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Später an diesem Tag begannen Paul und Gamay damit, die Fundstücke eingehender zu untersuchen. Stratton und Winterburn verfolgten das Geschehen als interessierte Beobachter und machten sich mit gelegentlichen Fragen und Kommentaren bemerkbar.

Zunächst wurden die Fundstücke in Behälter gelegt, die spezielle Lösungen enthielten und so eine weitere Oxidation und Korrosion zu verhindern und gleichzeitig die verhärteten Salze aufzulösen vermochten, die sich auf ihnen festgesetzt hatten.

Diese Wechselbäder nahmen mehrere Stunden in Anspruch. Danach begann die mühsame Feinarbeit. Mit unterschiedlich dicken Nadeln und Bürsten befreiten Paul und Gamay die glatten Oberflächen von den Ablagerungen und legten ein Ziermuster auf dem Griff der Arkebuse und chinesische Schriftzeichen auf dem Messinggehäuse des Fernrohrs frei.

Außerdem entdeckten sie etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Eine verhärtete graue Masse im Lauf der Hakenbüchse und im Hohlrohr des Teleskops.

Gamay empfand sie als unangenehm und klebrig. Paul, der Geologe, begegnete ihr hingegen mit unverhohlenem Interesse. »Dies ist kein klassisches Sediment«, urteilte er, kratzte eine kleine Probe ab und zerrieb sie zwischen den Fingern. »Es ist Vulkanasche.«

»Das ist ein vielversprechender Hinweis und gibt Anlass zur Hoffnung«, sagte Gamay, »da wir wissen, dass die Seidener Drache während eines explosiven Vulkanausbruchs verschwunden ist.«

»Sieht so aus, als ob Kurt mit seiner Vermutung richtig liegt«, sagte Paul.

Gamay nickte. »Der aus Holz bestehende Teil der Arkebuse zeigt deutliche Brandspuren«, fügte sie hinzu, »als wäre sie einem Feuer ausgesetzt gewesen, das jedoch schnell erloschen ist.«

»Was ja auch genau das ist, das man erwarten kann, wenn Holz vulkanischer Hitze ausgesetzt wurde und in Wasser eintauchte«, sagte Paul. »Oder …«

Gamay sah ihn fragend an. »Oder was?«

Paul beantwortete ihre Frage mit einer weiteren Frage. »Was konnte man noch mal im Tagebuch über den Vulkanausbruch lesen? Vielleicht finden wir dort einen weiteren entscheidenden Hinweis.«

Gamay schaltete einen Laptop, der auf einem Tisch in ihrer Nähe bereitstand, ein und rief den übersetzten Text aus Ching Shihs Tagebuch auf.

»›Die Seidener Drache kann nicht aus der Bucht entkommen‹«, las sie vor. »›In den Klauen der Korallen gefangen, wird sie verschlungen vom Rauch und vom Feuer und einer Flut flüssiger Lava, die sich den Berg hinabwälzt. Ein angemessenes Ende für solche Verräter.‹«

Paul nickte und wiederholte den Satz in Gedanken noch einmal. »Wirklich hochinteressant. Aber bisher sind wir nirgendwo auf vulkanisches Gestein gestoßen«, sagte er. »Wir haben nur das Riff gefunden, das Sediment und die Asche. Sollte die Eruption flüssige Lava freigesetzt haben, müssten wir hier und da Reste davon finden, vor allem dort, wo der Lavastrom Schlick und Sand vor sich hergeschoben hat.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Gamay argwöhnisch. »Wenn du mir damit andeuten möchtest, dass wir an der falschen Insel suchen, darfst du heute Nacht auf der Gästecouch schlafen.«

»Nicht an der falschen Insel«, sagte Paul, »sondern wir suchen unter einem falschen Aspekt. Ching Shih hat der Welt grundsätzlich mitgeteilt, dass die Drache als Strafe verschlungen wurde. Man kann es dichterische Freiheit ihrerseits nennen. Aber sie ist meilenweit entfernt gewesen. Und ihre Beobachtungen erfüllten einen bestimmten Zweck. Entweder als eine Art göttliche Warnung an die Adresse derer, die vielleicht die Absicht hatten, sie zu hintergehen, oder weil sie verhindern wollte, dass jemand zu der Insel zurückkehrt, um nach dem zu suchen, was nach ihrer Auffassung von Rechts wegen ihr Eigentum war.«

»Als hätte sie von ›Feuer und Schwefel‹ gesprochen«, meinte Gamay.

»Schwefel ist gar nicht so falsch«, sagte Paul, »denn den kann man bei jedem Vulkanausbruch finden.«

»Dir ist hoffentlich klar, dass ich dir längst zugestimmt habe«, sagte Gamay, verengte die Augen zu Schlitzen und sah ihn drohend an.

»Okay«, sagte Paul. »Tut mir leid, bin wohl ein bisschen abgedriftet. Wie dem auch sei, der Punkt ist jedenfalls: kein vulkanisches Gestein, keine Lava, keine Spur von Feuer und Schwefel.«

»Und wie sind dann diese Brandspuren an die Arkebuse gelangt?«

»Durch superheiße Asche oder Bimsstein«, schlug Paul vor, »das Zeug, das ich aus dem Fernrohr herausgekratzt habe. Und wenn das zutrifft, werden wir das Schiff niemals dort finden, wo wir es vermuten.«

»Und wo stattdessen?«, fragte sie und hatte das Gefühl, als verstünde sie überhaupt nichts mehr.

»Viel tiefer unter uns«, sagte Paul. »Bedeckt mit einer dicken Ascheschicht … wie Pompeji.«

Nun verstand sie allmählich, was er meinte. »Wie tief, denkst du?«

»Teile von Pompeji waren unter bis zu zehn Metern Asche begraben. Wahrscheinlich gibt es dort Bereiche, die noch gar nicht ausgegraben wurden, weil sie erheblich tiefer liegen.«

Gamay fand diese Neuigkeit ganz und gar nicht so vielversprechend wie Paul. »Das Sonar kann nicht in diese Tiefe vordringen. Und in Anbetracht der Tatsache, dass beim Bau der Schiffe in jener Zeit kaum Metall verwendet wurde, werden wir mit einem Magnetometer auch nicht besonders weit kommen.«

»Wir müssen doch irgendetwas zur Verfügung haben, das wir benutzen können«, sagte Paul.

Das war offenbar das Stichwort für Stratton, um sich an der Diskussion zu beteiligen. Er räusperte sich, hob die Hand und dachte sekundenlang nach. »Wir haben einen Breitband-Sub-Bottom-Profiler an Bord«, sagte er. »Er ist zwar nicht dafür konstruiert worden, vergrabene Schätze zu suchen. Aber wenn die Sedimentschicht gleichmäßig verteilt ist, ließe sich jedes größere Objekt darunter aufgrund seiner unterschiedlichen Dichte aufspüren. Stellen Sie es sich vor … wie ganze Nüsse in einem Müsliriegel.«

Paul und Gamay wechselten einen kurzen Blick. Hoffnung und Vorfreude.

Dann aber bemühte sich Stratton, ihre hohen Erwartungen gründlich zu dämpfen. »Das heißt, wenn das alte Holzschiff nicht zum größten Teil längst verbrannt war, bevor es gesunken ist.«

»Der Kolben dieser Hakenbüchse besteht aus Hartholz, das mit Ölfarbe bedeckt wurde«, sagte Paul. »Wenn dies nicht verbrannte, dann dürfte die Zeit auch nicht ausgereicht haben, das Schiff mit seinen mit Seewasser getränkten Planken in Brand zu setzen. Schlimmstenfalls hat es seinen Mast und Teile des Oberdecks verloren.«

»Mit der Sapphire in die Bucht zu gelangen, ist nach wie vor unmöglich«, gab Winterburn zu bedenken. »Sie ist einfach zu groß.«

Gamay wandte sich an Stratton. »Können Sie nicht eine Drohne so weit modifizieren, dass sie den Profiler transportieren kann?«

»Klar«, erwiderte Stratton. »Ich glaube, wir haben noch ein Exemplar, das Kurt und Joe nicht zerstört haben.«