Callum machte einen hastigen Schritt in Kurts Richtung, aber Kurt hatte schon mit einer aggressiven Reaktion gerechnet. »Bleiben Sie ganz ruhig«, warnte er. »Ich bin auf Ihrer Seite.«
»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte ein anderer Pirat.
»Sprechen Sie leise«, bat Kurt. »Ich bin ein Freund von Yan-Li. Und wenn Sie am Ende dieser Geschichte nicht in einem nassen Grab landen wollen, dann sollten Sie sich lieber anhören, was ich zu sagen habe.«
Sein Erscheinen schockte und überwältigte Yan vollkommen. Sie brauchte einige Sekunden, um ihre Sprache wiederzufinden. »Wie sind Sie hierhergekommen?«
»Wer ist das?«, wollte Callum wissen.
»Kurt ist ein Freund von mir«, erklärte sie mit Nachdruck. »Er ist Amerikaner und arbeitet für die NUMA .«
Offenbar war Callum die Bezeichnung bekannt. »Sie sind es gewesen, der uns am Wrack dazwischenkam.«
Kurt reagierte mit einem entwaffnenden Lächeln auf den Vorwurf. »Dazwischenkam ist ein starkes Wort. Zumal, genau betrachtet, ich dort als Erster erschienen bin und die Computer längst nicht mehr dort waren. Aber Sie haben recht. Das war ich. Und jetzt bin ich hier, um Ihnen einen Ausweg anzubieten.«
»Wir haben einen Ausweg«, meinte einer der Piraten und hielt sein Kontobuch hoch.
»Haben Sie das wirklich?«, fragte Kurt. »Und wann kommen Sie an das Geld? Nachdem Sie auf den Grund des Meeres hinabgetaucht sind und Emmersons Supercomputer ins Glasfaserseekabelnetz eingefügt haben? Glauben Sie ernsthaft, dass er auf der Meeresoberfläche auf Sie warten wird, wenn Sie nach getaner Arbeit auftauchen? Glauben Sie wirklich, dass er die einzigen Leute auf der Welt, die wissen, was er getan hat – und wo er es getan hat –, am Leben lässt, damit sie darüber reden können? Hat einer von Ihnen mal Die Schatzinsel gelesen? Nachdem Kapitän Flint seinen Schatz vergrub, tötete er den Seemann, der ihm dabei geholfen hatte, damit er am Ende der Einzige war, der das Versteck kannte. Emmerson wird genau das Gleiche tun.«
Sie starrten ihn verwundert an. Er ließ sie starren. Sie sollten nachdenken. Sie sollten selbst erkennen, was ihnen bevorstand.
»Wie will er uns alle loswerden?«, fragte ein anderer Pirat.
»Da hat er jede Menge Möglichkeiten«, sagte Kurt. »Er kann Sie erschießen lassen, wenn Sie aus dem Wasser auftauchen oder einfach abfliegen und Sie wassertretend zurücklassen. Alles Weitere … nun, entweder ertrinken Sie oder Sie sterben an Unterkühlung oder ein Hai erbarmt sich Ihrer und verkürzt Ihre Qualen auf seine eigene Weise.«
»Wir werden wohl kaum Wassertreten«, sagte Yan. »Wir werden das U-Boot benutzen.«
»Das macht es ihm noch einfacher. Sieben auf einen Streich. Sie tauchen ab, spleißen den Computer wie geplant ein. Er hat vorher das U-Boot sabotiert, und niemand sieht Sie jemals wieder.«
Unruhe brach unter den Versammelten aus. Teils weil sie wussten, dass Kurts Szenarium sehr wahrscheinlich war, und dann auch, weil sie es einfach nicht glauben wollten. Diskussionen entbrannten. Argumente wurden hektisch ausgetauscht.
»Still«, verlangte Yan, als sie die Stimmen erhoben. »Einer von Ihnen sollte das U-Boot unter die Lupe nehmen. Nachschauen, ob irgendwelche Hinweise auf Sabotage zu finden sind.«
Ein Mann nickte und entfernte sich. Ein zweiter Mann begleitete ihn.
»Es wird ganz sicher nichts Offensichtliches sein«, sagte Kurt.
»Hoffen wir lieber das Gegenteil«, sagte Callum.
Kurt zuckte die Achseln. Er würde abwarten.
Yan sah ihn fragend an. »Während das Ergebnis kommt, könnten Sie uns doch verraten, wie Ihr weiterer Plan aussieht.«
»Im Grunde sehr simpel«, sagte Kurt. »Wir schnappen uns das Flugzeug mit Gewalt. Fliegen zurück nach Da Nang und übergeben Emmerson der Polizei.«
Dieser Vorschlag ging unter wie ein Ballon aus Blei.
»Sie haben sämtliche Waffen«, sagte Callum. »Und wir hätten kaum eine Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren, wenn die vietnamesische Regierung diese Maschine beschlagnahmt.«
»Meine Leute werden uns holen«, sagte Kurt.
»Und dann was? Haben wir dann die Wahl zwischen einem amerikanischen oder einem chinesischen Gefängnis?«
»Ich habe etwas wesentlich Besseres im Sinn«, sagte Kurt. »Eine Zehn-Millionen-Dollar-Belohnung. Und höchstwahrscheinlich einen schweren Fall akuter Amnesie auf Seiten der chinesischen Regierung hinsichtlich Ihrer jüngsten Aktivitäten.«
Sie sahen ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Kurt wandte sich an Yan-Li. »Erzählen Sie ihnen, wonach Sie gesucht haben, bevor Emmerson Sie in diese Geschichte hineingezogen hat.«
»Ching Shihs verschollenes Schatzschiff«, übernahm Yan-Li, »ist ein wichtiger Teil unseres kulturellen Erbes. Die Parteiführung in Peking zahlt demjenigen, der das Schiff findet, eine Belohnung von zehn Millionen US -Dollar. Ich bin seit zehn Jahren intensiv mit der Suche befasst. Kurt hat mir während des Sommers geholfen. Wir stehen dicht vor einem Erfolg.«
Offenbar waren die Piraten von dieser Geschichte weitaus mehr beeindruckt. Sie mochten vielleicht nicht wissen, was sich hinter dem Titel Die Schatzinsel verbarg, oder wer Kapitän Flint und Robert Louis Stevenson waren, aber ihre eigenen Legenden waren ihnen natürlich geläufig. Ching Shih wurde in China als Heldin verehrt, desgleichen Piraten und Schmuggler. Die Legende von ihrem gestohlenen Schatzschiff war ebenfalls allgemein bekannt. Alle paar Jahre fand jemand einen zerbrochenen Tonkrug oder eine alte Bronzestatue und behauptete, das Schiff gefunden zu haben. Damit wurde großes Aufsehen erregt, das sich aber schon bald wieder legte, weil das Schiff selbst verschwunden blieb.
Kurt ließ sie in Ruhe über den Schatz und die Belohnung nachdenken, und dann fügte er das Sahnehäubchen hinzu. »Seit wir abberufen wurden, haben Freunde von mir die Suche fortgesetzt – und das Wrack gefunden.«
Er holte sein Mobiltelefon aus einer wasserdichten Tasche. Nachdem er es eingeschaltet und den PIN -Code eingegeben hatte, reichte er es zu Yan-Li hinüber. »Scrollen Sie die Bilder durch«, schlug er vor. »Sie finden dort eine kleine Auswahl der Preziosen, die zu dem Schatz gehören.«
Sie öffnete die Foto-App und strich mit einem Finger seitwärts über das Telefondisplay. Das erste Dutzend Fotos zeigte Sonarscans und Bilder des Sub-Bottom-Profilers. Als Nächstes folgten die Artefakte, die Paul und Gamay Trout geborgen hatten.
»Meister Jun«, entzifferte sie die chinesischen Schriftzeichen.
Kurt nickte. »Das Schiff liegt dort«, bekräftigte er. »Begraben unter zwölf Metern Asche. Wenn es ausgegraben wird, wird es perfekt erhalten sein. Der Fund des Jahrhunderts. Und zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen nur eine Handvoll Leute, wo genau es liegt, und keiner von ihnen arbeitet für die chinesische Regierung. Wenn Sie mir helfen, Emmerson dieses Flugzeug abzunehmen, dann werden wir das Weite suchen. Und es bleibt Ihnen überlassen, das Wrack zu finden und Reichtum, Ruhm und Ehre auskosten zu dürfen.«
Die Männer begannen, über diese Idee zu diskutieren. Diesmal mit gesenkten Stimmen, im Flüsterton und bei Weitem ruhiger als vorher. Für Kurt war das ein Zeichen, dass er sie zumindest teilweise überzeugt und auf seine Seite gezogen hatte.
Yan war weiterhin in die Betrachtung der Fotos vertieft. Bis sie eins fand, das sie fast zu Tränen rührte. Es zeigte ihre Mutter und ihre Kinder auf dem Deck der Sapphire , und hinter ihnen Kurt, der die Arme um sie legte.
Mit einem Zischen zog sie die Luft ein, hob den Kopf und sah ihn mit glänzenden Augen an. »Das ist doch kein Trick, oder?«
Er wusste genau, was sie gesehen hatte. »Sie sind es wirklich«, bestätigte er. »Vor vierundzwanzig Stunden auf dem Deck der Sapphire aufgenommen.«
Sie betrachtete das Foto noch einige Sekunden länger, sehnsuchtsvoll verloren im Lächeln ihrer Kinder und ihrer Mutter. »Danke«, sagte sie mit vor Rührung heiserer Stimme. »Vielen Dank.«
Kurt nickte, und sie scrollte zu den Bildern von den Artefakten zurück. Dann reichte sie das Telefon den anderen Piraten, und sie ließen es von Hand zu Hand wandern, während sie die Fotos studierten. Die Bilder waren scharf, die Details beeindruckend, aber keiner der Piraten verfügte über das historische Wissen, um entscheiden zu können, ob diese Bilder Fälschungen waren oder nicht.
»Trauen Sie ihm?«, fragte einer von ihnen.
»Mehr als jedem anderen Menschen, den ich kenne«, antwortete sie mit Nachdruck. »Auf jeden Fall mehr, als ich Emmerson jemals trauen würde.«
Das schien allen auszureichen. Außer einem.
»Also, ich traue ihm nicht«, sagte Callum laut. »Er ist ein amerikanischer Agent, der uns jede Lüge auftischen würde, um zu erreichen, was er vorhat. Aber im Grunde ist es mir vollkommen egal, ob er lügt oder die Wahrheit sagt. Emmerson hat zwei unserer Brüder ermordet, und es wird Zeit, dass wir es ihm heimzahlen.«
Danach warf Callum das Kontobuch voller Abscheu auf den Boden. »Lieber sterbe ich bei dem Versuch, Emmerson für das, was er getan hat, zu töten, als von seinem Geld zu leben.«
Das hatte Kurt nicht erwartet. Aber es war ihm durchaus willkommen. Bei Auseinandersetzungen an räumlich stark begrenzten Schauplätzen wie diesem war Rache ein viel besserer Antrieb, aufs Ganze zu gehen, als Geld.
Und falls Callums entschlossene Haltung nicht ausreichte, kamen die beiden Männer zurück, die das Mini-U-Boot inspiziert hatten. Einer von ihnen hielt ein Paar schwarzer Zylinder in den Händen.
»Diese hier haben wir gefunden«, sagte der andere. »Sie waren versteckt und bereits scharf gemacht, um jederzeit gezündet zu werden.«
Auf einem Display im Gehäuse der Sprengladung waren die Ziffern einer Countdown-Uhr zu erkennen, die bei 0073 angehalten worden war. Kurt verlor kein Wort darüber, dass die Sprengladungen von ihm stammten und er sie im U-Boot platziert hatte, während er sich dort versteckt hatte, nachdem der Ekranoplan gestartet war. Er hatte eigentlich nicht beabsichtigt, dass die Ladungen gefunden wurden, da er sie als letzte Versicherung betrachtete, für den Fall, dass Yans Leute doch nicht bereit waren, sich auf seine Seite zu schlagen. Aber Callums Worten nach zu urteilen – und angesichts des aufgefundenen Sprengstoffs – waren die Piraten nun geradezu begierig, in den Kampf zu ziehen.
Einer nach dem anderen warf sein Kontobuch auf den Boden. Nach klassischer Piratensitte hatten sie ihren Bund besiegelt. Und nun wurde es Zeit, die Meuterei in Szene zu setzen.