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OSTCHINESISCHES MEER

Kurt lehnte sich über den Rand der Schwimmplattform der Sapphire , in der Hand hielt er einen langen Bootshaken. Während er sich, so weit er konnte, streckte, schaute er am Rumpf des Boots entlang und betrachtete den Abfall, der daran vorbeitrieb.

»Wie sieht es aus?«, fragte Joe Zavala, der hinter Kurt stand.

»Mehr Plastikmüll, was sonst?«, antwortete Kurt Austin.

Während sich der Müll dem Heck näherte, lehnte sich Kurt mit seinen vollen eins achtzig hinaus, erwischte mit dem Haken einen Zipfel des Plastikmaterials und zog es näher ans Boot heran. Das mit Wasser vollgesogene Gewirr aus dem Ozean zu hieven, war schwieriger, als es auf den ersten Blick aussah, und Kurt musste, als er sich aufrichtete und zurücklehnte, jeden Muskel seines Körpers aufs Äußerste anspannen. Er schwang mit einem Ruck herum und deponierte seinen Fang auf dem Deck.

Joe nahm sofort seinen Platz ein und benutzte einen selbst gebastelten Kescher, um kleinere Trümmerteile aufzufischen und dem wachsenden Abfallhaufen in der Mitte der Schwimmplattform hinzuzufügen.

Kurt bückte sich, um seinen Fund zu untersuchen. Stofffetzen, Plastik, einige Brocken Styropor. Aber nichts, das darauf hinwies, dass der Müll von dem verschwundenen Schiff stammte. »Nach allem, was wir wissen, könnte dieser Mist auch von einem Kreuzfahrtschiff ins Meer gekippt worden sein.«

»Oder er ist nach einem Erdrutsch vom Regen ins Meer gespült worden«, fügte Joe hinzu.

Kurt griff wieder nach dem Kescher und tauchte ihn ins Meer. »Dieses Herumfischen im Trüben wäre einfacher, wenn das Boot für einen Moment still läge.« Er spürte die Belastung in seinen eigenen Muskeln. »Wenn wir jedes Mal anhielten, sobald wir treibenden Abfall entdecken, wären wir während der letzten fünf Stunden keine zwei Meilen weit gekommen. Wir müssen in Bewegung bleiben, damit die Schleppantenne so viel Meeresboden wie möglich überstreicht.«

Joe wusste das, aber er hatte kein Interesse daran, sich einen Muskel zu zerren oder von der Plattform gerissen zu werden, wenn er versuchte, Müll, der an ihnen vorbeischwamm, an Bord zu holen. »Wenn du das meinst, okay, aber dann ärgere dich nicht, wenn du von meinem Orthopäden eine Rechnung kriegst.«

Das Radio neben ihnen meldete sich. »Neues Ziel! «, rief Winterburns Stimme. »Fünf Grad backbord. Ich schätze, etwa tausend Meter entfernt. «

»Eintausend Meter«, staunte Kurt. »Der Junge hat verdammt gute Augen.«

»Er benutzt das LiDAR -System, um nach Abfall zu suchen«, erklärte Joe, »ganz schön clever von ihm.«

LiDAR stand für Light Detection and Ranging. Das System benutzte zwei HD -Kameras mit Zoom-Objektiven, um nach vorne oder nach hinten zu suchen. Weil die Kameras weit voneinander entfernt auf dem Vorderdeck installiert waren, lieferten sie eine stereoskopische Ansicht der Welt, die der Computer auf alle möglichen Erscheinungen – bekannte wie unbekannte – absuchen konnte.

Das System sollte fähig sein, ein Rettungsfloß auf zehn Meilen und einen durchschnittlich großen Trawler auf Horizontweite zu identifizieren. Wenn man das System zur Abfallsuche nutzte, war es ein interessanter Schritt, sich seiner besonderen Fähigkeiten zu bedienen.

Kurt bewunderte den Einfallsreichtum, der diese Idee hervorgebracht hatte. Er ergriff das Sprechfunkgerät und drückte auf die Mikrofontaste. »Nehmt Kurs darauf. Nehmt es an Steuerbord auf, wenn möglich. Sonst kann sich Joe auf beiden Seiten Muskelzerrungen zuziehen.«

Joe lachte. »Das soll sicher ein Scherz sein. Aber wenn ich mich verletze, kannst du die ganze Arbeit allein machen.«

Das Argument hatte etwas für sich, dachte Kurt. Er drückte wieder auf die Taste. »Und nehmt eine Idee Gas zurück. Es gibt keinen Grund zur Eile.«

Die Sapphire änderte den Kurs, schlug eine neue Richtung ein und wurde einen Deut langsamer. Kurt und Joe wechselten auf die andere Seite der Schwimmplattform. Während das Objekt größer wurde, konnten sie mit bloßem Auge einige Details erkennen.

Diesmal stand Joe vorne. »Sieht das für dich wie internationales Orange aus?«

Kurt nickte. Die Farbe war zwar verblasst und fleckig, aber sie entsprach der international vorgeschriebenen Farbe für Notfall- und Rettungseinrichtungen.

Während das Objekt näher kam, schien es zu wachsen. Einmal stieß es gegen den Rumpf der Jacht, als es in ihr Fahrwasser geriet und heftig schaukelte.

»Maschinen stopp!«, gab Kurt über Funk durch.

Die Motorvibrationen ließen schlagartig nach, und die Sapphire trieb im Schneckentempo. Das treibende Objekt stieß noch mehrmals gegen den Rumpf der Sapphire und drehte sich im Wasser, bis es sich mit der Schwimmplattform auf gleicher Höhe befand.

Joe fing es im Netz auf und zog. Kurt suchte eine geeignete Stelle für den Bootshaken und zog ebenfalls. Gemeinsam manövrierten sie das Objekt an die Plattform heran und hielten es in Position. Als die Jacht anhielt, holten sie es ein.

Wie Angler mit einem Sonntagsfang hatten sie etwas am Haken, das für das Deck zu groß war. Zwei Meter lang und zig Zentimeter breit, hatte es die Form eines überdimensionalen Puzzleteils. Es war verbogen und stellenweise angesengt. Als sie es über den Bootsrand hievten, tippte Kurt auf ein Gewicht von nahezu einhundert Pfund.

Joe klopfte mit den Fingerknöcheln gegen das Objekt. »FRP «, sagte er. »Fiber-Reinforced Plastic.«

Kurt untersuchte den Querschnitt. »Zwei Schichten mit hohlem Zwischenraum, der mit wasserdichtem Schaummaterial gefüllt ist.«

»Das stammt von einem Rettungsboot«, lautete Joes Schlussfolgerung.

Kurt nickte. Der Ernst in Joes Stimme entsprach Kurts sorgenvollen Gedanken. Moderne Rettungsboote waren praktisch unzerstörbar. Die Tatsache, dass sie nur ein kleines Bruchstück gefunden hatten, war eine schlechte Nachricht.

Joe ging auf ein Knie hinunter und stellte fest, dass das Teil teilweise mit einem Ölfilm bedeckt war. Mit der Hand säuberte er eine kleine Fläche. Der Name Canberra Swift erschien und darunter in verblassten Lettern die eingestanzte Identitätsnummer des Schiffes.

»Nun«, sagte Joe und schaute hoch, »zumindest wissen wir jetzt, dass wir am richtigen Ort suchen.«

Kurt studierte das Bruchstück eingehender. Risse verliefen über seine Oberfläche, als sei es mit Gewalt gebogen worden, ehe es vom Rettungsboot abgebrochen und in seine alte Form zurückgeschnellt war. Die Oberfläche des geschmolzenen Plastikmaterials fühlte sich rau an, als ob winzige Haken aus der zuvor glatten Oberfläche herausragten. »Fällt dir dazu etwas ein?«

»Blitzartig erhitzt und schockgefroren«, sagte Joe. »Das Ding flog aus einer Bratpfanne heraus, aber nicht ins Feuer. Ich würde meinen, es landete im kalten Ozean und erstarrte sofort in der Form, in die es sich verkrümmt hatte.«

Kurt gab sich mit Joes Analyse zufrieden. Die Explosions-Theorie erschien mit jeder Sekunde plausibler. Und doch war etwas nicht so, wie es hätte sein sollen. Vorläufig behielt Kurt diesen Gedanken für sich.

Er erhob sich und suchte den Horizont ab. Die Sonne stand niedrig. Das Wasser färbte sich dunkel, während auf seiner Oberfläche goldgelbe und platinweiße Streifen funkelten. Er hatte Mühe, nach Westen zu blicken und irgendetwas zu erkennen, obwohl er eine Sonnenbrille mit polarisierten Gläsern trug.

»Das Tageslicht lässt langsam nach«, stellte er fest. »Ich räume hier oben auf. Sieh zu, dass du diesen Fund irgendwo sicher unterbringst, und dann erkundige dich bei Stratton, was das Sonar sagt. So können wir jetzt am ehesten etwas von Bedeutung finden.«

Während Joe das orangefarbene Trümmerteil des ehemaligen Rettungsboots hereinholte, schaltete Kurt das Sprechfunkgerät ein. »Winterburn, haben Sie noch etwas anderes am Horizont gesehen?«

»Nee «, meinte der junge Offizier. »Das heißt … negativ, Sir. «

Kurt lachte. Er war kein Erbsenzähler, was Äußerlichkeiten betraf. Für ihn war es wichtiger, dass Leute ihren Job erledigten, anstatt sich an irgendwelche Kommunikationsvorschriften zu halten. »Bringen Sie uns wieder auf unseren ursprünglichen Kurs. Und zwar mit dem höchstmöglichen Tempo, ohne das Sonarsignal zu verfälschen.«

Während sich die Jacht in Bewegung setzte, sammelte Kurt die restlichen Trümmer ein, die sie gefunden hatten, und stopfte sie in große Plastiksäcke. Diese verstaute er in dem achtern gelegenen Tauchschrank und fuhr die Schwimmplattform hoch, ehe er sich auf den Weg zum vorderen Abteil machte.

Als er dort eintraf, unterhielt sich Joe gerade mit Stratton, dem anderen NUMA -Vertreter an Bord. Stratton war Sonarexperte und außerdem Spezialist für Unterwasser-Drohnen. Er hatte die vorangegangenen vier Stunden damit verbracht, die Bilder zu überwachen, die von der geschleppten Sonarantenne und drei Unterwasser-Drohnen übermittelt wurden, die mit der Jacht in Formation den Meeresgrund absuchten.

»Gibt es etwas Neues?«, fragte Kurt.

»Rote Augen und einen leeren Kaffeebecher«, sagte Stratton und hielt seine überdimensionale Tasse hoch, damit Kurt sie sehen konnte.

»Ich hatte mich auf unsere Suche bezogen.«

Stratton schüttelte den Kopf.

Kurt checkte einen Computerbildschirm, der einen Überblick über den jeweiligen Suchbereich lieferte. Er sah vier vertikale Streifen, die parallel verliefen – mit Ausnahme der von der Sapphire vorgenommenen Kursabweichungen, um Treibgut aufzunehmen. In sechs Stunden hatten sie insgesamt etwa dreihundert Quadratmeilen überprüft. Normalerweise wäre dies ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen, aber da sie sich in einem fest umgrenzten Gebiet – markiert durch den letzten Beep des AIS -Senders der Canberra Swift und den von dem Kapitän des südkoreanischen Frachters beobachteten Lichtblitz – befanden, hatten sie ein relativ kleines Arbeitsgebiet. Noch weitere zwei Tage, und es gab nichts mehr, wo sie weiter hätten nachschauen können.

»Ich besorge mir was zu essen«, sagte Kurt. »Soll ich euch etwas aus der Küche mitbringen? Ich meine den Mikrowellenherd.«

Joe gab keine Antwort, was seltsam war, da Essen in diesem Moment das Thema war.

»Stratt?«, fragte Kurt.

Er bemerkte, dass beide Männer sich zum Bildschirm vorbeugten.

»Sehen Sie das?«, fragte Joe leise.

»Tu ich«, erwiderte Stratton. Er tippte auf dem Keyboard und vergrößerte das Bild, das offenbar ihre Aufmerksamkeit fesselte.

»Dort ist definitiv etwas«, sagte Joe.

»Warten Sie mit dem Applaus«, bremste ihn der Sonarspezialist. »Es kann alles Mögliche sein, Schrott, Felstrümmer, was auch immer. Oder ein Frachtcontainer. Ich habe in der letzten Stunde drei davon gefunden. Einer enthielt mindestens eintausend Paar teure Sneaker, die aus einem Ende herausgequollen sind. Haben Sie eine Ahnung, was man dafür bekommt, wenn man sie aus dem Wasser holt und auf dem Flohmarkt verscherbelt?«

»Wir sind nicht hier, um Fußbekleidung zu retten und sie zu meistbietend zu verkaufen«, sagte Joe. »Aber darüber können wir gern später reden.«

Kurt trat hinter sie, blickte über ihre Schultern und blieb still. Jeder Gedanke an Essen hatte sich verflüchtigt. Oder war zumindest bis auf Weiteres in den Hintergrund verschoben worden.

»Es liegt am Rand des Prüffeldes«, sagte Joe. »Wir brauchen ein besseres Bild.«

»Ich lenke die Drohne noch einmal um«, erwiderte Stratton. Er tippte wieder auf seinem Keyboard und übernahm die Steuerung des torpedoförmigen Vehikels, manövrierte es aus der Formation und in Richtung des rätselhaften Objekts.

Während die Drohne dem neuen Kurs folgte, schaltete Stratton das Sonar von Seitensuche auf Bodensuche.

»Riskieren wir mal einen Blick«, sagte Joe.

Stratton aktivierte die Kamera der Drohne und ihre ultrahellen Scheinwerfer. Zuerst enthüllten sie gar nichts auf dem kahlen Gelände des Meeresgrundes in dreitausendsechshundert Fuß Tiefe. Dann erschienen kleine Trümmerstücke. Einige lagen in winzigen Kratern, die sie beim Aufschlagen erzeugt hatten.

»Hab auf dem Mag eine starke Anzeige«, sagte Joe.

Kurt schüttelte ungläubig den Kopf. »So viel Glück ist doch nicht möglich«, murmelte er, »nicht in einer Million Jahre.«

»Du sagst es«, meinte Joe.

Mehrere lange verbogene Metallteile erschienen, und dann holten die Lichtquellen etwas noch Eindrucksvolleres aus dem Dunkel.

»Ist es das, wofür ich es halte?«

»Ein Motorblock«, sagte Joe. »So wie es aussieht, eine große Dieselmaschine.«

Kurt studierte das Bild und nickte stumm. Er konnte die Kolbenmanschetten deutlich erkennen. »Muss ich euch daran erinnern, dass die Swift einen Gasturbinenantrieb hatte?«

»Sie verfügte außerdem über einen Dieselmotor für Langsamfahrt-Manöver und zwei APUS , die mit Schweröl betrieben wurden.«

»Registriert«, sagte Kurt, verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand. Zwar gab er sich alle Mühe, sich eines Urteils zu enthalten, aber irgendetwas kam ihm seltsam vor.

Schließlich erschien noch ein anderes Objekt. Dies war größer als der Motorblock, den sie soeben gefunden hatten. Es nahm nach und nach Farbe an, während es ins Bild rückte. Zuerst mattbraun, dann hellte es sich zu einem internationalen Orange auf.

»Ein Rettungsboot«, sagte Joe. »Oder zumindest ein Teil davon.«

»Wo ist der Rest?«, fragte Stratton.

»Ein Teil liegt in unserem Tauchspind«, meinte Kurt.

Was sie gefunden hatten, war der spitze Bug des Boots. Er lag auf der Seite wie ein dreidimensionales Dreieck oder ein Zelt, das vom Wind umgeweht worden war.

»Näher heran«, verlangte Joe.

Stratton lenkte die Drohne abwärts und hielt sie gegen die Strömung in Position. Der Aluminiumrahmen, an dem das Element aus hochfestem Kunststoffverbundmaterial befestigt war, erschien im Lichtkegel der Lampen. Seine Verstrebungen mussten durch eine ungeheure Kraft nach außen gebogen worden sein. Brandspuren und weitere Bruchstücke des geschmolzenen und schockgefrosteten Plastikmaterials waren auf dem Meeresgrund verstreut.

Alles wirkte sehr klar, dachte Kurt. Und irreführend. »Ich sage es nicht gerne, Gentlemen, aber wir wurden an der Nase herumgeführt.«