MERCY HOSPITAL
SAN MARIN, KALIFORNIEN
Sabrina Lang wurde vom Piepen des Alarms der Infusionspumpe geweckt, das signalisierte, dass der Flüssigkeitsvorrat aufgebraucht war. Die Krankenschwester kam herein, schaltete die Maschine ab und überprüfte Sabrinas Blutdruck und andere Vitalfunktionen.
»Wie fühlen Sie sich?«
Sie stellten diese Frage jedes Mal, wenn sie hereinkamen. Sabrina hatte wirklich keine Antwort darauf. Physisch kämpfte sie noch immer mit dem Schmerz der Schusswunde, aber den hatten die Medikamente auf ein dumpfes Pochen reduziert. Mental fühlte sie sich taub. Fast wünschte sie sich, noch immer bewusstlos zu sein. Sie wusste, dass Pradi tot war, auch wenn sie sich weigerten, sie zu informieren. Sie wusste, dass sie am Versagen des Sicherheitssystems von Hydro-Com zum Teil selbst schuld war, auch wenn es auf derart raffinierte Weise bewerkstelligt worden war.
»Ich fühle mich gut«, murmelte sie wenig überzeugend.
»Sie klingen aber nicht gut«, sagte die Krankenschwester. »Doch ich nehme Sie beim Wort. Sind Sie bereit, Besuch zu empfangen?«
»Wer ist es?«, fragte sie. Sie hatte bereits ihre Eltern gesehen und war nicht daran interessiert, weitere Anwälte oder Spezialagenten vom FBI oder Kollegen von Hydro-Com durch ihr Krankenzimmer paradieren zu sehen.
»Ein mitfühlender Computerfreak«, sagte Hiram Yaeger und schob den Kopf durch den Türspalt.
Zu ihrer Überraschung zauberte sein Anblick ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Klar«, sagte sie. »Ich würde Sie umarmen, aber ich hänge an all diesen Schläuchen und Drähten.«
Die Krankenschwester winkte Hiram herein. »Ich hatte Sie doch gebeten, im Flur zu warten«, schimpfte sie. »Aber da dies das erste Lachen ist, das wir bei ihr zu sehen bekommen, seit sie aufgewacht ist, lasse ich es Ihnen durchgehen. Sie haben dreißig Minuten.«
Hiram trat ins Zimmer und zog sich einen Stuhl ans Krankenbett. Er war in Kalifornien geblieben, teils um zu sehen, ob er in der Datenbank von Hydro-Com irgendetwas finden konnte, das sie zu den Computern führte, und dann auch, um sich jederzeit nach dem Wohlbefinden der verletzten Sicherheitschefin erkundigen zu können.
Er konnte sich nicht von dem Gefühl frei machen, an ihrer Schussverletzung mitschuldig zu sein. Wenn er nicht hinter dem Taucher hergerannt oder gar nicht erst ins Silicon Valley gekommen wäre, läge sie wahrscheinlich nicht einmal im Krankenhaus. Die Tatsache, dass sie jung genug war, um Hiram an seine eigene Tochter zu erinnern, die momentan die Graduiertenschule nicht weit entfernt in Stanford besuchte, stachelte seinen Beschützerinstinkt ganz besonders an. »Ich würde Sie gern fragen, wie es Ihnen geht, aber ich nehme an, dass Sie diese Frage mittlerweile bis obenhin satthaben.«
»Gründlich«, bestätigte sie.
»Stattdessen bitte ich Sie um Hilfe«, fuhr er fort. »Wir haben ein oder zwei Dinge über die Männer, die die Vector-Server gestohlen haben, in Erfahrung bringen können, aber es ist nicht das, was wir erwarteten. Ich hoffte, dass Sie vielleicht irgendeine Idee haben, welche Absichten sie tatsächlich verfolgen.«
»Sie brauchen meine Hilfe?«
»Ich mag zwar allgemein eine ganze Menge über Computer wissen, aber ich habe absolut keine Ahnung, wozu diese Server fähig sind«, gab Yaeger zu. »Niemand außerhalb von Hydro-Com weiß das wirklich. Und da Pradi tot ist und Ihr Chefprogrammierer mit dem Quellcode im Gepäck das Weite gesucht hat, steht keiner mehr zur Verfügung, der sich mit den Maschinen besser auskennt als Sie.«
»Dem könnte ich widersprechen«, sagte sie, »aber ich tue, was ich kann, um zu helfen. Was wissen wir bis jetzt?«
Yaeger beschrieb, wer Emmerson war, und äußerte sich zum Drei-Parteien-Streit zwischen CIPHER , der NUMA und Emmerson um den Erwerb der Hydro-Com-Rechner. Er erläuterte, was sie über die Pläne von CIPHER – nämlich die Computer so teuer wie möglich zu verkaufen – wussten, und weshalb sie annahmen, dass Emmerson etwas Ähnliches im Sinn hatte. »Was kann er mit diesen Computern anfangen, was ihm mehr einbringen würde, als wenn er sie verkauft?«
»Er könnte sie miteinander koppeln«, antwortete Sabrina. »Wenn sie entsprechend eingerichtet würden, um parallel zu arbeiten, hätte er am Ende einen unglaublich leistungsfähigen Supercomputer zu seiner Verfügung. Er wäre um ein Mehrfaches schneller als die schnellsten Maschinen da draußen, aber um dies auszunutzen, bräuchte er ein wahres Genie von Programmierer … das er natürlich jetzt hat.«
Diesen Aspekt hatte Yaeger bereits bedacht. »Aber welchen Nutzen zieht er daraus? Supercomputer werden doch eingesetzt, um Kernexplosionen in allen Einzelheiten zu analysieren oder das Universum in siebzehn Dimensionen zu erforschen und darzustellen. Universitäten und Regierungen benutzen sie. Aber ich kann beim besten Willen nicht erkennen, dass eine solche Maschine für jemanden wie Emmerson von besonderem Wert sein sollte.«
Sie nickte und verstellte das Krankenhausbett, damit sie ein wenig aufrechter sitzen konnte. »Er könnte Bitcoins und andere Kryptowährungen damit berechnen«, sagte sie. »Ich habe vor Kurzem gelesen, dass Cryptomining mehr elektrischen Strom verbraucht als die Nationen Finnland, Dänemark und Schweden zusammen. Weil die Vectors im Prinzip Selbstversorger sind – das heißt, ihre Energie wird durch Gezeiten und Unterwasserströmungen erzeugt – und ohne aufwendige Kühlsysteme auskommen, können sie Kryptotransaktionen weitaus effizienter ausführen als die zurzeit existierenden Serverfarmen. Das war eigentlich eine der ursprünglichen Ideen hinter dem Projekt.«
»Wie viel Kapital könnte er auf diesem Weg erzeugen?«, fragte Yaeger.
»Schwer zu sagen«, erwiderte sie. »Natürlich hängt es vom jeweiligen Wert der verschiedenen Währungen ab, aber mehrere Millionen Dollar im Monat dürften dabei schon zusammenkommen.«
Dies klang nach einer Menge Geld, aber CIPHER hatte fünfhundert Millionen Dollar für den Verkauf der Maschinen in Aussicht. Die Vorstellung, dass Emmerson es vorziehen würde, sein Einkommen mit Cryptomining zu generieren und gleichzeitig ein Angebot von einer halben Milliarde Dollar ausschlüge, war eher unwahrscheinlich. Yaeger kam zu dem Schluss, dass dies nicht der Grund sein konnte.
»Es muss noch etwas anderes ein, das diese Vector-Maschinen zu leisten imstande sind, wozu kein anderer Computer in der Lage ist. Irgendetwas, das für einen Gangsterboss seines Kalibers von höherem Wert ist als die Kontrolle über eine reguläre Corporation oder gar Regierung.«
Sabrina ließ sich nach hinten in ihr Kopfkissen sinken, und ihr Blick verlor sich in der Weite, während sie sich Hirams Frage durch den Kopf gehen ließ. Um eine Antwort darauf zu finden, war eine andere Denkweise notwendig, mussten andere Aspekte und Informationen berücksichtigt werden. Als Sicherheitsexpertin war sie darin trainiert, wie ein Hacker – ein Krimineller – zu denken. Es war die einzige Möglichkeit, um den Crackern immer etwas voraus zu sein.
Schließlich dämmerte ihr eine Antwort, und sie richtete den Blick – nunmehr wieder klar und fokussiert – auf ihren Besucher und lächelte.