keine Worte für das, was mit ihrer Hand geschehen war, und stieß nur einen Laut aus, der Abscheu und Ekel ausdrückte.
»Das hat nichts mit dir zu tun«, sagte Ivaylo. »Und nichts damit, ob ich dich mag oder nicht.« Er schnappte nach Luft. »Weiter«, stieß er hervor. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte.«
Alana hakte ihn so unter, dass sie ihn stützen konnte, ohne seine Hand loszulassen, und schritt voran, der unsichtbaren Verbindung zur Elfenwelt, die ihr den Weg wies, folgend. Schritt für Schritt gingen sie voran, ohne dass sich ihre Umgebung merklich veränderte. Alana dachte mit Grauen an den langen Fall, der sie hierher gebracht hatte. Wie sollten sie es schaffen, diese Strecke zurückzulegen? Ivaylo wurde mit jedem Schritt schwächer und auch ihre Kräfte schwanden spürbar. Das Geschrei, die Rufe, das Klirren von Waffen und das Trappeln von Füßen und Hufen, das sie verfolgte, wurde lauter und lauter. Sie schaute zurück und sah eine Staubwolke, die sich unaufhaltsam näherte.
»Sverre«, sandte sie einen Hilferuf. »Ich fürchte, wir schaffen es nicht!«
Sie erhielt keine hörbare Antwort. Aber nach einer Weile, in der sie lauschte und wartete, während sie sich mit Ivaylo, der sich immer schwerer auf sie stützte, voranschleppte, spürte sie, wie ihr von außen neue Kraft und Zuversicht zuwuchsen. Der Zug an der unsichtbaren Leine verstärkte sich und half ihr voran.
»Dort vorne«, sagte Ivaylo. Er hatte sich schon eine Weile stumm und mit hängendem Kopf neben ihr hergeschleppt, aber jetzt hob er das Gesicht wie ein Wolf, der Witterung aufnimmt. Alana folgte seinem Blick. Er hatte recht, dort erhob sich etwas aus der endlosen Eintönigkeit der schwarzen Ebene. Es flimmerte, verging und tauchte wieder auf, tanzte vor ihren Augen wie eine Lufterscheinung, aber es war immer wieder auch deutlich zu erkennen.
»Siehst du auch so etwas wie ein Tor?«, fragte Alana.
Ivaylo nickte. Sie standen eine Weile da und beobachteten die flimmernde, sich ständig verändernde Erscheinung in der Ferne. Dann bemerkte Alana, dass der stete Strom an Kraft, der ihr von außen zufloss, schwächer zu werden begann. »Wir müssen weiter«, drängte sie und sie setzten sich stolpernd wieder in Bewegung. Alana hörte Ivaylos keuchenden, pfeifenden Atem und musste an sich halten, um nicht vor lauter Schwäche, Angst und Mitleid mit ihm in Tränen auszubrechen.
Das flimmernde Tor rückte langsam näher. Es war wirklich ein Portal, dachte Alana. Mattes Licht schimmerte zwischen den scharfen, flackernden Rändern. »Gleich haben wir es geschafft«, flüsterte Alana. Sie wusste nicht, ob sie Ivaylo oder sich selbst damit Mut zusprechen wollte.
Aber dann geschah es. Ivaylo brach ohne Vorwarnung beim nächsten Schritt zusammen und fiel vornüber auf Hände und Knie. Sie konnte ihn nicht halten, ihre Hände lösten sich voneinander und der Kontakt der Steine brach ab.
Die Verbindung zu Sverre riss, das Tor flackerte auf und erlosch. Und während Alana noch nach Ivaylo griff, dabei ihre verletzte Hand vergaß und damit hart gegen seine Schulter stieß, sodass ihr vor Schmerz die Tränen in die Augen schossen, hörte sie wieder das unheilvolle Heulen und Bellen, als wäre ihnen eine wilde Meute auf der Spur – aber dieses Mal war der infernalische Lärm ganz nah.
Alana fuhr herum und erstarrte vor Schreck. Die Dämonenhorde, die auf sie zugestürmt kam, bot einen Anblick, der ihr Blut gefrieren ließ. Sie sah Reißzähne und geifernde Mäuler, Wesen mit einer Unzahl von Köpfen, tückische Facettenaugen und lange, nach ihr peitschende Tentakel, aber auch Klauen, die Messer und Speere umklammerten, und seltsame, vielbeinige Wesen, die anderen Dämonen als Reittiere dienten.
»Geh weiter, Alana«, sagte Ivaylo und kam mühsam wieder auf die Füße. »Ich versuche, sie aufzuhalten.«
»Ich lasse dich nicht alleine zurück»
»Lauf schon«, rief er. »Rette dich. Sie wollen mich – siehst du dort vorne meinen Reiter?« Er machte einen taumelnden Schritt auf die heranstürmende Horde zu.
»Dein Stein«, schrie Alana. Mit einer schnellen Bewegung griff sie nach seiner Hand, fasste den Stein und brachte ihn erneut mit dem ihren in Berührung.
Die Stimmen der Steine erklangen laut und wild. Ihr Gesang brachte Verwirrung in die angreifende Horde. Die Reittiere brachen aus und galoppierten zur Seite davon, einige warfen ihre Reiter ab und trampelten auf ihnen herum oder bissen ihnen Köpfe und Glieder ab. Die meisten der verfolgenden Dämonen wurden vom entstandenen Chaos aufgehalten. Nur einer Handvoll gelang es, die tobende und rasende Meute zu umlaufen und weiter hinter Alana und Ivaylo herzusetzen.
»Schnell«, sagte sie zu sich selbst und rief nach Sverre. Ihre Hand war schweißnass, und sie hatte Mühe, die beiden Steine und Ivaylos Hand festzuhalten.
Dann waren die ersten Verfolger bei ihnen und fielen über sie her. Alana riss die Hände hoch und wehrte den ersten ab. Ihr Sternenstein ließ einen ohrenbetäubenden scharfen Ton hören, der den Dämon zurückprallen ließ.
Ivaylo kniete neben ihr und stieß Silben aus, die ihr in den Ohren wehtaten. War das die Sprache seines Reiters, der Dämonen? Oder ein Zauberspruch, den Erramun ihm beigebracht hatte?
Was auch immer es war, die Worte richteten einen strahlend hellen Wall zwischen ihnen und den Verfolgern auf. »Schnell«, sagte Ivaylo, »ich kann das nicht lange aufrechterhalten.«
»Sverre«, rief Alana, »wir brauchen das Tor!«
Im gleichen Moment öffnete sich das flirrende, flackernde Portal einen Schritt hinter ihnen. Alana zerrte an Ivaylos Hand, er stolperte rückwärts, der Schutzwall erlosch und die Meute war über ihnen. Schnappende Zähne und scharfe Messer blitzten vor Alanas Gesicht. Ein geflügelter, mit Stacheln besetzter Dämon stürzte sich auf sie, riss Alana um und grub seine Zähne und Klauen in Ivaylos Bein.
Dann war plötzlich Sverre an ihrer Seite, brüllte ohrenbetäubende Flüche und schlug mit seinem Streithammer auf die Dämonen ein, die vor diesem überraschenden Angriff einen Moment lang innehielten und zurückwichen. Sverre nutzte den Augenblick, ließ seinen Hammer fallen, packte Alana links, Ivaylo rechts, riss beide mit sich, und alle drei fielen in das geöffnete Tor hinein.
Plötzliche Stille und sanftes Licht. Alana lag auf einem warmen Holzboden und hielt Ivaylo in den Armen. Gesichter blickten auf sie hinab. Sie erkannte das bärtige, besorgte Gesicht Sverres und stöhnte vor Erleichterung. »Danke«, sagte sie.
»Da ist Blut«, hörte sie eine Frauenstimme sagen. Daina. Ihre Mutter war da. »Ivaylo. Sein Bein ‒ was ist mit seinem Bein geschehen?« Dann hörte sie, wie Daina scharf einatmete. »Alana, deine Hand!«, rief sie entsetzt.
Alana versuchte, sich aufzurichten, aber ihre Kräfte waren nun endgültig und vollkommen erschöpft. Ihr Körper brannte vor Schmerz. Sie lag da und schloss die Augen. Sie waren in Sicherheit. Alles andere war unwichtig. Sie konnte jetzt endlich nachgeben und sich in die Arme der warmen, tröstlichen Dunkelheit fallen lassen, in der keine Angst existierte und kein Schmerz.