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Mit einem Ruck kam der Lastenaufzug zum Stehen, und Yan-Li schlüpfte aus der Kabine, ehe die Türen sich vollständig geöffnet hatten. Sie befanden sich im einhundertersten Stockwerk, das selten besucht und für die Öffentlichkeit gesperrt war. Dort lagerte die Hausverwaltung Putzmaterial und Werkzeug.

Yan machte ein paar Schritte, fand die Außentür, drückte sie einen Spalt weit auf und hielt nach möglichen Hindernissen Ausschau. Sie sah den Boden des Daches und die gekrümmte Wand der darüber gelegenen Aussichtsplattform. Unmittelbar vor ihr befand sich ein weißer Kran, der benutzt wurde, um die Plattformen der Fensterputzer an der Fassade auf und ab zu bewegen. Ansonsten war das Dach leer.

Sie öffnete die Tür vollends und trat hinaus. Die Luft war schwül und feucht und roch nach Regen. Nebelschwaden trieben vorbei, vom Licht an der Spitze der Antenne, die wie eine Nadel in den Himmel ragte, orangefarben getönt.

»Alles klar«, rief sie und winkte den anderen, ihr zu folgen.

Guānchá kam als Erster, dann folgte Zhu, der Degra noch immer wie einen Sack Mehl auf der Schulter trug. Die Geisel begann sich zu rühren, stöhnte und bewegte schwerfällig einen Arm. Yan hoffte, dass der Mann sicher gefesselt im Hubschrauber saß, wenn die Wirkung des Betäubungsmittels vollständig nachließ.

»Wo ist der Helikopter?«, rief Zhu.

»Still«, befahl Yan. Sie lauschte angestrengt. Das Geräusch von Rotorflügeln war in einiger Entfernung zu hören. Es drang von Westen zu ihnen, wurde lauter und steigerte sich zu einem Dröhnen. Ein Landescheinwerfer flammte auf und durchbohrte die Nebelschwaden mit einem Lichtstrahl. Er schwang herum, wischte über die Säule in der Mitte des Daches, auf der sich die beleuchtete Nadel befand, und badete das gesamte Dach in grellen Schein. Yan hielt sich die Hand vor die Augen.

»Ich kann nicht landen «, drang die Stimme des Piloten aus dem Lautsprecher des tragbaren Funkgeräts, das Guānchá in der Hand hielt. »Ich wiederhole, ich kann nicht landen. Gehen Sie zur Ecke des Daches. Wir setzen ein Rad auf die Dachkante, und Sie müssen in die Maschine klettern. «

Yan-Li verdrehte die Augen, als sie die Aufforderung hörte. Sie sollte zur Kante eines fünfhundert Meter hohen Gebäudes gehen und auf eine vom Nebel glitschige Mauer klettern. Von dort aus würde sie in einen Helikopter springen müssen, der auf der Kante balancierte, während sie vom Abwind des Rotors durchgeschüttelt wurde. Klar, dachte sie. Kein Problem.

Sie biss die Zähne zusammen, machte einen Schritt vorwärts, schüttelte ihre High Heels ab und wagte sich in den Wind, der an den Beinen ihres Hosenanzugs zerrte.

Der Pilot war gut. Er navigierte den Helikopter näher heran und brachte ihn genau in die Position, die er beschrieben hatte. Das Rad auf seiner rechten Seite berührte die Dachmauer des Gebäudes, während die tödlichen Rotorflügel nur wenige Meter von der Dachnadel entfernt die Luft durchschnitten.

Yan kauerte sich auf die Mauer. Sie wandte sich um und trieb Guānchá und Zhu zur Eile an. »Nun kommt schon!«, rief sie.

Guānchá trat aus dem Schatten, reichte Yan das Funkgerät und kletterte neben ihr auf die Mauer.

Deren Krone war breit und solide, aber nass von den Nebelschwaden. Vorsichtig setzte Guānchá einen Fuß auf die Kante, streckte sich nach dem Helikopter aus, legte eine Hand um einen Griff an der Tür und zog sich hoch.

Sicher in der Kabine des Hubschraubers angekommen, wandte er sich um und gab Zhu ein Zeichen. »Reich ihn zu mir herüber.«

Zhu machte einen Schritt. Aber ehe er die Mauer erreichte, schlugen Pistolenkugeln in die Außenhaut des Hubschraubers ein und stanzten eine Naht von der Türöffnung bis zum Cockpit hinein.

Yan hörte nichts, aber sie sah Funken fliegen, als die Kugeln die metallene Hülle des Hubschraubers durchbohrten. Sie sprang von der Mauer und duckte sich auf das feuchte Dach, während der Helikopter seine Position auf der Dachkante verließ und seitlich wegtauchte.

Zhu fing sich mehrere Treffer in den Rücken ein und stolperte vorwärts, wobei er Degra beinahe über die Mauer wuchtete. Anstatt in den Tod zu stürzen, krachte Degra mit dem Gesicht voraus gegen die Mauer und sackte davor zusammen.

Ihn zu sich heranziehend, suchte Yan hinter der stählernen Verstrebung Deckung, die den Ausleger des Fensterputzerkrans abstützte. Sie zog ihre Pistole hervor und bereitete sich auf ihr vermutlich letztes Gefecht vor.

Nun saß sie an der nordöstlichen Ecke des Gebäudes in der Falle, hinter sich einen fünfhundert Meter tiefen Abgrund und vor sich die CIPHER -Fußsoldaten, die unaufhaltsam zu ihr vorrückten.