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Der Klang ihrer eigenen Schritte auf den Metallstufen hallte von den Betonwänden wider, während Kurt und Joe auf der Feuertreppe zum Dach hinaufstürmten. Am oberen Ende stießen sie die Tür auf, vollkommen außer Atem, aber bereit, sich jeder Art von Kampf zu stellen, die sie dort antrafen.

Das Dach war zwar menschenleer, ruhig war es dennoch nicht.

»Das ist ein Helikopter«, sagte Joe.

Kurt hörte es ebenfalls. »Hier entlang.«

Sie überquerten das Dach. Die nordöstliche Ecke kam in Sicht, als den Helikopter die ersten Treffer erwischten. Er sackte weg, verschwand in der Nacht und ließ mehrere Gestalten zurück, die sich hinter einen Kran am Rand des Daches duckten. Sie lieferten sich ein Feuergefecht mit einer Gruppe, die in einem toten Winkel des Daches Schutz gefunden hatte. »Sieht so aus, als hätten Yan und ihre Freunde den letzten Flug in die Freiheit verpasst.«

Der Lärm des Helikopters verhallte schnell. Was immer für ein Honorar Emmerson dem Piloten versprochen haben mochte, es reichte ihm offenbar nicht aus, um einen Flug in eine aktive Kampfzone zu riskieren.

»Irgendeine Stimme sagt mir, dass er nicht zurückkommen wird«, meinte Joe ahnungsvoll. »Wenn wir Degra aus ihren Händen befreien, ist er uns einen Riesendank schuldig. Vielleicht schaffen wir es sogar, ihn von hier irgendwohin zu bringen, wo er wesentlich bessere Unterbringungsmöglichkeiten antrifft. Wie die CIA sie zum Beispiel für Leute seines Kalibers bereithält.«

Kurt hatte den gleichen Gedanken. Regel Nummer eins, wenn eine Operation aus dem Ruder läuft: Schnapp dir das Zielobjekt und such das Weite. Und diese Operation war so weit aus dem Ruder gelaufen, wie es kaum schlimmer hätte sein können. »Tolle Idee, aber vorher müssen wir diese CIPHER -Leute von hier vertreiben, ehe wir unsere Hilfe anbieten.« Er zog den Korken aus der Literflasche Speyside: »Hast du vielleicht mal Feuer?«

Joe nahm ein Zippo-Feuerzeug aus der Tasche, das er immer bei sich trug. »Und ich dachte, du bewahrst die Flasche auf, um auf irgendetwas anzustoßen.«

»Wer sagt denn, dass ich es nicht tue?«

Während Joe das Feuerzeug bereithielt, stopfte Kurt die Serviette in den Hals der Whiskyflasche. Sie färbte sich bernsteingelb, während sie sich mit dem angewärmten 130 Proof Alkohol vollsog. »Dies dürfte der teuerste Molotow-Cocktail der Geschichte sein.«

»Ich dachte mir schon, dass du die Flasche aus irgendeinem besonderen Grund mit der Kerze anwärmst«, sagte Joe.

»Wärme erhöht die Brennbarkeit des Whiskys«, sagte Kurt. »Dichtere Dämpfe garantieren eine größere Explosion.«

Joe zündete die Serviette an. Als sie brannte, schlich Kurt an der Mauer entlang, bis er die CIPHER -Wächter sehen konnte, die sich hinter einigen Arbeitsgeräten auf dem Dach versteckten.

Der Grundriss des Daches, die Position des Fensterputzerkrans und die Tatsache, dass Degra immer noch eine Geisel war, hatten die Kampfhandlungen einschlafen lassen. Mittlerweile wurden Drohungen und Forderungen ausgetauscht und durch gelegentliche Schüsse unterstrichen.

»Ich zähle drei Gegner«, sagte Joe. »Wir können nur hoffen, dass sie keine Verstärkung in Reserve haben.«

Als die Serviette lichterloh brannte, schleuderte Kurt die Eintausend-Dollar-Flasche in einem weiten Bogen von sich. Sie stieg hoch, fiel lautlos herab, schlug zwischen den Männern des CIPHER -Teams auf dem Dach auf und explodierte mit einer Flammenwolke.

Die Männer des CIPHER -Teams spritzten auseinander, stellenweise mit brennendem Whisky benetzt.

Kurt startete durch, rammte den nächsten Vertreter des CIPHER -Teams und warf ihn auf das Deck unter der Aussichtsplattform. Um ihn schnell ruhigzustellen, schmetterte Kurt seinen Kopf mehrmals gegen das Hochhausdach.

Der zweite Pistolenschütze drehte sich im Kreis, um die Flammen zu löschen. Er lehnte sich zurück und versuchte, seine brennende Jacke abzustreifen, als Joe ihn erreichte und mit einem kraftvollen Bodycheck zu Boden streckte.

Der nasse Untergrund erstickte einen Großteil der Flammen, aber Joe bot ihm trotzdem seine Unterstützung an. »Lassen Sie mich Ihnen behilflich sein.« Er zog dem Mann die Jacke über den Kopf und schickte ihn mit einer rechten Geraden ins Land der Träume.

Der dritte Schütze war der CIPHER -Sicherheitschef, der Mann im olivfarbenen Anzug. Er hatte den Flammen ausweichen können und hielt nun Ausschau nach den Angreifern.

Als er Joe entdeckte, brachte er sofort seine Waffe in Anschlag.

Joe warf sich nach links und rollte sich hinter die halbrunde Mauer. Querschläger prallten von ihrer Betonkrone ab.

Während der Mann auf Joe feuerte, stürmte Kurt auf ihn zu, erwischte ihn in Taillenhöhe und rammte ihm den Kopf unter das Kinn.

Der Mann in Oliv wusste nicht, was ihn erwischt hatte. Sein Kopf kippte nach hinten und krachte auf das Dach, als Kurt auf ihm landete. Er verlor das Bewusstsein und rührte sich nicht mehr.

Während sich Kurt die Pistole schnappte, die er fallen gelassen hatte, kam Joe im Laufschritt zu ihm. »Gutes Tackling«, sagte Joe. »Mindestens eine Fünfzehn-Yard-Strafe, wenn es bei einem Match der NFL passiert wäre.«

»Manchmal ist besondere Härte vonnöten«, erwiderte Kurt. »Hast du dir irgendwas aus der Abteilung ›Verloren und gefunden‹ sichern können?«

Joe hielt die Pistole hoch, die er einem ihrer Gegner abgenommen hatte.

»Gut«, sagte Kurt. »Und nun kommt der schwierige Teil.«

Er wandte sich zum Kran an der Ecke des Daches um. Erst jetzt registrierte er, dass nur noch Yan-Li und Degra übrig waren. Er sah, dass sie eine Waffe hatte und die Geisel als menschliches Schutzschild vor sich herschob.

»Yan, ich bin’s – Kurt«, rief er. »Wir können Sie von hier wegbringen. Aber Sie müssen sich vorher entscheiden, ob wir Freund oder Feind sind.«

Nach mehreren langen Sekunden rutschte die Pistole über das Dach zu ihnen herüber. Yan stand langsam auf. »Ich weiß zwar nicht, wie Sie das hinbekommmen wollen, aber ich vertraue Ihnen.«