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NUMA-ZENTRALE

WASHINGTON, D.C.

Rudi Gunn saß noch in seinem Büro und arbeitete, als das Intercom auf seinem Schreibtisch summte und die Stimme der Nachtbereitschaft am Empfang aus dem Lautsprecher drang. »Anna Biel möchte Sie sprechen, Mr. Gunn. «

Zu Rudi verirrten sich nicht viele Besucher, vor allem nicht um diese späte Tageszeit. Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Bestellen Sie ihr, dass ich sie gleich in der …«

Die Tür öffnete sich, und Anna Biel erschien im Spalt und schob den Kopf hindurch. In den Händen hielt sie Starbucks Kaffeebecher, beide mit Plastikdeckeln verschlossen, aus deren Trinköffnungen Dampf aufstieg.

»Hat sich schon erledigt«, sagte Rudi der Empfangsdame am Telefon.

»Sorry wegen der Störung«, entschuldigte sich die NSA -Direktorin, »aber man dringt ja nie zur Spitze vor, wenn man wartet, bis man an der Reihe ist.«

Rudi nahm einen Becher und lud sie mit einem Handzeichen ein, Platz zu nehmen. »Ich möchte nicht undankbar erscheinen«, sagte er, »aber wir haben auf dieser Etage vier Kaffeeautomaten und im Parterre eine rund um die Uhr geöffnete Cafeteria.«

»Das haben wir genauso«, erwiderte sie, »aber es ist einfacher, etwas Stärkeres hinzuzufügen, wenn sich der Kaffee in einem Pappbecher befindet. Meinen Sie nicht auch?«

Während er den Becher ein wenig hob und den Kopf vorbeugte, konnte er den Alkohol in dem Gebräu riechen. »In diesem Fall bedanke ich mich.« Er trank einen Schluck und stellte die brennende Frage: »Sind Sie hierhergekommen, um moralische Unterstützung zu spenden oder um schlechte Nachrichten zu überbringen?«

»Wegen Ersterem«, antwortete sie. »Ich nehme an, Sie haben von Ihren Männern nichts gehört, seit die Chinesen den Victoria Harbour unter Feuer genommen haben.«

»Nein«, gab Rudi zu, »aber wir machen uns noch keine Sorgen. Wenn die Chinesen Kurt und Joe in ihrer Gewalt hätten, würden sie die beiden längst im Rahmen einer Siegesparade auf dem Platz des Himmlischen Friedens der Welt präsentieren. Und wenn sie die Phantom versenkt hätten, würden sämtliche Fernsehsender der Welt in ihren Abendnachrichten Videos von dem Wrack zeigen.«

»Das ist auch unsere Meinung.«

»Befürchten Sie, dass die Chinesen wegen des Eindringens mit dem Finger auf uns zeigen werden?«

»Eigentlich nicht«, sagte sie. »Auf jeden Fall nicht öffentlich. Sie können es nicht riskieren einzugestehen, dass ein kleines amerikanischen Unterseeboot einer Armada von U-Boot-Abwehrkräften in einem Gewässer entgehen konnte, das im Grunde nicht mehr als ein Planschbecken in ihrem eigenen Hinterhof ist. Ohne irgendwelche Trümmer, um zu beweisen, dass sie uns besiegten, werden sie wohl bei der Terroristen-Version bleiben.«

Rudi hob seinen Kaffeebecher zum Toast. »Auf die chinesische Vernunft.«

Auch sie hob ihren Becher und prostete Rudi zu. »Bleibt uns immer noch die Frage, was mit Kurt und Joe geschehen ist. Augenzeugen berichten, dass zahlreiche Wasserbomben und mindestens eine U-Boot-Abwehrrakete in ihre Richtung abgeworfen beziehungsweise abgefeuert worden sind. Dass die Chinesen anschließend keinerlei Trümmer gefunden haben, heißt noch lange nicht, dass sich die beiden lebend aus dem Hafen retten konnten. Beschädigte U-Boote haben die Angewohnheit, sich noch für eine Weile weiterzuschleppen, nur um endgültig unterzugehen, bevor sie die Heimat erreichen.«

»Offensichtlich ist das eine berechtigte Sorge«, sagte Rudi. »Aber die Phantom ist ein widerstandsfähiges Schiff. Selbst wenn der Rumpf aufgrund eines entstandenen Schadens plötzlich geplatzt wäre, hätten Kurt und Joe es mit Sicherheit geschafft, rechtzeitig auszusteigen. Beide sind erfahrene Taucher und bewahren – wenn sie unter Druck sind – einen absolut kühlen Kopf. Ich kann nur annehmen, dass sie sämtliche offensichtlichen Orte meiden, die die Chinesen ins Visier nehmen könnten, wie zum Beispiel ein Hilfs- und Versorgungsschiff der NUMA oder irgendein anderes amerikanisches Schiff in der Region.«

»Aber Sie haben bisher keine aktive Suche eingeleitet, oder?«

Rudi schüttelte den Kopf. »Man kann keine Suchaktion starten, ohne die Chinesen auf sie aufmerksam zu machen und auf ihre Spur zu setzen oder einzugestehen, dass von Anfang an wir für das Eindringen in ihre Hoheitsgewässer verantwortlich waren.«

»Das ist eine verdammte Zwickmühle, in der Sie da stecken«, antwortete Biel. »Sie haben mein aufrichtiges Mitgefühl.«

»Sparen Sie es sich auf«, sagte Rudi. »Ich erwarte, dass wir über kurz oder lang von ihnen hören werden, selbst wenn sie sich per R-Gespräch von irgendeiner Ferieninsel melden sollten, an deren Strand sie mit ihrer Rettungsinsel angetrieben wurden.«

»Ich mag Ihr Selbstvertrauen und Ihre Zuversicht«, sagte die NSA -Chefin. »Und dann was?«

»Dann setzen wir Himmel und Hölle in Bewegung, Yan-Li die Nachricht zukommen zu lassen, dass ihre Mutter und ihre Kinder in Sicherheit sind.«

Anna trank einen weiteren Schluck Kaffee. »Das dürfte nicht so einfach sein, wenn man bedenkt, dass Emmerson ihr sicherlich keinen Zugang zu E-Mail, Telefon oder sonstigen Möglichkeiten der Textübermittlung gestatten wird. Wie wollen Sie dieses Problem lösen?«

Darauf hatte Rudi keine Antwort parat, aber er vertraute darauf, dass ihm beizeiten etwas Entsprechendes einfallen würde. »Wir alle arbeiten daran. Schlimmstenfalls engagiere ich ein Himmelsschreiber-Team, das über Hongkong kreist und Sofort Kurt anrufen ans Firmament kritzelt.«

Bei dieser Vorstellung verzog sich Annas Miene zu einem amüsierten Lächeln, dann aber wurde sie gleich wieder ernst. »Hoffen wir lieber, dass Kurt rechtzeitig auftaucht, um sich per Telefon zu melden.«