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GOVERNMENT HOUSE, THE PEAK

Yan-Li wachte vom Klang einer freundlichen weiblichen Stimme auf. Sie gehörte einer von Emmersons Hausangestellten, die ihr ein exquisites Frühstück brachte, dann die Fenstervorhänge aufzog und den morgendlichen Sonnenschein hereinließ.

»Mr. Emmerson bittet Sie, ihn in einer halben Stunde unten zu treffen«, sagte die junge Frau und verließ Yan-Lis Schlafzimmer.

Yan-Li warf einen prüfenden Blick auf das Frühstückstablett und entschied sich zuzugreifen. Sie musste etwas essen, um bei Kräften zu bleiben.

Während sie frühstückte, ließ sie sich Emmersons Angebot durch den Kopf gehen. Irgendwie störte es sie, dass sie ernsthaft darüber nachdachte, aber welchen Grund hätte sie nennen sollen, es nicht zu tun?

Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatte, duschte sie und zog die Kleider an, die sie am Vortag getragen hatte. Sie waren gereinigt und gebügelt worden, während sie schlief. »Offenbar bin ich Gefangene in einem Fünf-Sterne-Hotel«, murmelte sie, um eine menschliche Stimme zu hören und sich bewusst zu machen, dass sie nicht träumte, auch wenn es nur ihre eigene Stimme war.

Sie verließ ihre kleine Suite, ging durch den Korridor und die Treppe hinunter. Im Parterre traf sie Emmerson, der dort in Gesellschaft mehrerer Mitglieder der Truppe ihres Mannes wartete. Sie alle umringten Callum, der Yan misstrauisch musterte.

»Es wird Zeit, den Vertrag zu erfüllen«, erklärte Emmerson. »Degra hat kapituliert und den Ort genannt, wo sich die Computer befinden.«

Ein Helikopter brachte sie von dem luxuriösen Bergdomizil hinunter zu dem Industriegelände neben der alten Flugboot-Basis. Als sie den Hangar betrat, erblickte Yan-Li den Ekranoplan zum ersten Mal. Callum hatte ihn damals beschrieben, als er von den schrecklichen Vorgängen berichtete, nachdem sie wegen des Untergangs der Swift aus dem Meer gefischt worden waren.

Seine Beschreibung war ihm allerdings in keiner Weise gerecht geworden. Dabei erschien er nicht flugbereit. Mehrere Mechaniker turnten oben auf seinem Rumpf herum, reparierten irgendwelche Schäden und ersetzten Teile des y-förmigen Heckleitwerks.

Als sich Yan-Li im Hangar umsah, stellte sie fest, dass dies nur der geringste Teil des angerichteten Schadens war. »Was ist denn hier passiert?«

Emmerson hatte sofort eine Antwort parat. »Männer von CIPHER sind gestern in die Halle eingedrungen. Sie müssen entweder angenommen haben, Degra hier zu finden und befreien zu können, oder sie wollten uns eine Nachricht schicken. Sie haben sechs meiner Männer getötet. Ich erwähnte bereits, dass sie rachsüchtig sind. Dies sollten Sie nicht vergessen, wenn Sie Ihre Entscheidung treffen.«

Yan nickte langsam. »Was ist der Plan?«, fragte sie. »Wie soll es weitergehen?«

Emmerson deutete mit einem Kopfnicken auf ein Unterseeboot, das vor dem Dock lag. »Sie und Ihre Männer begeben sich mit dem Unterseeboot zu einem Schiff, das westlich des Hafens bereitliegt. Ich habe Callum schon entsprechend informiert. Es handelt sich um ein altes Amphibienschiff mit einer Dockingbucht, die das U-Boot aufnehmen kann.«

Während er ihre Frage beantwortete, näherten sich zwei Delta-Maschinen aus der Bucht. Mit ihren Tragflächen ähnelten sie Mantarochen oder riesigen Motten. Emmerson nannte sie Skimmer und erklärte, dass sie sich das gleiche physikalische Auftriebsprinzip zunutze machten wie der Ekranoplan. Yan-Li verfolgte, wie etwa ein Dutzend Männer, die der äußeren Erscheinung nach nichts anderes als schwer bewaffnete Söldner sein konnten, das Dock überquerten und sich vor den beiden Flugzeugen versammelten.

»Tarnkleidung, Körperpanzer, Sturmgewehre«, zählte sie auf. »Ziehen wir in den Krieg?«

»CIPHER wird die Server bewachen und nicht kampflos wieder hergeben«, führte Emmerson aus. »Ganz sicher nicht zu diesem Zeitpunkt. Diese Männer werden mit jeder Art von Abwehr fertig, auf die sie treffen sollten. Und Sie und Ihre Leute schnappen sich derweil die Computer.«

Yan war erleichtert, dass ihr weitere Kampfhandlungen offenbar erspart blieben. Verstehend nickte sie.

»Wir treffen uns auf dem Schiff«, sagte Emmerson. »Überprüfen Sie sorgfältig Ihre Ausrüstung und halten Sie sich für einen ausgedehnten Tauchgang bereit. Wenn alles läuft wie geplant, erwartet Sie und Ihre Truppe eine angemessene Bezahlung.«

Emmerson entfernte sich mit Guānchá an seiner Seite. Sie unterhielten sich kurz mit den Männern in Kampfkleidung und machten sich schließlich daran, in die Maschinen einzusteigen.

Yan und Callum gaben ihren Leuten ein Zeichen und deuteten auf das Mini-U-Boot. Während sie sich einen Weg durch die Trümmerhaufen auf dem Dock suchten, fragte sich Yan, weshalb sich die CIPHER -Truppe wohl den Hangar anstatt Emmersons Luxusbehausung auf dem Hügel als Angriffsziel ausgesucht hatte. Noch seltsamer kam es ihr vor, dass sie den gesamten Komplex mehr oder weniger in Schutt und Asche gelegt, jedoch sein Kronjuwel – den Ekranoplan – nicht einmal angerührt hatten.

Sie konnte nicht behaupten, mit den Verhaltensweisen krimineller Banden vertraut zu sein, aber irgendetwas kam ihr an diesem Szenarium höchst seltsam vor.