Es wundert mich noch heute, dass Daina mir nicht den Kopf abriss, denn wütend genug war sie, als wir sie zu Hilfe riefen.
Sverre war es endlich gelungen, den Kontakt zu Alana aufzunehmen, aber ich konnte seinem Gesicht ansehen, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. »Ich brauche eure Hilfe«, sagte der Zwerg. Auf seiner breiten Stirn stand der helle Schweiß. »Irgendetwas muss Alana zugestoßen sein, sie ist zu schwach, um den Rückweg zu schaffen.«
Ich spürte, wie das Blut aus meinem Gesicht wich. Auberon zögerte nicht. Er hatte ruhig im Hintergrund gesessen und uns beobachtet, aber jetzt kam er zu uns und ergriff Sverres Hand. »Welche Art der Hilfe benötigst du?«, fragte er.
»Was du gerade tust, ist genau das Richtige«, erwiderte der Zwerg. »Kraft, jede Form der Energie, die ich Alana schicken kann. Befinden sich vielleicht noch mehr des Zauberns Kundige hier im Schloss?«
Auberon wich meinem anklagenden Blick aus. »Nein, so viel ich weiß, nicht«, erwiderte er.
»Meine Schwester«, sagte ich. »Sie ist Heilerin. Und mein anderer Neffe, Alanas Bruder.«
»Holt sie her«, befahl der Zwerg.
Auberon schickte mit einem kurzen Befehl einen seiner Jäger hinaus. Dann warteten wir, bis Daina mit ihrem Jungen hereingestürzt kam. »Wo ist sie?«, fragte sie als Erstes.
Ich wies stumm auf das offene Dämonentor, das die Umrisse der jungen Elfe aufwies. Daina sah es an, erstarrte und ihr Gesicht zeigte unverhohlenes Entsetzen. Der Blick, der mich traf, war mörderisch. Ihr Sohn Aindru stand wie versteinert in ihrem Schatten.
Aber meine Schwester war zu diszipliniert, um sich ihrem Zorn oder ihrer Angst um Alana und Ivaylo hinzugeben. Sie fragte, was sie zu tun hätte, und verband sich dann eilig mit unserem Kreis.
Sverre nickte knapp und schnaufte kurz und heftig durch. »Ich kann sie hören«, sagte er und dann sagte er lange Zeit nichts mehr. Sein Gesicht war angespannt und wurde mit jeder verstreichenden Minute grauer und erschöpfter. Auch ich spürte die Folgen der aus mir herausströmenden, in das geöffnete Tor fließenden Energie. Meine Hände begannen zu zittern und mein Blick verschleierte sich.
»Wir sollten abwechselnd Erholungspausen einlegen«, schlug Auberon vor, der nicht minder ausgelaugt erschien. »Sverre, kannst du einen von uns für den Augenblick entbehren?«
Der Zwerg nickte nur, zu konzentriert und zu angespannt, um zu antworten.
»Geh, ruh dich aus«, befahl mir Auberon.
Ich gehorchte und ließ mich für einen Moment in einen breiten Sessel fallen, schloss meine Augen und ließ mein Gemüt zur Ruhe kommen.
Als ich mich ein wenig erholt fühlte, kehrte ich zu den anderen zurück und sah Daina an. Sie schüttelte energisch den Kopf und wies auf Auberon. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, deutete auf den Sessel und begann selbst wieder damit, Kraft durch den anscheinend unermüdlichen Zwerg in das Dämonentor zu senden.
Die Zeit dehnte sich endlos. »Sverre, du brauchst auch eine Pause«, sagte Daina nach einer Weile. Inzwischen war Auberon zurückgekehrt und hatte Aindru zum Ruhen geschickt.
Sverre schüttelte den Kopf. Er biss so fest die Zähne aufeinander, dass die Sehnen an seinem Hals hervortraten.
Dann geschah etwas, das wie ein Schlag durch unsere Gemeinschaft ging. Ich spürte, wie der Energiefluss abbrach. Sverre stöhnte auf und sank nach vorne auf Hände und Knie. Wir ließen uns los und sahen uns voller Angst und Sorge an.
»Was ist geschehen?«, rief Daina.
Der Zwerg schüttelte benommen den Kopf. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er gepresst. »Ich habe die Verbindung verloren. Ich kann sie nicht mehr spüren.«
Ich kniete mich neben ihn und half ihm auf. »Was jetzt?«, fragte ich. »Soll ich versuchen, ihnen zu folgen?«
Der Zwerg packte meinen Arm. »Auf keinen Fall«, erwiderte er. »Du hast keinerlei Erfahrung damit. Wenn einer gehen kann, dann bin ich es.«
Ich erwiderte seinen Blick. »Das würdest du tun? Für zwei Elfenkinder?«
Sverre nickte. »Sie sind mir ans Herz gewachsen, Kerkermeister. Und Alana ist meine Steinnichte.« Er senkte den Blick nicht, forderte meinen Widerspruch heraus. »Ich war es, der ihr den Stein gegeben hat, und dafür werde ich mich vor meinem König zu verantworten haben ‒ wie auch dafür, dass ich euch helfe.«
Auberon, der sich matt die Augen rieb, murmelte: »Ich denke, dass die Fehde zwischen unseren Völkern nun endgültig der Vergangenheit angehört. Wenn es nach mir geht, werden Trond und ich einen Frieden schließen, der zu unseren Lebzeiten nicht mehr infrage gestellt werden soll.«
Sverre sah ihn ungläubig an. Dann riss er den Kopf hoch, als hätte er einen Ruf vernommen. »Auf«, sagte er laut, »ich brauche eure Kraft. Ich gehe hinüber.« Er gab mir eine kurze Anweisung, wie ich ihn zu verankern hatte. Ich tat, was er von mir verlangte, und konnte dann nur noch hilflos dastehen und zusehen, wie der Zwerg sich ebenfalls in eine schwarze, heulende, lichtlose Silhouette verwandelte.
Daina, die schweigend und blass neben mir gestanden und die Arme um sich geschlungen hatte, griff nach meiner Hand und schloss die Augen. Ich sah, dass sich ihre Lippen beschwörend bewegten. Alana, sagte sie stumm. Alana.
Ein dumpfes Donnern grollte durch die Luft. Die Umrisse des Dämonentores begannen zu flimmern, und dann brach das Tor mit einem saugenden, nervenzerfetzenden Geräusch in sich zusammen. Der kurze, grelle Lichtblitz, der den Kollaps begleitete, blendete mich.
Als ich wieder etwas sehen konnte, lagen Alana und Ivaylo vor uns auf dem Boden und Sverre kniete neben ihnen. Die beiden lagen so reglos da, dass ich befürchten musste, zwei tote Kinder zu betrachten.
Daina schob mich energisch beiseite und kniete neben Sverre nieder. Sie entzündete ein Feenlicht, und in seinem Schein sah ich, dass Alanas Lider flatterten und sich einen Spaltbreit öffneten. Sie blickte in Sverres Gesicht und ihre Lippen bewegten sich. Dann schloss sie die Augen. Ich schlug erleichtert die Hände vor mein Gesicht. Zumindest meine Nichte lebte!
Dainas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie sagte etwas von Blut und Ivaylos Bein, und dann hörte ich, wie sie voller Entsetzen etwas über Alanas Hand bemerkte. Ich ging zu ihr und sah auf das Mädchen nieder. Was auch immer geschehen sein mochte, der Anblick ihrer Hand drehte mir schier den Magen um.
»Das ist eine Steinverbrennung«, hörte ich Sverre sagen. »Sie muss einen ungedämpften und ungebundenen Stein berührt haben.«
Er begann mit Daina die Maßnahmen zur ersten Versorgung der furchtbaren Verbrennung zu besprechen, während Auberon sich wortlos um den zerfleischten Unterschenkel des immer noch reglos daliegenden Jungen kümmerte. Ich musste an den unwirschen alten Zwerg denken, der mich daran gehindert hatte, in der Kronfeste die ungezähmten Steine zu berühren, und schauderte. Dann rief ich mich zur Ordnung und kniete neben Auberon nieder, um ihn abzulösen. »Ruh dich aus, mein König«, sagte ich. »Das hier ist nicht deine Aufgabe.«
Er überließ mir das Feld, blieb aber mit gerunzelter Stirn neben mir stehen. »Lebt er überhaupt noch?«, fragte er.
Ich hatte mich dessen schon vergewissert und nickte nur. Aindru, der stille Sohn meiner Schwester, ging mir zur Hand und ich freute mich trotz meiner Müdigkeit an seinen ruhigen und sicheren Handreichungen. Er würde einmal ein guter Heiler sein.
Ivaylos Bein war böse zugerichtet worden. Daina, die ihre verletzte Tochter nicht ohne Weiteres einem Fremden, noch dazu einem Zwerg, hatte überlassen wollen, war inzwischen wohl davon überzeugt worden, dass Sverre wusste, was er begann, und hatte sich zu mir und Aindru gesellt. Wir hatten die Wunden gereinigt und die kleineren Verletzungen verbunden. Es blieb die große Wunde, in der weißlich ein Stück des Knochens freilag, so tief ging sie. Daina ließ das Feenlicht strahlend hell aufleuchten und beugte sich über Ivaylos Bein. Aindru und ich traten beiseite und sahen ihr zu.
»Es fehlt ein großes Stück Fleisch«, sagte sie schließlich gedämpft. »Beinahe, als wäre es herausgebissen worden.«
»Das ... ist es ... auch«, sagte eine schwache, heisere Stimme. »Es tut ... verflucht weh!«
»Ivaylo«, rief Daina erleichtert. »Du bist bei Bewusstsein!« Dann bewölkte sich ihr Gesicht. »Es wäre allerdings günstiger, wenn du dir einen späteren Zeitpunkt zum Aufwachen gesucht hättest. Ich muss versuchen, diese Wunde hier zu schließen.«
Ich gab ihr ein Zeichen, denn der Junge war, soweit ich das sehen konnte, schon wieder in Ohnmacht gesunken.
»Besser so«, sagte sie erstaunlich herzlos. Ich schmunzelte trotz meiner Sorge um die beiden Kinder, denn das hatte Daina mit allen Heilerinnen, die ich kannte, gemeinsam. Wenn sie einmal an der Arbeit waren, kannten sie keine Gefühlsduselei.
Auberon gab mir einen Wink und zog mich beiseite. »Wirst du hier gebraucht?«, fragte er. Ich schüttelte bedauernd den Kopf. Nein, ich konnte nicht helfen.
»Dann sollten wir uns um die Dämonenbrut kümmern.«
Ich nickte. Osane und ihr Bruder Erramun, dem es gelungen war, aus dem Ballsaal zu fliehen, als sein Anschlag dank der Wachsamkeit Izars misslang. Was war mit dem Bruder der beiden, der gestern als Jäger vereidigt worden war? Und der Vater, wo war er?
Es war viel zu tun. Und ein Gedanke ließ mich nicht ruhen: Wenn Erramun und seine Sippe hinter all dem gesteckt hatten, auf welche Weise waren dann Farran und meine Schwester Audra in die Verschwörung verwickelt? Hatten sie überhaupt eine Rolle dabei gespielt?
Meine Gedanken schienen sich Auberon mitgeteilt zu haben, denn er schüttelte sacht den Kopf. »Wir werden alles erneut überprüfen«, sagte er leise. »Möglicherweise haben wir uns ja geirrt.«
Möglicherweise. Hoffentlich.
In den nun folgenden Wochen verwandelte sich die sonst so stille und beschauliche Zeit des hohen Winters in eine aufreibende, kräftezehrende und höchst turbulente Hatz, in der wir die Dämonenreiter in ihren Schlupfwinkeln aufspürten und endgültig aus dem Elfenland vertrieben.
Durch die Verhöre, die Izar und der König mit eiserner Hand und aller Härte geführt hatten, wussten wir, wer in diese unglaubliche Verschwörung gegen unser Volk und unseren König verwickelt war, und konnten so nach und nach die Dämonen töten oder zumindest in ihr eigenes Reich zurücktreiben. Erramun und seine Mitverschwörer hatten sich mit den Dämonen verbündet, um mit ihrer Hilfe Aufruhr im Elfenland zu stiften. Auf dem Winterjahrfest sollte dann Auberon getötet werden, der Augenschein sollte mich belasten, und in dem nachfolgenden Chaos hätten dann die Verschwörer mit einer Armee von Dämonen das Elfenreich in ihre Gewalt gebracht.
Den flüchtigen Erramun, dessen Dämonenreiter allem Anschein nach der Anführer der Dämonenarmee gewesen war, stöberten wir schließlich durch Hilfe von unerwarteter Seite auf.
Der Magier hatte sich im Schattenwald versteckt gehalten, er war dort in Ivaylos leer stehendem Elternhaus untergekrochen. Einer der Bewohner des Waldes, die normalerweise uns Elfen gegenüber zwar freundlich, aber doch reserviert gesinnt waren, hatte uns den Hinweis zukommen lassen, wir möchten ihnen den ungebetenen Gast vom Halse schaffen, da seine Anwesenheit Unruhe im Wald schüfe.
Ich ritt mit Izar und einer Handvoll Jäger also zum Schattenwald und unser Informant geleitete uns zu Erramuns Versteck. Die Festnahme ging so reibungslos vonstatten, dass ich noch Muße fand, mich mit dem jungen Mann zu unterhalten, der sich nicht ganz unerwartet als ein alter Freund Ivaylos entpuppte. Ich berichtete ihm von meinem Neffen und den Geschehnissen der letzten Jahre, und er bat mich, seinem Freund die herzlichsten Grüße zu bestellen und ihm auszurichten, Calixto habe ihn nicht vergessen.
Mit dem in kaltes Eisen geschlagenen, durch Feensilber gebannten Erramun ritten wir durch den schmelzenden Schnee des ersten Frühlings zurück zum Königsstein. Die Verschwörung war gescheitert, ihre Anhänger festgesetzt oder getötet worden, und da Auberons Friedensangebot bei König Trond und seinem Sohn Vetle auf mehr als offene Ohren gestoßen war, konnten wir nun darangehen, gemeinsam mit dem Zwergenvolk Pläne auszuarbeiten, wie wir künftigen Bedrohungen aus dem Dämonenreich einen Riegel vorschieben konnten.
Über all dem vergaß ich nicht, immer wieder nach meinem Neffen und meiner Nichte zu sehen. Auberon verübelte es mir nicht, dass ich gegen die heilige Regel verstieß, in die ich mich so lange gefügt hatte, ohne aufzubegehren. Vielmehr zeigte er Sorge für meine Familie, als wäre es seine eigene, und festigte dadurch nur noch mehr meine Hingabe an ihn.
Die beiden jungen Elfen waren durch die Geschehnisse im Dämonenreich schwer gezeichnet worden. Alanas verbrannte Hand schmerzte unablässig, und selbst die Künste der besten Heilerinnen im Land konnten ihr nicht die Beweglichkeit der Finger zurückbringen, ganz zu schweigen von dem Anblick, den die vernarbte, deformierte Hand auch nach einigen Wochen der Heilung bot ‒ und aller Voraussicht nach auch in Zukunft bieten würde. Alana war verkrüppelt und entstellt, und ich konnte nur ahnen, was das für die hübsche, fröhliche und tapfere junge Elfe bedeuten musste.
Ivaylo war weniger stark getroffen worden, zumindest, was seine körperlichen Verletzungen betraf. Sein Bein heilte trotz der Dämonenbisse erstaunlich gut. Es waren große Narben zurückgeblieben und er würde wohl zeit seines Lebens einen hinkenden Gang behalten, doch das schien ihn nicht zu berühren.
Viel schwerer wogen die seelischen Verletzungen, die sein Dämonenreiter ihm zugefügt hatte und die ungleich langsamer heilten als das verletzte Fleisch. Hier war es vor allem Alanas Gegenwart zu verdanken, dass er sich nach und nach von seinen bösen Erinnerungen befreien konnte. Alanas zuversichtliches Wesen, ihr heiteres Temperament und auch ihre Sanftmut schienen Ivaylo immer mehr vergessen zu machen, was er unter der Herrschaft seines Dämonenreiters erlebt und erlitten hatte.
Es machte mich unerwartet glücklich, dass auch wir uns in der Zeit seiner körperlichen Genesung erneut einander nähern konnten und er zum ersten Mal, seit wir uns kannten, wirklich Vertrauen zu mir fasste. Einzig die Frage, was mit seinen Eltern geschehen war ‒ ein Umstand, der mir Schuldgefühle und große Pein verursachte, obwohl es niemals in meiner Macht gelegen hatte, das verhängte Urteil zu verhindern ‒, schnitten wir kein einziges Mal an.
Meine Nichte Alana begegnete mir bis zu ihrer Abreise allerdings nach wie vor reserviert und mit gelindem Misstrauen. Sie schien es kaum glauben zu wollen, dass ich wirklich der Bruder ihrer Mutter war, und ich bemerkte, dass meine Gegenwart ihr nicht durchweg angenehm war.
Alanas Reise war ein Thema, das Auberon, Daina und ich lange und heftig diskutiert hatten, während Sverre schweigend und rauchend neben uns saß und lauschte. Er war mit dem Vorschlag zu mir gekommen und ich hatte ihn nach kurzer Überlegung für gut und vernünftig befunden.
»Sie leidet an einer schweren Steinverbrennung«, sagte Sverre zu mir. »Eure Elfenheilerinnen verfügen über bemerkenswerte Fähigkeiten, einen versehrten Körper dazu zu bringen, sich zu regenerieren. Aber diese Art der Verbrennung ist euch fremd und eure Heilkräfte sind damit überfordert. Dies ist Steinmagie, Kerkermeister. Das ist nicht euer Fachgebiet, sondern das unsere!«
Ich rügte mit einem Lächeln, dass er mich scherzhaft immer noch mit diesem Namen belegte. In den vergangenen Wochen hatte ich den knurrigen Humor des Zwergenmagiers wirklich zu schätzen gelernt ‒ von seinen beachtlichen Fähigkeiten, mit denen er wahrlich nicht hausieren ging, ganz zu schweigen.
Ich trug seinen Vorschlag an Daina heran und sie reagierte erwartungsgemäß heftig und ablehnend darauf. Auberon, der große Anteilnahme an dem Schicksal der beiden jungen Elfen zeigte, mischte sich in unseren Disput und ergriff Partei für Sverres und meine Argumentation.
»Alana leidet sehr unter ihrer Verstümmelung«, gab er zu bedenken. »Ich habe sie inzwischen recht gut kennengelernt und weiß, dass sie niemals jammern oder klagen würde, dazu ist sie zu tapfer und auch zu gescheit. Aber die Schmerzen, die sie erleidet, und der Anblick dieser verbrannten Hand sind etwas, das sie nur schwer ertragen kann. Sie ist sehr still geworden.«
Daina senkte den Kopf. Ich ahnte die Tränen, die ihre Wangen netzten. »Denkst du, das weiß ich nicht alles?«, fragte sie. »Ich bin ihre Mutter, König Auberon.«
Aber seine Worte schienen sie erreicht zu haben, denn sie erteilte die Erlaubnis, wenn auch schweren Herzens, dass Alana in Sverres Obhut zur Kronfeste reisen und sich in die Hände der dortigen Gelehrten begeben durfte.
Sverre nahm Daina beiseite und sprach leise mit ihr. Ich hörte, wie er ihr versicherte, dass er Alana behüten würde wie seine eigene Tochter und dass er alles zu tun gedenke, das Leid der Elfe zu lindern und ihre Hand zu heilen.
Daina erschien mir bedrückt und erleichtert zugleich. Bedrückt, weil sie Alana in fremde Obhut geben musste, aber auch erleichtert, weil sie nun nach Hause fahren und sich dort um ihre Familie kümmern konnte, die schon lange vor ihr auf das Gut zurückgekehrt war.
Alana reiste zum Ende des Winters mit Sverre und im sicheren Geleit einer Schar Jäger ab. Sie konnte die Zügel nicht halten, deshalb sollte sie immer abwechselnd einer der Jäger vor sich in den Sattel nehmen. Der Anblick ihrer zerbrechlichen Gestalt in den Armen einer jungen Jägerin, als sie aus dem Hof ritten, und ihres schmal gewordenen Gesichts mit der beinahe durchsichtigen Haut, in dem groß und schmerzerfüllt ihre schönen, bernsteinfarbenen Augen lagen, brach mir beinahe das Herz. Sie war seit diesem Winter kein Kind mehr, sondern eine starke junge Elfe, die ihr Schicksal mit Tapferkeit und Würde zu tragen verstand.
»Kehre gesund und stark zurück«, flüsterte ich einen Segenswunsch. Ich stand noch lange im schneidenden Wind auf einem der Türme und sah den Reitern nach, wie sie sich den Weg durch den schmelzenden Schnee bahnten, ehe der dunkle Wald sie verschluckte.
Der Winter ging und der Frühling kehrte ein. Die letzten Dämonenreiter wurden vertrieben, getötet oder gefangen genommen. Erramun und seine Sippe warteten gebannt und hinter Riegeln und Schlössern auf ihre Verurteilung ‒ und dieses Mal würde ich mich für niemanden verwenden. Ob ihnen nun der Tod drohte oder die ewige Verbannung, ich wünschte ihnen keine Milde.
Zu Beginn der Fliederblüte kehrte ich von einer längeren Unternehmung zurück, erstattete wie gewohnt meinem Herrn Bericht, wunderte mich ein wenig über seine schlecht verhohlene Freude, die ich kaum meiner Rückkehr zuschreiben konnte, und besuchte dann nach einer kurzen Ruhepause meinen Neffen, um mich nach dem Fortgang seiner Genesung zu erkundigen.
Ich betrat das Gartenzimmer, in dem er untergebracht worden war, und fand ihn nicht allein. Eine junge Elfe saß an seiner Seite, hochgewachsen und schlank, mit einer Fülle dunkelblonden Haars, das weit über ihren Rücken fiel. Erst als sie sich zu mir umwandte, erkannte ich meine Nichte Alana. Sie sah mich an, und zum ersten Mal war da kein Misstrauen, keine Reserviertheit, sondern nur Sonnenschein und Lächeln, Freude, mich zu sehen.
»Onkel Munir«, sagte sie mit ihrer melodiösen Stimme, »du bist zurück.«
So hatte sie mich noch nie zuvor genannt. »Das Gleiche wollte ich gerade zu dir sagen«, erwiderte ich herzlich. Ich ging zu ihr, und sie hob mir ganz selbstverständlich ihr Gesicht entgegen, damit ich ihr einen Kuss auf die Wange drücken konnte. Es berührte mich eigenartig, das zu tun. Wie lange schon hatten meine Lippen niemanden mehr küssen dürfen?
Ivaylo räusperte sich laut. »Ich bin auch noch da«, sagte er vorwurfsvoll. Ich sah ihm an, wie glücklich er war, mit Alana wieder vereint zu sein. Ihre Hände suchten und fanden sich, um sich ineinander zu verschränken. »Ich habe gerade zu ihr gesagt, dass wir ein schönes Pärchen sind«, fuhr er fort. Seine dunklen Haare sträubten sich ein wenig, wie immer, wenn ihn etwas bewegte. »Ich habe ein Hinkebein und sie eine Hinkehand.« Er lachte laut über den nicht besonders guten Witz, und Alana stimmte fröhlich ein.
Ich sah sie fragend an. »War dein Aufenthalt bei den Zwergen nicht von Erfolg gekrönt?«, fragte ich besorgt.
Alana zwinkerte mir zu. Ihr Gesicht war nicht mehr so blass und kränklich, und die Linien, die der dauernde Schmerz gezeichnet hatte, waren beinahe gänzlich verschwunden. »Der Zwergenprinz und seine Leute haben sich sehr um mich bemüht«, sagte sie. »Schau, Onkel Munir.« Sie hob ihre verletzte Hand, die von einem dünnen Handschuh aus Fischleder bedeckt war. Der Anblick erweckte ungute Erinnerungen, aber Sverre hatte mir schon erklärt, dass dieses papierdünne Material nicht nur einen guten Schutz gegen die Energie der ungebundenen Steine bot, sondern dass es auch die Schmerzen einer Steinverbrennung zu lindern vermochte.
Alana streifte den Handschuh ab und ich betrachtete staunend und beinahe ehrfürchtig ihre heilende Hand. Dann sah ich in ihr Gesicht und erkannte das Glück darin. Sie bewegte ihre Finger ‒ wenn auch vorsichtig und noch ein wenig steif ‒ und drehte die Hand vor meinen Augen. Das war kein unförmiger Klumpen vernarbtes Fleisch mehr, sondern eine ganz normale Elfenhand mit schlanken Fingern. Erst beim genaueren Hinsehen fiel mir die seltsam perlmuttschimmernde Haut auf, die ihre Hand bis zum Gelenk bedeckte.
Auf meinen fragenden Blick hin antwortete Alana, erneut den Handschuh überstreifend: »Sie ist noch nicht vollständig geheilt, Onkel. Ich werde wohl noch einmal zur Kronfeste reisen müssen, aber dieses Mal nehme ich Ivaylo mit.« Sie lächelte dem jungen Elfen zu und drückte seine Hand. »Sverre und Prinz Vetle haben uns um unsere Hilfe gebeten. Es sind Zwerge in der Feste, die von einem Dämonenreiter besessen sind, und da wir so tief wie noch niemand zuvor in das Reich der Dämonen eingedrungen sind, können wir den Gelehrten vielleicht helfen, die Armen zu befreien.«
»Alana ist immerhin die Erste, der es gelungen ist, einen Gefangenen von dort zurückzuholen«, setzte Ivaylo hinzu. Das Lächeln schwand bei diesen Worten aus seinem Gesicht.
Alana wandte sich zu ihm und umarmte ihn. Er barg sein Gesicht an ihrer Schulter. Ich betrachtete die beiden voller Rührung.
»Kannst du inzwischen wieder reiten?«, fragte ich, um Ivaylo von seinen bösen Gedanken abzulenken. Meine Frage war vielleicht nicht allzu taktvoll, aber sie tat die gewünschte Wirkung.
Ivaylo löste sich aus Alanas Armen und schnaubte. »Reiten? Mit dem Bein? Ich werde mich wahrscheinlich in einer dieser verfluchten Kutschen durchrütteln lassen müssen wie ein Greis!
Alana drückte tröstend seine Hand. »Ich begleite dich«, sagte sie. »Du musst das nicht alleine aushalten.« Ihre Blicke verschränkten sich ineinander, und ich sah, dass sie mich und die restliche Welt vollkommen darüber vergaßen.
Ich ließ die beiden allein.