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»Ein großes und wichtiges Schiff wird vermisst.«

Diese Worte kamen aus Rudi Gunns Mund, der Stellvertretender Direktor der Operationsabteilung der NUMA war. Seine Erscheinung füllte den HD -Bildschirm im Funkraum der Sapphire .

Rudi Gunn maß nicht mehr als eins fünfundsechzig, aber wie zahlreiche Schauspieler von geringer Köpergröße hatte er eine Ausstrahlung, die ihn bedeutend größer erscheinen ließ. Dies machte sich bemerkbar, wenn man ihm persönlich begegnete, aber während der Videokonferenz füllte er den Bildschirm ebenso aus, wie es ein junger Marlon Brando oder Paul Newman fertiggebracht hätten. Allerdings mit Hornbrille und ohne die Andeutung eines süffisanten Grinsens.

»Die Canberra Swift «, fuhr Rudi fort. »Sie befand sich gerade am Beginn einer Passage zwischen Taiwan und San Francisco.«

Kurt warf einen kurzen Blick auf ein Datenblatt, das sie heruntergeladen und ausgedruckt hatten. Auf dem Papier war aufgeführt, was die NUMA wusste und was nicht. Leider war die zweite Liste wesentlich umfangreicher als die erste.

Er sah, dass die Swift ein modernes Fünfzigtausend-Tonnen-Schiff mit sechsundzwanzig Mann Besatzung war. Das Verschwinden eines solchen Schiffes wurde normalerweise zum Hauptthema aller Nachrichtensendungen weltweit.

»Warum haben wir noch nichts davon gehört?«, fragte Joe, der den Platz neben Kurt einnahm.

»Weil die NSA und das Pentagon es so wollten«, sagte Rudi mit entwaffnender Offenheit.

»Geht das schon wieder los?«, flüsterte Joe.

Rudi fing die Bemerkung auf und ging sofort auf Konfrontationskurs. »Was war das, Zavala?«

»Ich sagte … gut zu wissen.« Joe grinste von einem Ohr zum anderen, während er die Frage beantwortete.

»Was sonst«, erwiderte Rudi. »Nur eine kleine Vorwarnung. Die Mikrofone auf der Jacht sind um einiges empfindlicher als die alten Dinger auf unseren anderen Schiffen. Überlegen Sie sich lieber vorher, was Sie vor sich hin murmeln. Sie wollen doch nicht, dass Ihr Boss erfährt, wie Sie tatsächlich über ihn denken, oder?«

»Auch das ist gut zu wissen«, meinte Kurt lachend. »Aber zurück zu dem vermissten Schiff. Weshalb verschweigt die NSA das Verschwinden eines Allerweltsfrachters? Was hatte er denn geladen?«

»Acht der höchstentwickelten und leistungsfähigsten Servereinheiten, die je gebaut wurden«, sagte Rudi. »Konstruiert von der Hydro-Com Corporation in Silicon Valley, zusammengeschraubt in Taiwan und unterwegs zur Westküste. Sie haben ihnen den Namen Vector Units gegeben, und es sind im Grunde nichts anderes als unglaublich leistungsfähige Computer, jeder so groß wie ein VW -Bus und in der Lage, Milliarden von Transaktionen innerhalb von Sekunden durchzuführen. Was aber noch wichtiger ist – sie dürfen nicht nach Russland, China, in den Iran und mindestens ein Dutzend weiterer Länder verkauft werden.«

Rudi tippte auf eine Taste, und das Bild einer der Vector Units erschien auf dem Bildschirm. Sie waren schwarz oder dunkelgrau und hatten eine zylindrische Form, aber mit geraden Seitenflächen. Im Grunde waren es achteckige Tower. In den Seitenflächen befanden sich Sichtschirme und Displays sowie eine Vielzahl faseroptischer Schnittstellen. Andere Verbindungsmöglichkeiten befanden sich jeweils an den Enden der achteckigen Gehäuse.

»Unter normalen Umständen«, fuhr Rudi fort, »hätten diese Maschinen amerikanische Hoheitsgewässer niemals verlassen, aber wir leben mittlerweile im einundzwanzigsten Jahrhundert und müssen hinnehmen, dass aus irgendwelchen strategischen Gründen Computer, die in den USA konstruiert und entwickelt wurden, woanders gebaut und zwecks Installation wieder in die Heimat zurücktransportiert werden.«

Allmählich begann Kurt zu begreifen, weshalb sich die Mächtigen in Washington solche Sorgen machten. »Mal ganz abgesehen von dem Irrsinn, streng geheime Computer nur einhundert Meilen von den Grenzen unseres schlimmsten Feindes entfernt zusammenbauen zu lassen, welchen Sinn hat es überhaupt, uns mit dieser Angelegenheit zu befassen? Wir haben doch sicherlich einige militärische Einheiten in Japan stationiert, die allein schon aufgrund der größeren geografischen Nähe wesentlich besser geeignet sind, eine groß angelegte Such- und Rettungsaktion durchzuführen.«

»Es geht hier nicht um Suchen oder Retten«, erwiderte Rudi. »Wir haben keinerlei Notsignale oder Hilferufe aufgefangen. Das Schiff ist mitten in der Nacht ganz einfach verschwunden. Wir haben heute Morgen Satelliten umdirigiert und die entsprechende Gegend unter die Lupe nehmen lassen, und die Navy hat ein Aufklärungsflugzeug in diese Meeresregion geschickt. Da draußen schwimmen keine Rettungsboote herum, zu sehen sind lediglich ein Ölfleck, der etwa eine Meile lang ist, und mögliche Trümmer oder Wrackteile. Doch es könnte auch nur Abfall sein, der widerrechtlich entsorgt wurde.«

Über diese Information war Kurt sichtlich verblüfft. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Das ergibt irgendwie keinen Sinn. Schiffe sind keine Flugzeuge, Rudi. Sie verschwinden doch nicht einfach in einem Feuerblitz oder brechen plötzlich auseinander und saufen ab. Wenn sie Probleme haben, stoppen sie gewöhnlich die Maschinen, lassen sich treiben und rufen um Hilfe. Und selbst wenn sie sinken, passiert es verdammt selten, dass sie keinen Notruf absetzen oder Überlebende in kleinen orangefarbenen Rettungsbooten zurücklassen. Willst du mir weismachen, dass es keine Überlebenden gibt?«

Rudi blieb ganz ruhig und nickte. »Keine Überlebenden. Keine Notrufe. Keine EPIRB -Signale. Was diesen Feuerblitz betrifft – genau das muss dem Schiff zugestoßen sein.«

»Wie das?«

»Die Canberra Swift ist ein ganz spezieller, besonders schneller Frachter«, erklärte Rudi. »Angetrieben wird sie von zwei Hochdruck-Gasturbinen. Dabei verwendet sie flüssiges Erdgas. Wie Sie sicherlich wissen, kann das Platzen eines LNG -Tanks eine Katastrophe auslösen.«

»Deshalb werden diese Dinger ja auch mit den verrücktesten Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet«, sagte Joe.

»Gibt es irgendwelche Hinweise, dass ein solcher Tank geplatzt sein könnte?«, fragte Kurt.

»Kurz nach zwei Uhr morgens drosselte das Schiff seine Geschwindigkeit von fünfunddreißig auf neun Knoten. Das Meer war ruhig, es herrschte kein nennenswerter Wind. Laut einer Meldung an die Operationszentrale der Firma in Auckland gab es Probleme mit den Gasturbinen, sodass sie kurzfristig auf Dieselantrieb umschalten mussten. Etwa eine Stunde später, als – wie angekündigt – der normale Betrieb wieder aufgenommen werden sollte, verschwand das Schiff vom Radar. Um etwa die gleiche Uhrzeit meldete der Kapitän eines koreanischen Schiffes einen grellen, unerklärlichen Blitz am Horizont.«

»Das klingt nicht gut«, meinte Joe. »Wenn ein LNG -Tank platzt, dann ist es so, als würde das Pulvermagazin eines alten Kriegsschiffes in die Luft fliegen. Es bliebe kaum Zeit, um sich davor in Sicherhit zu bringen. Und ganz sicher gäbe es keine Gelegenheit, einen Notruf abzusetzen.«

»Und genau das scheint hier passiert zu sein«, bemerkte Rudi.

»Was uns zu der Frage bringt«, sagte Kurt, »weshalb wir dorthin geschickt werden? Es bricht mir das Herz, dass von der Mannschaft offenbar niemand überlebt hat, aber helfen können wir ihnen doch nicht mehr. Und was diese Computer betrifft: Wenn das Schiff explodiert ist, weshalb macht die NSA sich dann Sorgen? Selbst wenn die Explosion nur die obere Hälfte des Schiffes zerrissen hat und der Rest zerbrochen und untergegangen ist, würden diese Maschinen allein durch den Wasserdruck in der Tiefe zermalmt und vom Salzwasser in Mitleidenschaft gezogen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in diesem Zustand noch für jemanden einen Nutzen haben könnten.«

Rudi lehnte sich zurück, grinste und nickte. Kurt erkannte, dass ihn eine ganz besondere Überraschung erwartete.

»Das könnte man meinen«, begann Rudi. »Nachdem ich meinen alten Laptop damals mit nicht mehr als einer umgestoßenen Flasche Mineralwasser kaputt bekommen habe, wäre ich geneigt, dir zuzustimmen. Aber diese Computer sind schon ein bisschen was anderes. Sie wurden von Anfang dahingehend konstruiert, dass sie auch unter Wasser funktionieren können. Sie sind eingeschlossen in unter Druck stehenden Hüllen aus Kohlefaser. Kugelsicher, stoßgesichert und ganz gewiss wasserdicht.«

»Warum sollte jemand einen Computer bauen wollen, der auch unter Wasser arbeitet?«, fragte Joe.

»Weil Computer und Server dieses Kalibers in hohem Maß Wärme erzeugen«, erklärte Rudi. »Und je leistungsfähiger sie sind, desto mehr Wärme erzeugen sie auch. Fünfundsiebzig Prozent der Energie, die von Serverfarmen und Supercomputern verbraucht wird, entfallen auf die Kühlsysteme. Bei technisch weniger anspruchsvollen Geräten sind dies starke Ventilatoren und Kühlbleche. Bei den High-End-Geräten sind es Stickstoffpumpen und Flüssigkeitskühlung. Einigen seriösen Schätzungen zufolge verbrauchen sämtliche Computer auf der Welt mehr elektrischen Strom als die Städte New York, London und Abu Dhabi zusammen, um einen Meltdown zu vermeiden. Wie man mir erklärt hat: Je größer und leistungsfähiger das System ist, desto mehr Kühlung ist auch notwendig. Und zwar in einem exponentialen Verhältnis. Verdoppelt man die Leistung des Systems, muss das Vierfache an Wärme abgeleitet werden. Wird die Leistung vervierfacht, braucht man eine sechzehnmal so starke Kühlung. Sie sehen, das Ganze läuft auf einen Prozess des sinkenden Ertrags hinaus.«

»Irgendwann gelangt man zu einem Punkt, an dem die Kühlung des Computers so teuer wird, dass sich ein Leistungszuwachs ganz einfach nicht mehr lohnt«, sagte Joe. »Dann hat man die viel zitierte Wachstumsgrenze erreicht.«

Rudi nickte. »Hydro-Com umgeht dieses Problem, indem sie Server konstruieren, die in tief gelegenen Kaltwasserströmungen installiert werden. Aus eigenen Erfahrungen, die Sie im Zuge Ihrer Missionen in kalten Gewässern wie Seen und Ozeanen gemacht haben, wissen Sie schließlich auch, dass Wasser ein besserer Wärmeleiter ist als Luft, und zwar fünfundzwanzigmal besser. Deshalb können Hydro-Com-Geräte fünfundzwanzigmal schneller arbeiten als konkurrierende Systeme, und dies über deutlich längere Zeiträume hinweg.«

Kurt verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich glaube, ich erkenne langsam, was sich daraus ergibt und wohin das führen wird. Welche Wassertiefe ist den Containern zumutbar?«

»Fünftausend Fuß«, sagte Rudi. »Mit einem zwanzigprozentigen Sicherheitspolster.«

Kurt blickte auf die nautische Karte von der Region, in der die Canberra Swift verschwunden war. Joe tat das Gleiche. Die Schifffahrtsstraße von Taipeh nach San Francisco beschrieb eine Schleife, die im Norden oberhalb von Japan begann, ehe sie nach Westen schwenkte. Dieser weite Kreis verkürzte die Reise um eintausend Meilen, verglichen mit der Route über den Pazifik – oder was auf einer zweidimensionalen Karte wie ein direkter Weg aussah. Was die auf diesem Weg vorkommenden Wassertiefen betraf, so war es ein Ritt auf der Rasierklinge. Vergleichsweise flache Gewässer und ein tiefer Abgrund an Backbord, während Wassertiefen von sechs- bis siebentausend Fuß wenige Meilen entfernt an Steuerbord drohten.

»Wenn wir Glück haben, hat sich die Swift nach links gewendet, ehe sie sank«, sagte Joe.

»Ich habe meine Zweifel, dass wir mit einem solchen Glücksfall rechnen können«, meinte Rudi.

Kurt verließ sich nicht allzu gern auf sein Glück. Dies hielt er sich für den Moment in Reserve, in dem er es wirklich brauchte. »Angenommen, wir finden das Wrack, wie genau sollen wir dann acht Computer, die so groß sind wie Telefonzellen, ohne fremde Hilfe bergen?«

Joe nickte und fügte hinzu: »Um Martin Brody in Der Weiße Hai zu zitieren: ›Wir brauchen ein größeres Schiff.‹«

»Sie brauchen sie gar nicht zu bergen«, sagte Rudi kühl. »Finden Sie die Dinger und überzeugen Sie sich, dass sie dem Wasserdruck nicht standgehalten haben und irreparabel beschädigt sind.«

»Und wenn sie noch immer weitgehend heil und funktionsfähig sind?«

»Sie haben genug Sprengstoff an Bord«, sagte Rudi. »Ich verlasse mich darauf, dass Sie damit umgehen können und wissen, wie Sie ihn einsetzen müssen.«