Yan-Li wusste nicht, dass Kurt und Joe sich bereits am Ort des Geschehens befanden. Ebenso wenig wusste sie vom Erscheinen der Russen und vom Verlauf der Auseinandersetzungen auf der anderen Seite der Insel.
Ehrlicherweise musste sie sich eingestehen, dass sie auch kaum darüber nachgedacht hatte, weil sie bis zu diesem Moment damit beschäftigt gewesen war, ihre Karawane heil über das Riff zu führen. Entsprechend erleichtert atmete sie innerlich auf, als sie und Emmersons Leute das Mini-U-Boot erreichten. Wie geplant vertäuten sie die Supercomputer am Mini-U-Boot, um sie die restliche Strecke zur Oceanic Navigator zu schleppen.
Nachdem sie an Bord gelangt war, befreite sie sich sofort von ihrer Tauchausrüstung. Nur Sekunden später setzte sich das Mini-U-Boot in Bewegung und nahm Kurs aufs offene Meer, begleitet von den anderen Tauchern, die wieder ihre Schlitten benutzen konnten, während sich die restlichen Mitglieder des Bergungstrupps an die beiden Leinen der Serverschleppzüge klammerten.
»Wir sollten uns nur auf viertel Kraft beschränken«, empfahl Yan-Li. »Nicht mehr. Sonst riskieren wir, alles zu verlieren, was wir eben gerade unter den größten Mühen geborgen haben.«
Guānchá, der ebenfalls an Bord zurückgekehrt war, musterte sie misstrauisch. »Das dauert doch eine Ewigkeit«, sagte er und gab dem Steuermann mit dem Kopf ein Zeichen. »Geh auf halbe Kraft. Ich glaube nicht, dass sich diese Computer selbstständig machen.«
Sie nahmen jetzt Fahrt auf, schafften aber trotzdem nicht mehr als vier bis fünf Knoten.
»Was ist mit den Tauchern?«, fragte Yan. »Ihren Leuten und meinen.«
»Sie werden genug Zeit haben, um uns einzuholen, während wir die Computer verladen.«
Yan konnte ihm kaum widersprechen, daher versuchte sie es auch gar nicht erst. Sie fand einen Sitzplatz, löschte ihren Durst aus einer Wasserflasche und fragte sich, ob all ihre Hoffnungen vergebens waren.
Während Joe das südliche Ende von Badger Island umrundete, war er um einiges schneller unterwegs als Emmersons repariertes Mini-U-Boot, das nur noch über ein Antriebsaggregat verfügte, das jeden Moment gefährlich zu überhitzen drohte. Er ließ den Punkt hinter sich, wo die Küstenfelsen wie eine ausgestreckte Klaue ins Meer hinausragten, und nahm direkten Kurs auf das Kabellegerschiff.
Ohne Drohne als künstliches Auge musste er sich mit dem Satellitenbild begnügen, das ihm aus Washington übermittelt wurde. Aber selbst dies verlor mittlerweile zunehmend an Qualität. »Was ist denn mit der Funkverbindung los?«, fragte er. »Habt ihr etwa vergessen, die Telefonrechnung zu bezahlen?«
»Der Erfassungsbereich verkleinert sich «, erwiderte Rudi Gunn. »Der Satellit befindet sich in einem Orbit. Wir können ihn nicht an einem festen Punkt seiner Bahn parken. Er wandert weiter und folgt der Erdkrümmung. «
Joe konnte erkennen, dass sich der Blickwinkel veränderte und das Bild sich verzerrte. Es war, als blickte er durch eine gebogene Glasscheibe. »Wie lange noch, bis überhaupt nichts mehr zu erkennen ist?«
»Sechzig Sekunden. «
»Irgendwo eine Spur von Kurt?«
»Negativ«, antwortete Rudi. »Wir haben sein Signal nach der letzten Explosion verloren. Seitdem hatten wir keinen Kontakt mehr.«
»Soll ich umkehren und nach ihm suchen?«
»Ebenfalls negativ«, sagte Rudi. »Wenn er am Leben ist, wird er wohl zu diesem Frachter unterwegs sein. Und wenn es ihn doch erwischt hat, müssen Sie den Job allein zu Ende bringen.«
Joe verstand. »Ich werde das Schiff am Heck rammen und die Selbstversenkungsladungen zünden, wenn es sein muss. Möglich, dass die Oceanic trotzdem nicht untergeht, aber mit einem beschädigten Ruder und einer verbogenen Schraubenwelle kann sie sich nicht vom Fleck bewegen.«
»Das sollte Ihr letztes Mittel sein«, sagte Rudi. »Aber Sie müssten einen großen Vorsprung vor den Tauchern haben, die Kurt gemeldet hat. Sie brauchen nichts anderes zu tun, als zu verhindern, dass sie die Server an Bord schaffen.«
Das klingt schon einfacher, dachte Joe. »Schicken Sie mir eine letzte Ansicht des Frachters rüber, bevor wir den Satelliten verlieren. Wenn es geht, eine Nahaufnahme.«
Rudi und das NSA -Team reagierten auf der Stelle. Die Superoptik der HD -Kamera des Satelliten zoomte das Schiff heran. Es lag ruhig im Wasser, seine Maschinen liefen, wie an den Auspuffrohren zu erkennen war, aber es machte keine Fahrt. Während der Satellit den Fokus zum Heck wandern ließ, konnte Joe erkennen, dass der Kran in Bewegung gesetzt worden war. Mehrere Männer hielten sich in seiner Nähe bereit. Von Eile war ihnen nichts anzumerken. Nichts deutete daraufhin, dass sie befürchteten, die Position des Schiffes schnellstens verlassen zu müssen oder von etwas für sie Unangenehmem überrascht zu werden.
Das hätte Joe signalisieren sollen, dass er sich entspannen konnte und einen ausreichenden Vorsprung vor Emmersons Leuten hatte, um sich mit seinem Überraschungsangriff Zeit lassen zu können – so wie ein Highway Trooper, der mit gezückter Radarpistole hinter einer Reklametafel wartet, um Jagd auf Raser zu machen. Aber die Crew des Kabellegerschiffes erschien ihm zu entspannt. Als hätte sie ihre Arbeit bereits erledigt.
Er versuchte, auf dem Bildschirm irgendetwas zu erkennen, das ihm vielleicht entgangen war, aber der Satellit wanderte über den Horizont, und der Bildschirm verdunkelte sich.
»Wir haben den Rendezvouspunkt erreicht«, verkündete Guānchá. »Bringen Sie uns nach oben.« Die Tiefenruder stellten sich auf. Wasser wurde aus den Ballasttanks herausgedrückt. Das U-Boot stieg auf.
Yan-Li fasste nach einem Haltegriff, während das Mini-U-Boot durch die Meeresoberfläche brach. Sie fühlte sich am ganzen Körper wie taub und war vollkommen erschöpft.
»Öffnen Sie die Luke«, befahl Guānchá und sah sie auffordernd an.
Sie erhob sich von ihrem Platz und kletterte die kurze Leiter durch den Einstiegsschacht hinauf. Sie löste die Verriegelung und drehte das Verschlussrad, bis sie spürte, dass die Luke nachgab. Nun drückte sie sie vollends auf. Kühle Nachtluft strömte herein und weckte ihre Lebensgeister ein wenig.
Sie kletterte weiter durch den Verschlussring und schob den Kopf hinaus, um sich umzuschauen.
Der Frachter war nirgendwo zu sehen. Sie blickte in alle Himmelsrichtungen. Überall nichts als freier Ozean.
Sie war vollkommen perplex, bis ein seltsames Dröhnen die Ankunft von etwas vollkommen Unerwartetem ankündigte. Sie blickte nach Norden, als der Lärm von Strahltriebwerken an ihre Ohren drang und schnell näher kam. Auf ihre Position zurasend, gewahrte sie Emmersons Ekranoplan. Sein Seemonster. Repariert und jetzt hier, um sie alle aufzusammeln.