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DREIHUNDERT MEILEN NORDÖSTLICH VON TAIWAN

GEGENWART

Die Canberra Swift segelte von Taiwan mit Kurs nach Norden durch die Nacht. Sie war ein mittelgroßes Frachtschiff mit hoher Bordkante und einem aerodynamischen Schild, der die vordere Hälfte des Schiffes überdeckte. Die Kommandobrücke erhob sich hinter dem Schild etwa in der Mitte des Schiffes, während dahinter zwei scharf nach achtern geneigte Schornsteine aufragten.

Ein führendes nautisches Magazin beschrieb ihr Äußeres als nach nautischen Gesichtspunkten unattraktiv, wenn nicht gar hässlich und meinte, sie sehe aus, als hätten ein japanischer Bullet Train und eine hochseetüchtige Fähre gemeinsam einen Nachkommen gezeugt. Aber die seltsame Form hatte ihren praktischen Sinn.

Das Schiff war dafür konstruiert, überdimensionale Fracht in Roll-on/Roll-off-Konfiguration ähnlich einer Fähre zu transportieren. Fracht und Ausrüstung wurden über eine Rampe, die etwa sechs Fahrspuren breit war, vom Heck aus in das Schiff eingeladen. Geparkt oder gelagert wurde die Fracht in einer riesigen durchgehenden Ladehalle, die sich auf dem Hauptdeck vom Bug bis zum Heck erstreckte. Am Bestimmungsort angekommen, konnte die Fracht dann einfach über eine andere Rampe nach vorn aus dem Schiff herausgefahren werden.

Wegen ihrer Größe, ihrer äußeren Form und ihrer Geschwindigkeit war die Canberra Swift eingesetzt worden, um alles Mögliche – von Rumpfabschnitten von Großraumflugzeugen bis hin zu Raketenteilen und sogar zu radioaktiven Abfällen – durch die Weltgeschichte zu bewegen, Letztere in versiegelten, mit Blei ausgekleideten Spezialcontainern. Sollte ein Krieg ausbrechen, war sie bereits vertraglich verpflichtet, überdimensionales Kriegsmaterial zu Stützpunkten in der Nähe welcher Kriegsgebiete auch immer zu bringen.

Aufträge wie diese wurden an die Swift nicht nur deshalb vergeben, weil sie für den Transport ungewöhnlicher Lasten konstruiert worden war, sondern auch weil sie – wie ihr Name andeutete – eins der schnellsten Frachtschiffe war, die je auf Kiel gelegt worden waren. Sie schaffte vierzig Knoten im Sprint-Modus und fünfunddreißig im Dauerbetrieb. Sie konnte den Pazifik in sieben Tagen überqueren, also in einem Drittel der Zeit, die ein Containerschiff mit durchschnittlicher Leistung brauchte.

Der Kapitän der Canberra Swift stand auf der Kommandobrücke und studierte das Radar. Kein anderes Schiff, dem besondere Aufmerksamkeit hätte geschenkt werden müssen, war in der Nähe zu sehen. »Volle Kraft voraus«, befahl er. »Ein Sturm ist an der kanadischen Küste entlang von Alaska zu uns unterwegs, und ich würde die Bucht von San Francisco gern noch vor ihm erreichen.«

Der Rudergänger bestätigte den Befehl mit einem Kopfnicken und leitete ihn an den Maschinenraum weiter, wo die Gasturbinen auf maximale Reiseleistung geschaltet wurden.

Nachdem der Maschinenraum geantwortet hatte, lächelte der Kapitän zufrieden. Er wandte sich an seinen Ersten Offizier. »Das Schiff gehört Ihnen. Ich bin in meiner Kabine, wenn Sie mich brauchen sollten.«

Der Erste Offizier nickte, während der Kapitän die Kommandobrücke verließ. Er ließ sich in den Kommandosessel sinken, während die Canberra Swift Tempo zulegte.

Mit magnetischen Hand- und Knie-Pads auf der Außenseite des Schiffes klebend, konnte Teng Kung-Lu – für seine Männer nur Lucas – dem Zuwachs an Geschwindigkeit nicht allzu viel Positives abgewinnen. Die elektromagnetische Kraft, die ihn an Ort und Stelle fixierte, mochte beachtlich sein, aber jedes bisschen an zusätzlicher Geschwindigkeit verstärkte den böigen Fahrtwind noch, der den magnetischen Halt schwächen konnte.

Er zog sich dicht an den Rumpf heran und tat alles, was er tun konnte, um zu verhindern, dass sich der Luftstrom zwischen ihn und das Schiff schob. Das Gesicht aus dem Wind drehend, blickte er zur Seite und nach unten. Die acht Männer seines Teams machten das Gleiche, was er tat, indem sie wie Wasserschnecken am Schiffsrumpf klebten. Jeder war schwarz gekleidet, und ihre Maschinenpistolen waren unter breiten Klettbandstreifen gesichert.

Er konnte die Anstrengung in ihren Armen erkennen und die Anspannung in ihren Gesichtern, da diese Phase des Überfalls schon viel länger dauerte als beabsichtigt.

Er blickte nach oben und zählte die Sekunden, bis die Hauptbeleuchtung des Schiffes schließlich erlosch. Die dritte Wache hatte begonnen. Mit dem Daumen aktivierte er einen Lichtpunkt im Magnet-Pad unter seiner linken Hand. Drei Punkte waren ein Befehl, die Kletterpartie fortzusetzen. Sie müssten sich beeilen, den Rumpf hinter sich zu bringen, ehe der Wind sie von dort herunterwehte.

Mit dem rechten Daumen drückte er auf einen Knopf, der mit einer Manschette verbunden war, die seinen rechten Arm umschloss. Der Magnet wurde ausgeschaltet, sodass er ihn vom Schiffsrumpf lösen und weiter nach oben schieben konnte. Nachdem er sich so weit wie möglich gestreckt hatte, ließ er den Knopf wieder los.

Der Elektromagnet zog seinen Arm sofort auf die Stahlplatte zurück, wo er sich in Position festsaugte. Indem er einen zweiten Knopf drückte, konnte er sein rechtes Bein nach oben schieben. Danach wiederholte er diese Prozedur auf der linken Seite. Langsam, aber stetig kletterte er zu einer Luke hinauf.

Seine Männer folgten seinem Beispiel. Sie waren wie eine Ameisenfamilie, die zum Zuckervorrat innerhalb des Schiffes wollte. Als er die Luke erreichte, wagte er es, die linke Hand lange genug von der Rumpfwand zu lösen, um gegen den Stahl zu klopfen. Nichts geschah. Er klopfte lauter, indem er den metallenen Teil der Manschette benutzte und ein lautes Klirren erzeugte.

Diesmal hörte er etwas. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, dann wurde innen an einem Rad gedreht. Gott sei Dank, dachte Lucas.

Eine Luke, groß genug, um eine Laufplanke hineinzuschieben und auf diesem Weg die Schiffsvorräte aufzufüllen, schwang nach innen, als die Luke geöffnet wurde. Ein Mannschaftsmitglied, das die Uniform der Schifffahrtslinie trug, erschien. Der Mann hatte schwarzes Haar, mit einem seltsamen weißen Streifen in der Mitte. Er sah Lucas fragend an und reichte ihm eine Hand.

Lucas ergriff sie, löste den anderen Magneten und wurde ins Schiff gezogen. Das Mannschaftsmitglied zog sich in den Schatten zurück, während Lucas seinen Männern nacheinander durch die Lukenöffnung in den Schutz eines kleinen Abteils half.

Alles ging gut, bis zum letzten Mann. Dieser Mann schaltete seinen Magneten ein wenig zu früh aus. Sein Bein rutschte ab, und er stürzte.

Lucas streckte sich und bekam den Gurt seiner Maschinenpistole zu fassen. Die Waffe verklemmte sich unter der Schulter des Mannes und verhakte sich dort sogar, während Lucas an Deck gezogen wurde und fast aus der Lukenöffnung rutschte.

»Callum!«, rief Lucas. Trotz ihrer chinesischen Herkunft wählten die Mitglieder seiner Gruppe ausnahmslos westliche Namen, wenn sie zusammenkamen. Niemand kannte den anderen bei einem anderen Namen, sodass sie im Fall einer Gefangennahme keinen ihrer Gefährten verraten konnten.

»Fass noch mal nach!«, rief Lucas. »Benutz die Koppler.«

Als er erkannte, dass Callum starr vor Angst war und befürchtete, über den Rand der geöffneten Luke gezogen zu werden, schaltete Lucas sein eigenes Magnetsystem ein und sicherte sich auf dem Deck.

»Klettere über mich hinweg«, rief er.

Der Mann schaute hoch.

»Beeil dich«, sagte Lucas, »bevor du mir den Arm ausrenkst.«

Mit mehreren anderen Männern, die sich bereithielten, um zu helfen, zog sich Callum hoch, wobei er Lucas als Strickleiter benutzte. Sobald sie an ihn heranreichen konnten, packten sie Callum und zogen ihn durch die Lukenöffnung ins Schiff.

Lucas entspannte sich, schaltete die Magneten aus und zog sich von der Luke zurück. Callum bot ihm eine Hand an und half ihm auf die Füße.

Seine Schulter massierend und sich streckend, rutschte Lucas näher an Callum heran. »Das war ziemlich dumm«, sagte er und musterte den Mann, der beinahe abgestürzt wäre. »Wenn du noch mal so nachlässig bist, lasse ich dich sterben.«

Die Worte klangen hart, aber die Männer wussten es besser. Lucas war der Anführer einer Bande von Brüdern – Piraten, die sich umeinander sorgten. Im Gegensatz zu dem berühmten alten Piraten-Kodex hatte Lucas noch nie einen seiner Männer im Stich gelassen.

Callum senkte den Kopf und wagte nicht, ihn anzusehen. Er schämte sich. Während er zurücktrat, wandte sich Lucas an den Mann, der sie hereingelassen hatte. »Du hattest dich verspätet.«

»Es ging nicht anders«, sagte das Mannschaftsmitglied. »Der Kapitän blieb eine halbe Stunde länger als üblich auf Wache. Jetzt liegt er in seiner Koje und schläft.«

Lucas nickte. »Gibt es noch etwas, das wir wissen sollten?«

Das Besatzungsmitglied schüttelte den Kopf. »Die Sicherheitssysteme sind lahmgelegt. Ihr solltet keine Probleme haben, in den Maschinenraum oder in die Funkzentrale zu gelangen.«

»Gut«, sagte Lucas. Er schickte drei Männer in den Maschinenraum und zwei weitere in die Funkzentrale, wo sich die Satellitenempfänger, die Multiband-Funkgeräte sowie die Kontrollen für die diversen automatischen Peilsender befanden.

Indem er sich zu dem Mannschaftsmitglied der Swift umwandte, nahm er eine Änderung vor. »Nimm einen meiner Männer mit und sucht das Quartier des Kapitäns auf. Weckt den alten Mann auf und bringt ihn zu mir.«

»Ich hatte angenommen, du wolltest, dass ich dich zur Kommandobrücke führe.«

»Ich denke, die können wir auch ohne deine Hilfe finden.«

Die verschiedenen Gruppen verließen den Raum in unterschiedliche Richtungen. Lucas gab Callum ein Zeichen, ihn zu begleiten. Sie steuerten auf die nächste Treppe zu.

Mit einer lässigen Bewegung hob Lucas den Klettbandstreifen hoch, der seinen Leib in Taillenhöhe bedeckte. Ohne aus dem Tritt zu kommen, holte er eine QCW -05-Maschinenpistole darunter hervor, die quer über seine Brust geschnallt war. Er hängte sich die Waffe griffbereit über die Schulter und schraubte einen zylinderförmigen Kompressor auf den Lauf.

Die chinesische QCW verfeuerte 5,8 mm-Unterschallgeschosse, die aus gehärtetem Stahl anstatt aus weichem Blei hergestellt wurden. Sie konnten Stahl, der ein viertel Zoll dick war, durchschlagen.

Lucas hatte seine Männer darin ausgebildet, sie mit möglichst tödlicher Wirkung zu benutzen, aber wenn alles wie geplant ablief, brauchten sie keinen einzigen Schuss abzufeuern.

Als sie die Kommandobrücke erreichten, trafen sie dort den Ersten Offizier der Swift sowie zwei Mannschaftsmitglieder am Ruderstand an. Auf die Theatralik verzichtend, in den Raum zu platzen und lautstark wilde Drohungen auszustoßen, trat Lucas ruhig über die Schwelle und räusperte sich, um sich bei jedem bemerkbar zu machen.

Die Männer auf der Kommandobrücke reagierten mit Gletschergeschwindigkeit. Ihre Überraschung über das Erscheinen bewaffneter Männer in Kampfkleidung war so vollständig, dass sie vor Verwirrung erstarrten.

»Legen Sie sich lieber lang auf den Boden«, sagte Lucas vollkommen ruhig, »wenn Sie nicht in Fetzen geschossen werden wollen.«

Die beiden Mannschaftsdienstgrade gehorchten. Der Erste Offizier schien in seinem Sessel zu kleben. Schließlich brachte er es fertig zu sprechen. »Wir haben Bargeld im Safe«, sagte er, hob die Hände, rutschte aus dem Sessel und sank auf ein Knie. »Er ist offen.«

»Natürlich ist er das«, sagte Lucas.

Der Mangel an Gegenwehr und ein unverschlossener Safe zeugten von dem aktuellen Zustand der modernen Piraterie. Eine unausgesprochene Übereinkunft zwischen den verschiedenen Piraten der Welt und den Schifffahrtslinien, deren Frachter die Weltmeere durchfuhren, hatte sich im Laufe der Zeit entwickelt.

Piraten kamen an Bord der Schiffe, wann und wo sie konnten. Gewöhnlich in vielbefahrenen Küstengewässern in der Nähe armer, instabiler Nationen. Anstatt sie abzuwehren und Tod und Vernichtung zu riskieren, versteckten Offiziere und Mannschaften sich oft in Safe Rooms oder Festungen , zu denen die Piraten sich keinen Zugang verschaffen konnten, die ihnen jedoch erlaubten, die Schiffe in Ruhe nach Bargeld oder anderen Wertgegenständen zu durchsuchen. Safes wurden offen gelassen und enthielten einen mittleren Geldbetrag. Gerade genug, um die Piraten zufrieden zu stellen und zu veranlassen, das jeweilige Schiff so schnell wie möglich zu verlassen. Gelegentlich wurden Mobiltelefone und Laptops benutzt, um das Bestechungsgeschenk abzurunden, das wie ein Teller Weihnachtskekse für den Nikolaus bereitlag.

Der Deal war simpel. Piraten misshandelten oder töteten keine Schiffsbesatzungen oder stahlen keine Ladungen, die Millionen wert waren, und sie beschädigten auch nicht die Schiffe. Als Gegenleistung sicherten die Schifffahrtslinien ihr schwimmendes Kapital nicht mit bewaffneten Wächtern, insbesondere ehemaligen Angehörigen der Special Forces oder des israelischen Mossad.

Das System ähnelte eher einem Bestechungsgeschäft oder einer Schutzgelderpressung, und es funktionierte in den meisten Fällen. Aber nicht immer.

Während er in die Mündung der Waffe starrte, dämmerte dem Ersten Offizier, dass dies eine dieser seltenen Gelegenheiten war. Er studierte Lucas und seine Kameraden, begutachtete ihre Kleidung und ihre Waffen und bewertete im Stillen die professionelle Heimlichkeit, mit der sie an Bord gelangt waren. »Sie sind nicht hier, weil Sie Geld haben wollen«, stellte er fest. »Oder?«

Lucas ignorierte die Frage. »Rufen Sie die anderen Offiziere auf die Brücke«, verlangte er. »Und versuchen Sie nicht, sie über unsere Anwesenheit zu informieren. Wir kennen Ihre Code-Wörter für Sicherheitsbedrohungen.«

Der Erste Offizier erhob sich langsam und ging zur Steuerkonsole. Er schaltete die schiffsweite Sprechanlage ein und sendete seine Botschaft. »Hier spricht der Erste Offizier. Alle Offiziere melden sich sofort auf der Kommandobrücke zur Stelle. Wir haben neue Befehle erhalten.«

Während seine Stimme aus den Lautsprechern des Schiffes drang, lag in Crawfords Augen ein inständiges Flehen. »Ich musste ihnen einen Grund nennen«, versuchte er, seine zusätzlichen Worte zu rechtfertigen.

Lucas nickte. »Zumindest haben Sie nicht gelogen.«