50

NUMA-JACHT SAPPHIRE

KI-SONG ISLAND, SÜDCHINESISCHE SEE

Paul hatte den Kopf geneigt und nahm eine leicht geduckte Haltung ein, um neben Stratton in dem engen Sonarraum stehen zu können. Gamay und Winterburn verfolgten die Suche auf der Kommandobrücke. Sie alle hatten es kaum erwarten können, die Ausdrucke der Messergebnisse des Sub-Bottom-Profilers in Augenschein zu nehmen.

»Da ist etwas«, sagte Paul und wandte sich an Stratton, der die Drohne dirigierte. »Lenken Sie sie noch einmal zurück und über den letzten Sektor.«

Da die Jacht zu groß war, um sich gefahrlos in der flachen und mit Korallenformationen gefüllten Bucht zu bewegen, patrouillierten sie vor der Einfahrt wie ein Postenschiff während einer Seeblockade hin und her. Unterdessen flitzte die kleine Drohne, einem systematischen Kreismuster folgend, in der Bucht herum.

Der erste Scan, der in geringer Tiefe einen weiten Bereich einbezogen hatte, war ergebnislos verlaufen. Ein zweiter Scan, ein wenig tiefer mit schmalerer Bündelung des Suchstrahls, hatte ebenfalls nichts erbracht. Aber der dritte Scan wendete nun das Blatt – auch wenn die Drohne gezwungen war, den Korallen auszuweichen und den Grund der Bucht ausschließlich in schmalen Streifen anstatt in breiten Bahnen abzutasten.

Bei derart geringem Abstand zum Meeresboden fielen die Signale, die der Profiler sendete, erheblich konzentrierter aus. Sie lieferten ein deutliches Bild von den verschiedenen aufeinandergepackten Sedimentschichten.

Alles war eben und gleichförmig, und plötzlich wurde diese Ordnung gestört. Stratton hatte die Drohne gewendet und passierte die Anomalie ein zweites Mal.

»Dort unten ist definitiv etwas vergraben«, sagte Stratton.

Als sie die Position erneut passierten, zeigte es sich noch einmal. Aber nun waren sie zu nahe bei ihrem Fund, um ihn vollständig unter sich zu sehen.

»Steigen Sie ein wenig auf«, empfahl Paul. »Und ändern Sie den Annäherungswinkel. Folgen Sie der Hauptachse.«

Stratton manövrierte die Drohne in Position und vergrößerte den Abstand zwischen Sensor und Meeresgrund um knapp zwei Meter. Während dieser Passage war alles deutlich zu erkennen, als ein langes zigarrenförmiges Objekt auf dem Sichtschirm erschien.

Nach mehreren weiteren Passagen rechnete der Computer die einzelnen Bilder zusammen. Das Zielobjekt war etwa fünfundsechzig Meter lang und zwanzig Meter breit.

»Das passt«, sagte Paul und verglich ihre Messung mit dem, was sie über das Schatzschiff wussten. »Entweder ist das die Seidener Drache , oder jemand hat sich mit uns allen einen fantastischen Schabernack erlaubt.«

Stratton klatschte ihn ab und stieß einen triumphierenden Freudenruf aus.

Paul aktivierte das Intercom und rief die Kommandobrücke, wo Gamay und Winterburn vor einem Monitor saßen, der die Suchergebnisse des Profilers zeigte. »Wir haben es gefunden«, rief er. »Es liegt dort unten und erscheint vollkommen intakt. Im Sediment konserviert, so wie wir es erwartet haben.«

Doch Gamays Reaktion fiel unerwartet emotionslos und reserviert aus. »Wir haben auch etwas gefunden. Ein Schiff, das sich von Süden nähert. Ich könnte mir vorstellen, dass du dich ans Heck stellen möchtest, um einen prüfenden Blick darauf zu werfen. «

Gamay hatte ihren Satz noch nicht beendet, als Paul hörte, wie die Maschinen verstummten. Weshalb Winterburn die Jacht während der Annäherung eines geheimnisvollen Schiffes stoppte, konnte er sich nicht erklären, aber allein diese Reaktion und ihre mögliche Ursache gefielen ihm ganz und gar nicht.

»Bleiben Sie hier«, riet er Stratton. »Bereiten Sie sich darauf vor, alles zu löschen – für den Fall, dass wir von jemandem geentert werden, der uns unseren Fund streitig machen möchte.«

Stratton nickte, versetzte die Drohne in den Stopp-Modus, in dem sie ihre Position automatisch beibehielt, und notierte die Koordinaten in unleserlicher Krakelschrift auf einen Schreibblock, der mit sinnlosen Kritzeleien gefüllt war, – nur für den Fall, dass er sich gezwungen sah, den Inhalt der Computer aus ihren Datenspeichern zu entfernen.

Paul verließ die kleine Kabine und rannte nach achtern durch das Schiff zum Heck. Dabei schaute er unterwegs aus den Salonfenstern. Aber er konnte nichts sehen, da sich das Schiff offenbar auf der anderen Seite befand. Es musste sich ihnen genau von hinten nähern.

Er stieß die Tür zum Bootsheck auf und trat auf die Plattform hinaus.

Fünfzig Meter hinter dem Schiff konnte er ein schwarzes scheibenförmiges Objekt ausmachen, das auf den Wellen tanzte. Der höchste Punkt seines Rumpfs erhob sich keine zwei Meter über die Meeresoberfläche. Es sah wie ein UFO aus, das gelandet war, um eine Runde zu schwimmen.

Paul kniff die Augen zusammen und blinzelte heftig, während sich eine Luke öffnete. Anstatt kleiner grüner Männchen erkannte er eine vertraute Gestalt, die sich ins Freie schlängelte.

Kurt hatte einen dichten Stoppelbart im Gesicht. »Bitte um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen«, sagte er laut. »Ich habe zwei Mannschaftsmitglieder dabei, denen Grillkäse und Eiscreme versprochen wurden, und ein weiteres, dem ich ein heißes Bad und ein Glas Wein schuldig bin.«

Die Kinder kletterten an Deck, gefolgt von ihrer Großmutter.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Paul. »Es wäre ja immerhin möglich, dass Sie uns den Schatz unterm Hintern wegstehlen wollen.«

»Schatz?«, sagte Kurt. »Habt ihr etwas gefunden?«

»Nicht etwas «, erwiderte Paul, »sondern alles. Das gesamte Schiff und sein Inhalt sind in gut zehn Metern Asche vergraben.«

Mit der Phantom im Schlepp – und Yan-Lis Familie, die gesättigt und zur Ruhe gebettet war – trafen sich Kurt und Joe mit Paul und Gamay im Funkraum der Sapphire .

»Wir freuen uns natürlich, Sie zu sehen«, sagte Gamay. »Aber warum haben Sie diesen weiten Weg gewählt, um hierherzukommen? Das Mutterschiff der Phantom dürfte doch um einiges näher gewesen sein.«

»Wir sind davon ausgegangen, dass die Chinesen es beobachtet haben, weshalb wir auf unserem Weg dorthin mit einer ganzen Armada von U-Boot-Jägern hätten rechnen müssen«, sagte Kurt. »Indem wir hierhergekommen sind, haben wir die Hälfte der Strecke in vietnamesischen Gewässern zurückgelegt. Dort waren wir viel sicherer.«

»Außerdem«, fügte Joe noch hinzu, »wollten wir wissen, wie ihr vorangekommen seid. Dann lasst mal hören. Was haben Sie gefunden?«

Paul entrollte eine postergroße Version des hochauflösenden Scans von dem vergrabenen Schiff. Was er sah, verschlug Kurt Austin den Atem.

»Der Detailreichtum ist unglaublich«, sagte Joe. »Das hat Ihnen der Sub-Bottom-Profiler geliefert?«

»Stratton fand einen Weg, um den Suchstrahl stärker zu bündeln und auf diese Weise ein detailliertes Bild zu erhalten«, erklärte Paul.

»Ein Hoch auf Stratt«, sagte Joe.

»Was ist mit den Artefakten?«, wollte Kurt wissen.

»Fragt, und ihr werdet es sehen«, sagte Gamay. Sie legte die sorgfältig gereinigte Arkebuse auf den Tisch. »Wir müssen sie so schnell wie möglich wieder in den Tank zurücktun, aber ich dachte mir, Sie würden sich das gute Stück gern einmal in natura ansehen.«

Kurt, der ein besonderes Faible für historische Waffen hatte, konnte sich an den filigranen Silberverzierungen am Kolben und am Schloss der antiken Donnerbüchse kaum sattsehen. Sie war noch immer weiß von den Salzen, die an ihr klebten, aber die schlimmsten und härtesten Verkrustungen waren inzwischen behutsam entfernt worden. »Sie ist in einem sensationellen Zustand«, sagte er staunend. »Ganz eindeutig Handwerkskunst auf höchstem Niveau aus dem achtzehnten Jahrhundert.«

Gamay nickte. »Aber warten Sie mal. Wir haben noch mehr.«

Sie holte ein zweites, in ein Tuch eingewickeltes Objekt. Während sie es auf den Tisch legte, schlug sie die Zipfel des Tuchs zurück und enthüllte das Teleskop, das sie nicht weit von der Arkebuse entfernt auf dem Meeresgrund gefunden hatten.

Ebenso wie die Arkebuse war auch das Fernrohr in der luftlosen Umgebung der Vulkanasche ausnehmend gut erhalten geblieben. Und mittlerweile gesäubert, sah es aus, als stammte es von der Auslage eines Antiquitätengeschäfts.

»Fantastisch«, sagte Joe.

»Unglaublich«, schloss Kurt sich ihm an.

»Und dies ist das beste Detail«, sagte Gamay und deutete auf die eingravierten Schriftzeichen. »Die ersten beiden sind Symbole für Glück und Wohlstand. Die letzten beiden entsprachen dem Namen von jemandem, der in Ching Shihs Tagebuch genannt wird. Zi Jun Chu oder Meister Jun.«

Kurt erkannte den Namen. »Jun war der Eigentümer der Seidener Drache . Der Mann, der Ching Shih ursprünglich den Schatz gestohlen hat.«

»Er ist der Eigentümer dieses Teleskops gewesen. Damit steht außer jedem Zweifel, dass dieses Wrack unter der Ascheschicht die Drache ist«, sagte Gamay.

Kurt lehnte sich zurück. Damit hatten sie schließlich erfolgreich abgeschlossen, was Yan-Li fast drei Jahre zuvor begonnen hatte. Falls es Gerechtigkeit gab, würde dieser Erfolg dazu beitragen, sie zu wahren.

»Wir sollten Rudi anrufen«, sagte Kurt. »Es wird Zeit, dass wir den nächsten Zug machen.«

Das Videogespräch mit Rudi lief viel besser als der Anruf aus Taipeh. Rudi war derart erfreut zu erfahren, dass Kurt und Joe unversehrt aufgetaucht waren – und er die Phantom nicht als in die Hand der Chinesen gefallen abhaken musste –, dass er weder die Worte internationaler Zwischenfall aussprach noch sich nach Details hinsichtlich der Schäden an dem Fünfzig-Millionen-U-Boot-Prototyp erkundigte.

»Nun, da wir Yan-Lis Mutter und ihre Kinder in Sicherheit gebracht haben, müssen wir irgendeinen Weg finden, sie zu erreichen, ohne dass Emmerson etwas mitbekommt«, sagte Kurt.

»Daran arbeiten wir bereits«, teilte Rudi mit. »Da gibt es nur ein wesentliches Problem – sie ist verschwunden. Die CIA war für einige Zeit an ihr dran, aber Emmerson hat sie keine Sekunde lang aus den Augen gelassen. Sie wurde in seinem Anwesen und wenig später am Flugboot-Hangar gesehen, nachdem ihr ihn in Schutt und Asche gelegt habt. Seitdem ist sie von der Bildfläche verschwunden.«

»Das betrachte ich als eindeutigen Hinweis darauf, dass Emmerson seinen nächsten Zug vorbereitet«, sagte Kurt. »Degra muss ihm verraten haben, wo die Server deponiert sind.«

»Wir hatten gehofft, dass Yan sich spätestens in diesem Moment bei uns meldet«, sagte Rudi.

Trotz allem war Kurt nicht allzu beunruhigt. Die Dinge entwickelten sich zwar schneller, als er gehofft hatte, aber immer noch in der Reihenfolge, die er erwartet hatte. »Emmerson wird nicht mehr Informationen hinausposaunen, als er unbedingt muss. Er wird das Versteck der Server für sich behalten, bis er keine andere Wahl hat, als sein Wissen zu teilen.«

Rudi wies auf die offensichtliche Schwachstelle hin. »Es wird uns nicht viel nützen, wenn Yan in der letzten Sekunde oder so kurz vor dem Anlaufen der Aktion mit uns Kontakt aufnimmt, dass wir keine Zeit mehr haben, um uns einzuschalten. Ich bringe dies zwar nur ungern zur Sprache, aber wenn sie die Computer für ihn herbeischafft und er sie als gefährliche Zeugin beseitigt, stehen wir wieder dort, wo wir am Anfang gestanden haben. Dann müssen wir nämlich versuchen, die Computer von den Kriminellen zu kaufen, die sie gestohlen haben.«

»Ich glaube allerdings nicht, dass Emmerson sie verkaufen will«, sagte Kurt. »Das war ausschließlich die Absicht der CIPHER -Leute. Nach meinem Dafürhalten hat Emmerson etwas ganz anderes im Sinn.«

»Und was?«

»Kann ich nicht sagen. Aber Joe und ich haben im Flugboot-Hangar einen Lagerraum gefunden, voll mit Hightech-Spleißwerkzeug und Breitband-Glasfaserkabeln.«

»Und es war ganz sicher nicht das Material für den Hausgebrauch«, fügte Joe hinzu. »Dort gab es riesengroße Trommeln mit aufwendig isoliertem Kabel in Industriequalität.«

Gamay ergriff das Wort. »Die Taucher im Silicon Valley trainierten spezielle Tiefsee-Spleißtechniken, um die Vector-Einheiten mit Tiefsee-Glasfaserkabeln zu verbinden. Das kann kein Zufall sein.«

»Es klingt, als wolle Emmerson diese Computer miteinander verbinden«, sagte Kurt. »Aber zu welchem Zweck?«

»Könnte eine besondere Art des Hackings sein«, versuchte Paul eine Erklärung.

»Das würde auch den Konflikt mit CIPHER erklären«, sagte Joe. »Wir sind doch von der Annahme ausgegangen, dass sich CIPHER in Emmersons Aktivitäten gedrängt hat. Aber möglicherweise waren wir auf dem falschen Dampfer und es lief andersherum.«

»Womit wir noch immer vollkommen im Dunkeln tappen, was Emmersons Pläne betrifft«, sagte Rudi. »Ich werde Hiram diese Informationen schnellstens zukommen lassen. Mal sehen, ob er sich einen Reim darauf machen kann.«

»Wo ist Hiram überhaupt?«, fragte Kurt. »Ich nahm an, dass er an dieser Telefonkonferenz teilnimmt.«

»Er hält sich noch in Kalifornien auf«, erklärte Rudi. »Während der letzten fünf Tage hat er die Datenbanken von Hydro-Com durchforstet – auf der Suche nach Material, das uns helfen könnte. Für Ihre Informationen wird er sicherlich dankbar sein. In der Zwischenzeit sollten Sie sich beide ein wenig Ruhe gönnen. Ich weiß nicht, wann uns die nächste Hiobsbotschaft erreicht, aber wenn es geschieht, sollten Sie beide topfit und einsatzbereit sein.«