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Joe hatte in der Phantom – dank der Kamera der Drohne, die er lenkte – einen nahezu totalen Überblick über das Geschehen in der halbmondförmigen Bucht von Badger Island. Die russischen Hubschrauber schwebten über dem Hafen und waren gerade dabei, zu landen und die Server zu übernehmen. Er beobachtete, dass die CIPHER -Leute die Vector-Einheiten mit dem Teleskopkran aus dem Wasser gehoben und auf Transportkarren gesetzt hatten.

Joe blickte auf seine Uhr. Bis zur Explosion der Sprengladung, die Kurt an die Drohne gehängt hatte, dauerte es noch eine ganze Minute. In diesem Augenblick ging ihm durch den Kopf, dass er Kurt vielleicht hätte empfehlen sollen, die Zeitspanne der dritten Sprengladung bis zur Zündung zu verkürzen. Fünf Minuten kamen ihm jetzt wie eine halbe Ewigkeit vor.

Mittlerweile hatte der erste Helikopter das Dock fast erreicht. Während er die Nase leicht herunternahm, um in den Sinkflug zu gehen und zu landen, fing der Funkfrequenz-Scanner der Phantom einen hektischen Dialog zwischen den russischen Piloten und den CIPHER -Leuten auf der Insel auf. Das Hin und Her wirkte kurz angebunden, aggressiv und angespannt. Dabei kam Joe eine vermeintlich blendende Idee.

Er schaltete den Transmitter auf die russische Frequenz und begann zu sprechen. »Hallo, russischer Hubschrauber im Anflug auf Badger Island«, sagte er und bemühte sich um einen möglichst glaubwürdigen chinesischen Akzent. »Sie nähern sich offiziellem Hoheitsgebiet der Volksrepublik China. Kehren Sie sofort um. Landen Sie dort nicht und nehmen Sie keine Fracht auf.«

»Wer ist da? «, antwortete eine offenbar belustigte russische Stimme. »Sie klingen ungefähr genauso chinesisch wie meine Babuschka. «

Joe schaute auf das Drohnenvideo. Die Helikopter blieben unbeirrt auf Anflugkurs. Mit ihren voll eingeschalteten Positionslampen sahen sie wie fliegende Christbäume aus. Joe blieben noch vierzig Sekunden bis zur Zündung der letzten Drohnenladung.

»Kehren Sie auf der Stelle um«, sagte Joe. »Dies ist die absolut letzte Warnung.«

»So sorry, Amerikanski «, sagte der Russe. »Wir holen uns Ihre Computer, und es gibt nichts, was Sie tun können, um uns daran zu hindern. «

»Das werden wir noch sehen«, erwiderte Joe.

Er bediente die Kontrollen der Drohne und lenkte sie hinunter und über das Dock, als beabsichtigte er einen Frontalangriff. Einige CIPHER -Leute feuerten auf die Drohne, andere gingen fluchtartig in Deckung.

Nachdem er über das Dock hinausgeschossen war, wendete Joe die Drohne und leitete einen zweiten Anflug ein. Diesmal nahm er die Server aufs Korn und hoffte, sie vom Dock und zurück ins Wasser zu fegen. Als der Timer die Fünf-Sekunden-Markierung erreichte, klinkte Joe die letzte der Ladungen aus.

Wie es der Zufall wollte, prallte sie vom Ausleger des Teleskopkrans ab und detonierte nicht zwischen den Servern, sondern über dem Dock in der Luft.

Der grelle Blitz erleuchtete den ganzen Hafen. Hell genug, um die Aufmerksamkeit der Russen zu wecken und ihnen die gewünschte Botschaft zu vermitteln.

Die schwerfälligen Hubschrauber brachen ihren Anflug ab und spritzten in die entgegengesetzten Richtungen auseinander. Einer flog nach Süden und der andere nach Norden, beide gewannen dabei an Höhe und ergriffen die Flucht.

Joe ärgerte sich, dass er nicht das Ziel getroffen hatte, aber er hoffte, dass der Feuerball der Explosion ausreichte, um die Russen von ihrer Absicht abzubringen. Er beobachtete, wie die Helikopter in sicherer Entfernung über dem Meer kreisten. Nach einem kurzen Dialog, in dem, wie er sich vorstellte, wahrscheinlich die Themen Befehlsverweigerung, Militärgericht und längerfristige kostenfreie Unterbringung in einem sibirischen Straflager – für den Fall, dass sie die gewünschte Fracht nicht nach Hause mitbringen sollten – erschöpfend behandelt worden waren, schickten die Helikopter sich an, einen zweiten Versuch zu starten, und näherten sich dem Dock erneut.

»Sehr beeindruckend, Amerikanski «, meldete sich der Russe wieder, diesmal aber nicht mehr so freundlich. »Na los, machen Sie es noch mal. «

Joe wünschte sich, er könnte es. Doch er hatte keine Sprengladungen mehr. Aber er verfügte noch immer über seine Drohne.

Er schickte sie mit Höchstgeschwindigkeit dem Helikopter entgegen, nahm sein Cockpit ins Visier und schaltete den Scheinwerfer in der Nase der Drohne ein.

Der erste Angriff überrumpelte den Piloten. Seine Maschine verließ die Formation, brach seitlich aus, bis er sie abfing und wieder zurück auf Kurs brachte.

Joes zweite Runde des Hühnchen-Spiels war weniger wirkungsvoll. Der große Helikopter setzte seinen Anflug fort, und jetzt war Joe gezwungen, mit der Drohne auszuweichen, da er nicht mitansehen wollte, wie seine einzige Waffe auf der Panzerglasscheibe des Hubschraubercockpits wie ein lästiges Plastikinsekt zerplatzte.

Während sich die Drohne in eine weite Kurve legte, eröffneten die Russen das Feuer und entfesselten einen wahren Blizzard von 7,62 mm Projektilen aus der vierläufigen Rotationskanone an der Seite unter dem Rumpf des Helikopters.

Joe lenkte die Drohne augenblicklich steil in die Höhe und über das Dach des Helikopters, wo sie vor vollständiger Vernichtung kurzfristig sicher war. Joe wusste jedoch, dass er so viel Glück kein zweites Mal haben würde.

Der führende Helikopter setzte seinen Flug zum Dock weiter fort und erreichte das ferne Ende des Piers, während ein Teil der CIPHER -Mannschaft den ersten Server in seine Richtung schob.

»Dieses Teil nicht einladen!«, rief Joe. »Es ist mit einer Bombe präpariert und wird explodieren, ehe Sie zu Hause ankommen!«

Diesmal erhielt er keine Antwort.

»Hören Sie«, sagte Joe. »Ich bin selbst Pilot. Ich versuche, Sie zu warnen. Laden Sie bitte nichts in Ihre Maschine!«

Das Schweigen im Lautsprecher seines Headsets sagte ihm, dass es nutzlos war. Daher wählte er einen Selbstmord-Kurs für die Drohne, kehrte zum Dock und den Männern zurück, die den Server auf dem Handwagen vor sich herschoben. Er entschied sich für die Gruppe auf der rechten Seite des Karrens und raste in Kopfhöhe auf sie zu.

Drei der vier Männer tauchten rechtzeitig weg. Der letzte blieb zwar am Karren, duckte sich jedoch. Der Karren schlingerte in ihre Richtung, nachdem sie aufgehört hatten, ihn zu schieben.

»Das reicht jetzt «, meldete sich der Russe wieder per Funk.

Als Joe die Drohne wendete, wurde sie von einem Kugelhagel aus der Mini-Kanone zertrümmert.

Danach hatte Joe keine Sicht mehr auf das Schlachtfeld. Aber er sah den Timer auf dem Computerbildschirm. Er hatte ein wenig geflunkert, was den Stand des Countdowns betraf. »An Ihrer Stelle würde ich mich von dem Container entfernen«, rief er. »Sie haben drei … zwei … eine …«

»Sekunde« brachte er schon nicht mehr über die Lippen, als die Sprengladungen, die Kurt an den Servern angebracht hatte, hochgingen. Flammensäulen schossen von den beiden Servern in den Himmel, und die Männer von CIPHER wurden vom Dock in die See gefegt.

Für einen kurzen Moment war der Hafen von einem wabernden hellen Schein erleuchtet. Er verblasste schnell zu einem dunklen Orange und schließlich zu einem Wirbel rot schimmernder Glutflocken und schwarzen Qualms.

Joe standen die Videoaufnahmen der Drohne zwar nicht mehr zur Verfügung, aber er hatte noch Zugriff auf die Satellitenbilder. Er tippte gegen den Bildschirm und rief die Verbindung auf.

Die zerrissenen qualmenden Überreste der Hydro-Com-Maschinen waren auf dem Dock zu erkennen. Er konnte auch ein paar CIPHER -Leute ausmachen, die schwimmend vor den Flammen flüchteten. Andere rannten zu den Wellblechhütten zurück. Am wichtigsten war für ihn jedoch, dass die russischen Hubschrauber abdrehten und sich unbeschädigt und mit leeren Frachtabteilen entfernten.

Während Joe eine Faust triumphierend in die Luft stieß, erreichte ihn über Funk eine seltsame Nachricht.

»Na vashe zdorov’ye «, sagte der Russe. »Auf Ihre Gesundheit, Amerikanski. Ich werde heute Abend einen Wodka auf Sie trinken. «

»Genehmigen Sie sich ruhig einen Doppelten«, empfahl Joe.

Er streckte die Hand wieder nach den Radiokontrollen aus und schaltete auf den Satellitenkanal zurück. »Die Russen kehren ohne Geschenk nach Hause zurück«, verkündete er stolz. »Und jetzt braucht Kurt dringend Hilfe.«

Während Joe den Hafen verließ, um auf schnellstem Weg auf die andere Seite der Insel zu gelangen, tastete sich Kurt über die Klippen, von wo er auf die Bucht hinunterblicken konnte. Schließlich entdeckte er etwas, das dort nicht hingehörte.

Während er den Blick über die Bucht schweifen ließ und seinen Augen gestattete, sich an die Lichtverhältnisse anzupassen, fiel ihm etwas auf, das darauf hinwies, dass die Bucht nicht so verlassen und menschenleer war, wie es auf den ersten Blick erschien. Eine Ansammlung winziger Luftbläschen trieb am Fuß der Klippe auf dem Wasser. Auf eine zu große Fläche verteilt und zu gleichförmig, um natürlichen Ursprungs zu sein, reflektierten die Streifen das Mondlicht und erzeugten Linien, die direkt auf die Steilwand der Klippe deuteten.

Er tastete sich an dem Felsvorsprung entlang bis zu einem Punkt über dem sprudelnden Bereich. Erst jetzt gewahrte er den Eingang zur Höhle, der etwas tiefer in den Felsen eingeschnitten war. Aus der Luft unsichtbar – und so wie es aussah nur per Boot erreichbar – war es ein ideales Versteck für die Server.

Kurt dankte der Vorsehung, dass er diesen Eingang gefunden hatte. Nur war er offenbar leider nicht der Erste.

Dem Bereich nach zu urteilen, wo die Luftblasen an die Wasseroberfläche stiegen, musste eine ganze Gruppe von Tauchern erst vor Kurzem die Höhle verlassen haben. Sie waren auf dem Weg hinaus in die Bucht.

Er rief Joe per Funk. »Ich glaube, ich habe die Server gefunden«, sagte er. »Emmersons Leute sind dabei, sie aus einer Höhle auf der Südseite der Bucht zu holen. Unseligerweise bin ich zu spät gekommen, um sie aufzuhalten. Sie müssen zum Kabellegerschiff unterwegs sein. Versuch, eine Position zu finden, um ihnen den Weg abzuschneiden.«

»Bin schon unterwegs «, antwortete Joe.

Das war eine gute Nachricht. Die schlechte Nachricht folgte auf dem Fuß, als Kurt in den Büschen ihm gegenüber eine Bewegung wahrzunehmen glaubte. Er war sich nicht sicher, ob es CIPHER -Leute oder Mitglieder von Emmersons Truppe waren. Aber im Grunde war es auch bedeutungslos, da er auf der ganzen Insel sowieso keine Freunde hatte.

Als Schüsse fielen, duckte er sich und robbte aus dem Weg. Mehrere Kugeln sirrten in nächster Nähe an ihm vorbei. Andere sprengten Splitter aus dem Felsen rechts von ihm. Die einzige sichere Richtung war offenbar der Klippenrand, wo er sich in einen Felsspalt fallen ließ.

Gedämpfte Stimmen drangen aus dem Gebüsch zu ihm herüber. Ein weiterer Feuerstoß hallte durch die Nacht. Aber er lag weit daneben und zu hoch.

Reiner Feuerschutz, dachte Kurt. Und er hatte recht. Auf die nächste Salve folgte ein dumpfer Aufschlaglaut und kurz danach ein metallisches Klirren, als etwas über die Felsen in seine Richtung rollte.

Er brauchte nicht genauer nachzuschauen, um zu wissen, dass es eine Handgranate war.

Für ihn gab es nur einen Ausweg. Er rannte zum Klippenrand und sprang von der Kante ab, während die Granate hinter ihm explodierte.