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JUNK BAY, HONGKONG

Kurt und Joe verließen das schildkrötenförmige U-Boot durch eine Tauchschleuse an seiner Unterseite. Sie benutzten Kreislauftauchgeräte – sogenannte Rebreather – und trugen Vollgesichtshelme mit integriertem Kommunikationssystem, sodass sie sich miteinander unterhalten konnten. Anstatt in Nasstauchanzüge war jeder der beiden in eine Hülle aus sogenannter Schrumpffolie geschlüpft, die im Grunde nichts anderes war als ein einteiliger wasserdichter Overall ohne zusätzliche Kälteisolierung.

Üblicherweise wurde er über die bereits vorhandene Bekleidung – gewöhnlich ein Nasstauchanzug – gezogen und sollte seinen Träger vor schädlichen Chemikalien und anderen Gefahren schützen, die im Wasser lauerten. Im Gegensatz zu regulären Trockentauchanzügen, die klobig waren und einen hohen Auftrieb aufwiesen, erhöhte die Schrumpffolienversion den Auftrieb des Tauchers nicht, vorausgesetzt der Taucher benutzte den integrierten Strohhalm, um sämtliche Luft aus dem Inneren der Folienhülle herauszusaugen.

»Wichtige Teile meines Körpers schwitzen in diesem Anzug«, beklagte sich Joe, um das Comm-System zu testen und einen Lacher aus Kurt herauszukitzeln.

»Geht mir genauso«, sagte Kurt. »Bleib in Bewegung und schwimm weiter. Das kalte Wasser hilft.«

Sie überquerten die Bucht in einer Tiefe von gut drei Metern, geleitet von einem sanften Lichtschein, der unter dem Hangartor hervordrang und dem schmutzigen Hafenwasser einen grünlichen Schimmer verlieh. Während sie sich ihrem Ziel näherten, erschien vor ihnen im Wasser das regelmäßige Streifenmuster vertikaler Schatten, die zu einem stählernen Gitter gehörten und das Licht blockierten.

Während er das Hindernis untersuchte, gewann Kurt den Eindruck, dass es ein gigantischer Unterkiefer war, der sich in geschlossener Position befand, bis jemand im Innern des Hangars auf einen Knopf drückte und ihn nach vorne aufklappen ließ. Offensichtlich konnten die Stäbe heruntergelassen werden, um Schiffen oder Wasserflugzeugen die Ein- oder Ausfahrt zu erlauben. In der geschlossenen Position waren sie jedoch bestens geeignet, das Hindurchschlüpfen jedweden Fremdkörpers zu verhindern, der größer war als eine Makrele.

»Davon war in den Infos über diesen Ort nichts zu finden«, sagte Joe.

»Weil niemand hier getaucht ist, um die Lage genau zu sondieren«, erwiderte Kurt. »Ich habe allerdings mit einer Sperre wie dieser gerechnet. Alles in allem ist es nicht allzu schlimm.«

Er öffnete den Reißverschluss einer Tasche auf seiner Brust und holte eine kleine Metallsäge heraus, die mit Batterie betrieben wurde. Sie bestand aus einer Trennscheibe, deren Schneide mit Industriediamanten besetzt war.

Kurt schaltete sie ein, und die Scheibe startete sofort und lief auf viertausend Umdrehungen pro Minute hoch. Gegen die erste Gitterstange gepresst, fraß sie sich in den korrodierten Stahl und durchtrennte ihn innerhalb von Sekunden.

Kurt machte einen gleichen Schnitt einige Fuß unter diesem ersten und entfernte die Stahlstange, die er in den Schlick fallen ließ. Nicht lange, und er hatte vier Stäbe aus dem Gitter herausgelöst. Die entstandene Lücke bot einem Taucher ausreichend Platz, um sie zu passieren.

Während Kurt die Säge sinken ließ, glitt Joe durch die Öffnung. »Dir ist hoffentlich klar, dass uns die Chinesen wegen Spionage erschießen werden, wenn wir geschnappt werden.«

Kurt verstaute die Säge in seiner Brusttasche. »Ich denke«, sagte er, »verglichen mit dem, was Emmerson mit uns tun würde, wäre diese Strafe geradezu harmlos. Aber besser uns schnappt überhaupt niemand.«

Zwanzig Meilen entfernt verfolgte Yan-Li eine Demonstration von Brutalität, die als Beweis dafür hätte dienen könne, wie prophetisch Kurts Worte waren.

Dort, im Halbdunkel eines kahlen Lagerraums in einem der unteren Stockwerke des Government House, kauerte Degra auf den Knien. Er war geschlagen, gefoltert und nahezu ununterbrochen bedroht worden, und doch war er noch nicht so weit gebrochen worden, seinen Peinigern irgendetwas zu verraten.

Je länger Degra schwieg, desto mehr geriet Emmerson in Rage. Bald prügelte er selbst, ignorierte den Körper seines Gefangenen völlig und schlug ihm ins Gesicht.

Degras rechtes Auge war vollständig zugeschwollen. Sein Gesicht war mit Blutergüssen und Risswunden übersät, Blut rann aus einem Mundwinkel, und Blut und Schleim tropften aus seiner zerschmetterten Nase.

»Hast du tatsächlich geglaubt, du könntest mich bestehlen?«, zischte Emmerson und beugte sich dicht über das geschundene Gesicht. »Du meintest wohl, dass dich dein dünner Schleier der Anonymität schützen würde.«

Er schlug Degra noch einmal ins Gesicht, diesmal eher um ihn zu beleidigen, als ihn effektiv zu verletzen. Blutiger Speichel spritzte auf die Wand. »Du sitzt hinter deiner lächerlichen Tastatur und tippst darauf herum und glaubst, du hättest so etwas wie Macht, aber wie alles andere in der Welt ist sie nichts Reales, Greifbares. Und sie wird dir hier auch nicht weiterhelfen.«

»Meine Leute werden kommen, um mich zu holen«, brachte Degra zwischen seinen geschwollenen Lippen mühsam hervor. »Sie wissen, dass Sie mich in Ihrer Gewalt haben, und Sie werden kommen und mich herausholen.«

»Oh, wie sehr ich mir wünsche, dass sie es tun«, erwiderte Emmerson. »Unglücklicherweise glauben sie aber, dass die Amerikaner dich geschnappt haben. Woraus sich ergibt, dass man dich niemals finden wird … hier … bei mir.«

Degra spuckte Emmerson an und besudelte seinen grauen Maßanzug mit Blut und Speichel.

Emmerson wich einen Schritt zurück, wischte den Speichel ab und nahm einen Hammer vom Tisch. Weit ausholend schmetterte er den Hammer auf einen ausgestreckten Finger der Hand, mit der Degra sich an der Tischkante festhielt, um nicht mit seinem Stuhl umzukippen.

Der Schrei, der über Degras Lippen drang, hatte nichts Menschliches mehr.

Yan-Li wandte sich schauernd ab, als der Hammer von der blutigen Masse gehoben wurde, zu der Degras Finger zerstampft worden war. Sie hielt die Luft an und unterdrückte mühsam einen Brechreiz.

»Jetzt sind es nur noch neun«, warnte Emmerson seinen Gefangenen. »Du kannst sicher sein, jeder Schlag wird schlimmer werden als der vorangegangene.«

Auch wenn Degra damit gedroht hatte, ihr den Hals durchzuschneiden, und obwohl er der Mann sein konnte, der Lucas getötet hatte, passte es ganz einfach nicht zu Yan-Lis Persönlichkeit, untätig zuzuschauen, wie jemand gefoltert wurde. In diesem Augenblick wünschte sie sich nichts anderes als ein Ende dieser grässlichen Demonstration und platzte mit dem ersten Gedanken heraus, der ihr durch den Kopf ging. »Das ist doch vollkommen sinnlos.«

Emmerson hielt inne und wandte sich zu ihr um. »Ihnen wird doch nicht etwa übel … wegen mir, oder?«

Yan biss die Zähne zusammen. Sie bemühte sich um eine vollkommen ungerührte Miene. »Nein«, log sie. »Aber das führt zu nichts. Er verliert Blut. Er fängt an zu fantasieren und spürt die Schmerzen nicht mehr. Wenn Sie ihn weiter misshandeln, verfällt er in einen Schockzustand und stirbt möglicherweise. Und dann stehen wir wieder am Anfang.«

Emmerson runzelte die Stirn. »Wir?«, wiederholte er überrascht. »Interessant. Und was würden Sie als Nächstes vorschlagen?«

Sie war selbst überrascht, dass sie das Wort wir benutzt hatte, obgleich ihre und Emmersons Wünsche auf gewisse Art durchaus eine gemeinsame Richtung hatten. Aber ihr eigener Realitätssinn trübte sich, während Verzweiflung und Erschöpfung ihr Denken mehr und mehr lähmten.

Vielleicht war es auch nur eine Reaktion ihres Unterbewusstseins gewesen, gespeist aus der Hoffnung, ihn sich gewogen zu stimmen. Vielleicht war dies eine besondere Form des Stockholm-Syndroms, das ihr Handeln zunehmend bestimmte.

Sie zwang sich, wieder ihren Kopf zu benutzen und nachzudenken. Sie musste ihre geistige Betäubung abschütteln und nach etwas suchen, das Emmerson gefiel und Degra ohne weitere Foltern zum Reden animierte.

»Er hat panische Angst, sich mit einem Bazillus zu infizieren. Er fürchtet sich vor Krankheit, Bakterien und Schmutz. Vielleicht können Sie dies gegen ihn einsetzen.«

»Interessant«, sagte Emmerson noch einmal und legte den Hammer auf den Tisch zurück. »Sehr interessant.« Er wandte sich an einen seiner Männer und sprach jetzt so laut, dass Degra ihn verstehen konnte. »Geh zu den Käfigen und bring die Ratten hierher.«

Die Ratten, dachte Yan. Die halb verhungerten, blutgierigen, von Flöhen wimmelnden Ratten. Sie waren nach ihrer langen Gefangenschaft sicherlich geradezu tollwütig vor Hunger. Ihr Geruch allein würde Degra vielleicht zum Reden bringen. Aber wenn nicht, dann würden sie sich schon bald näher an ihn heranwagen, ihn beschnüffeln und an seinen Wunden knabbern. Sein blutiges Gesicht und seine Finger mussten wie frisches Schlachtfleisch riechen.

Der Gedanke erfüllte sie mindestens ebenso mit Entsetzen, wie dabei zugesehen zu haben, als Emmerson ihn ständig schlug. »Ich muss nicht die ganze Zeit hier sein. Ich kann das nicht länger mit ansehen.«

»Das ist auch nicht nötig«, meinte Emmerson. »Wir schließen ihn hier ein und warten ab. Bei ihrem Gestank und dem Kratzen ihrer Klauen auf den Steinen, wenn sie sich an ihn heranschleichen, und der Vorstellung, wie sich ihre scharfen Zähne in seine Wunden fressen, wird er sicher schon bald darum betteln, uns endlich verraten zu dürfen, wo diese Computer geblieben sind.«

Emmerson ging mit ihr zur Tür, während er den Wächtern eine letzte Anweisung gab.

»Lasst ihn einige Zeit schreien, ehe ihr mich ruft. Ich möchte, dass er ein Wrack ist, wenn ich wieder hierherkomme und ihn mir vornehme.«

Sie verließen den Lagerraum, wobei Kinnard Emmerson offenbar ihre Nähe suchte und Yan-Li sich fragte, ob ihr Verhalten ihn möglicherweise zu einer freundlichen Geste oder vielleicht sogar zu etwas noch Schlimmerem animiert hatte, als es brutale Prügel war.

Als könnte er ihren inneren Widerstreit wahrnehmen, lächelte er freundlich. »Folgen Sie mir«, sagte er. »Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Dafür haben Sie eine Belohnung verdient.«