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Kurt hob die Pistole auf und steckte sie sich in den Gürtel.

»Für ein Paar Typen, die ohne Waffen reingekommen sind, sehen wir inzwischen geradezu wie Pistoleros aus«, stellte Joe fest.

Yan-Li half Degra auf die Beine. Das Betäubungsmittel verlor schnell seine Wirkung. Allerdings wirkte er noch immer leicht benommen und desorientiert, aber immerhin konnte er aus eigener Kraft stehen.

»Was haben Sie mit ihm gemacht?«

»Betäubt. Noch fünf Minuten, und er wird uns Probleme machen.«

Kurt wandte sich an Joe. »Bring ihn zur südwestlichen Ecke und mach ihn startbereit. Wir kommen in einer Minute nach.«

»Was ist mit den restlichen CIPHER -Leuten?«, fragte Joe.

»Viele können nicht mehr übrig sein«, antwortete Kurt. »Und angesichts der Tatsache, dass die halbe Polizeitruppe von Taipeh hierher unterwegs ist, wird niemand im Gebäude, der irgendwas auf dem Kerbholz hat, länger als nötig hierbleiben.«

»Wahrscheinlich sollten wir das auch nicht«, meinte Joe und entfernte sich mit dem Gefangenen zur gegenüberliegenden Seite des Daches.

Kurt schätzte, dass sie fünf Minuten Zeit hatten. Die Sicherheitsteams würden sich an die standardmäßige Prozedur halten, wie sie in Städten wie dieser auf dem gesamten Planeten üblich war und perfekt ausgeführt wurde. Zuerst würden sie das Gebäude umstellen und Absperrungen errichten. Dann würden sie in Mannschaftsstärke eindringen, sämtliche Ausgänge sichern und die unteren Stockwerke möglicherweise evakuieren. Erst danach würden sie einen Gang höher schalten und Beamte in den fünfundachtzigsten Stock und aufs Dach hinaufschicken.

Während Joe seine neue Position aufsuchte, sah Kurt die Chinesin kopfschüttelnd an. »Wie zum Teufel sind Sie nur in diese Geschichte hineingeraten?«

Beschämt senkte sie den Blick. »Emmerson hat meinen Sohn und meine Tochter in seiner Gewalt«, erklärte sie. »Und meine Mutter ebenfalls. Weil mein Ex-Mann nicht getan hat, was er von ihm verlangte, meint er, dass ich ihm nun etwas schuldig bin.«

Während sie Ching Shihs Schatz gesucht hatten, hatte sie Kurt erzählt, ihr Mann sei gestorben. »Ich hatte angenommen, Sie seien verwitwet.«

»Das bin ich auch«, sagte sie. »Jetzt.«

Allmählich verstand er. »Der Mann, den wir auf der Swift gefunden haben, Lucas Teng, war er … es?«

Sie nickte, während ihr Tränen in die Augen traten. »Er war an Schmuggel und Piraterie beteiligt«, sagte sie. »Er hatte dieses Schiff in Emmersons Auftrag gekapert. Die Leute von CIPHER haben es gestohlen. Und nun muss ich für sein Versagen bezahlen. Emmerson hält mich so lange fest, bis die Hydro-Com-Server wieder in seinem Besitz sind.«

Sie tat Kurt aufrichtig leid. »Piraten und Cyberkriminelle«, sagte er, »sind kaum der richtige Umgang für Sie.«

»Die Leute meines Mannes waren ganz okay«, erwiderte sie. »Ich weiß zwar, dass auch sie Kriminelle gewesen sind, aber sie wissen, wer ich bin. Und waren eigentlich immer anständig zu mir. Selbst Lucas war okay, auch wenn er ein Lügner und ein Dieb war.«

»Meinen Sie, dass sie hinter Ihnen stehen?«, fragte Kurt. »Von wegen Ganovenehre und so weiter?«

»So weit würde ich nicht gehen«, sagte sie. »Aber Lucas hat für sie gesorgt. Und ich nehme an, dass sie deshalb auch noch zu mir halten.«

Das war ja schon etwas, dachte Kurt. Wenn auch nicht viel. »Was hat Emmerson mit diesen Computern vor? Er ist doch kein Hacker, sondern eher ein Gangster der alten Schule.«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. »Sie verkaufen, vermute ich. Wie diese anderen Leute es auch tun wollen.«

»Nur dass er versucht hat, diesen Diebstahl geheim zu halten«, sagte Kurt, »während CIPHER es in die Welt hinausposaunte, um das Interesse zu wecken.«

Irgendwie ergab das Ganze keinen Sinn und vermittelte Kurt das Gefühl, dass hinter Emmersons Plänen noch etwas vollkommen anderes steckte. Dennoch, als von unten der Klang von Sirenen und Martinshörnern heraufdrang, wurde Kurt klar, dass dies nicht der geeignete Zeitpunkt für eine intensive Befragung war.

»Mittlerweile dürften wir vollkommen umstellt sein«, sagte er. »Wir sollten verschwinden.«

Er ging zur südwestlichen Ecke des Wolkenkratzers voraus, wo Joe bereits eine von Steven Wu vorbereitete Gerätekiste geöffnet und geleert hatte. Darin befanden sich Sprechfunkgeräte und Pistolen und sogar Rauchgranaten.

Wichtiger waren jedoch Rucksäcke mit Basejump-Fallschirmen und Gurtgeschirren für Tandemabsprünge.

Joe hatte Degra ein solches Geschirr angelegt und sich seinen eigenen Fallschirm auf den Rücken geschnallt. Einen Rucksack reichte er Kurt, und ein zweites Gurtgeschirr war für Yan-Li bestimmt.

Kurt blickte über die Dachkante hinunter auf die Masse von Fahrzeugen und hektisch blinkenden Blaulichtern. Dabei fiel ihm ein mögliches Problem ein, an das er bisher noch gar nicht gedacht hatte. Er wandte sich zu Yan-Li um und stellte ihr eine Frage. »Wartet da unten noch immer ein Exfiltrationsteam auf Sie, oder war dieser Hubschrauber Ihr einziges Fluchtmittel?«

Sie sah mit großen Augen zu ihm hoch. »Es gibt tatsächlich ein Bodenteam.«

»Können Sie es irgendwie erreichen?«

»Per Funk.«

»Rufen Sie es«, sagte er.

»Weshalb?«

»Rufen Sie Ihre Leute und sagen Sie ihnen, sie sollen sich bereithalten«, flüsterte er. »Aber vorher … nehmen Sie meine Pistole.« Er legte die Waffe neben sie, bevor er die Fallschirmgurte strammzog.

Sie starrte ihn verwirrt an. »Ich verstehe nicht, warum …«

Kurt blickte ihr in die Augen. »Was geschieht mit Ihrer Familie, wenn Sie nicht mit Degra auftauchen?«

»Darüber möchte ich noch nicht einmal nachdenken«, sagte sie.

»Dann nehmen Sie die Pistole an sich, rufen Sie Ihr Team und bringen Sie Degra zu ihm.«

»Und was dann?«

»Verraten Sie es mir«, sagte Kurt.

Damit trat er zurück, wandte Yan den Rücken zu und gab ihr Gelegenheit zu tun, was er ihr empfohlen hatte.

Sie zögerte, hin- und hergerissen zwischen dem, was sie tun wollte – und das war, mit Kurt und Joe zu fliehen und sich in Sicherheit zu begeben –, und dem, was sie tun musste. Und dies bestand darin, jede Möglichkeit zu nutzen, ihre Familie zu retten.

Sie ergriff die Waffe und stieg auf die Plattform hinauf. Mit der linken Hand zog sie den Schlitten zurück, sodass sich die Blicke ihrer Schicksalsgefährten bei dem metallischen Geräusch fragend auf sie richteten.

Kurt erstarrte demonstrativ.

Joe und Degra folgten seinem Beispiel, allerdings vollkommen perplex.

»Tut mir leid«, sagte Yan-Li laut, »aber Degra kommt mit mir.«

Kurt drehte sich langsam um. Die Chinesin hatte die Pistole in einer Hand und das Funkgerät in der anderen. Kurt und Joe mit der Pistole in Schach haltend, schaltete sie das Funkgerät ein und rief ihr Bodenteam.

Joe stützte Degra, der krampfhaft blinzelte, um die Benommenheit des Betäubungsmittels zu vertreiben. Offensichtlich begriff er, was hier los war, aber er war machtlos, es aufzuhalten.

»Geben Sie mir Ihren Fallschirm«, verlangte Yan-Li. Kurt reichte ihr das sorgfältig verschnürte Paket, dessen Tragegurte sie über ihre Schultern streifte.

Mit der Hand gab sie Joe ein Zeichen und einen neuen Befehl. »Bringen Sie ihn zu mir«, forderte sie ihn auf.

Joe sah in Kurts Richtung. Kurt nickte. »Schnall sie aneinander.«

Joe zog Degra auf die Plattform hinauf und verband sein Tandemgeschirr mit Yans Fallschirm.

»Warten Sie«, sagte Degra. Es waren die ersten Worte, die er in seiner Benommenheit hervorbrachte. »Das können Sie nicht tun.« Er drehte sich hin und her, stellte jedoch in diesem Augenblick fest, dass er am Rand eines fünfhundert Meter tiefen Abgrunds stand. Das bremste seinen Elan. Von nun an verhielt er sich vollkommen ruhig, weil er nicht abstürzen wollte.

»Sie wissen, dass wir Ihnen auf den Fersen bleiben«, sprach Kurt eine Warnung aus, die hauptsächlich für Degras Ohren bestimmt war.

»Sie werden uns ohne Hilfe niemals finden«, sagte Yan.

»Sie haben recht«, sagte Kurt. »Ohne Hilfe nicht.«

Ohne ein weiteres Wort stieß sich Yan-Li ab und tauchte mit Degra elegant in die Tiefe.

Kurt stieg auf die Plattform und warf einen Blick nach unten. Der Fallschirm öffnete sich sofort. Der Gleitschirm entfaltete sich und spannte sich auf. Yan-Li und ihre Beute entfernten sich vom Wolkenkratzer und segelten in Richtung Fluss.

»Was hatte das alles zu bedeuten?«, fragte Joe irritiert.

»Zwei Probleme wurden gelöst und ein drittes geschaffen«, antwortete Kurt, während er in das Tandemgeschirr schlüpfte.

»Ich hoffe, du hast auf der Sapphire etwas, um meine Erinnerung auszulöschen«, sagte Joe, »denn ich möchte dies hier nicht erklären müssen.«

»Überlass mir das Reden«, sagte Kurt. »Und jetzt sollten wir diesen gastlichen Ort verlassen, bevor wir von der taiwanesischen Bundespolizei mit lästigen Fragen gelöchert werden.«

Joe trat auf die Plattform, hakte Kurt an seinem Gleitschirm fest und trat an die Kante. »Auf eins«, sagte er. »Drei … zwei … eins …«

Während Joe das letzte Wort aussprach, machten er und Kurt einen Schritt ins Leere, verließen das Gebäude und stürzten in die Dunkelheit. Joe bediente den Gleitschirm lehrbuchmäßig. Die Gurte schnitten in ihre Schultern, der Fall wurde aufgehalten – und nun begannen sie zu fliegen.

Während Joe den Flug lenkte, nutzte Kurt die Gelegenheit, um die Welt unter ihnen zu studieren. Dann blickte er zu dem Schirm über ihnen hoch, von dem kaum etwas zu erkennen war, weil er sich mit seiner schwarzen Farbe kaum vom Nachthimmel abhob. Schließlich richtete er den Blick auf die mindestens einhundert Rettungsfahrzeuge, die am Fuß des Taipei-101-Turms parkten.

Wie er erwartet hatte, war das Gebäude von Polizei umlagert, was bedeutete, dass sie kaum mit Problemen konfrontiert werden würden, sobald sie sich weit genug vom Ort des Geschehens entfernt hätten.

Während das Gebäude hinter ihnen zurückblieb, schaute Kurt in Flugrichtung. Sie hatten Kurs auf einen weitläufigen Park, den Wu ihnen als Ziel empfohlen und beschrieben hatte. Der Untergrund schien mit jedem Meter, den sie sich dem Park näherten, schneller unter ihnen hinwegzugleiten. Trotz des Hochleistungssegels über ihren Köpfen sanken sie rasant.

Vor ihnen erschien eine Baumgruppe. In sicherem Abstand schwebten sie darüber hinweg und hatten eine Rasenfläche unter sich. Joe zog an den Leinen, um die Landung abzumildern. Kurt hob die Füße. Sie glitten über das nasse Gras und stoppten schließlich.

Innerhalb von Sekunden hatten sie sich von dem Gleitschirm befreit. Ein Minivan kurvte mit hohem Tempo über den Rasen und blieb mit bereits geöffneter Seitentür neben ihnen stehen.

Kurt und Joe hechteten hinein. Wu trat aufs Gaspedal und steuerte auf die nächste Ausfahrt zu.

Gleichzeitig warf er einen Blick nach hinten. Joe hatte ihm per Funk angekündigt, dass sie gemeinsam mit dem CIPHER -Chef vom Turm abspringen würden, aber er musste feststellen, dass dies offenbar nicht geschehen war.

»Wo ist Degra?«

Dies war eine Frage, die ihnen während der nächsten Stunden und Tage noch des Öfteren gestellt werden sollte.