Joe Doane konnte nicht einschlafen. Auf der einen Seite heulte eine Familie, weil der Mann tot war, auf der anderen jubelte einer, weil er noch lebte.
Als er das Klagegeheul der Cadaras nicht länger ertragen konnte, zog Joe vom Schlafzimmer auf das Sofa in der Stube um. Aber nicht nur verrenkte ihm das Sofa in der Stube seinen Hals auf eine Hälsen ganz unliebsame Weise, er war nun auch zu nah an Ignace Silvas Freudengeheul, weil der nicht mit einem der Doryboote gekentert war, als der Schoner Lillie-Bennie letzten Donnerstagnachmittag von einer Bö erfasst worden war und man die Männer nicht mehr von den Dorys hatte holen können, ehe das Meer sie holte. Joe Cadara war auf einem Boot gewesen, das es nicht geschafft hatte – daher das Geheul zur Linken der Doanes, denn Joe Cadara hinterließ eine Frau und vier Kinder, und die hatten eine Menge Freunde, die ihnen heulen halfen. Ignace Silva wiederum hatte es zurück aufs Schiff geschafft – unglücklicherweise, wenn man nämlich um zwei Uhr morgens von jemandem wachgehalten wird, dann wünscht man ihm den Tod. Heute Nacht saßen also seine Freunde mit ein paar Flaschen nebenan, denn wenn jemand hätte sterben können, zollt man dem zumindest Respekt, indem man sich gemeinsam betrinkt.
In jener Nacht bekamen die Leute in Cape’s End keinen Schlaf. Jeder, der nicht selbst trauerte oder jubilierte, wurde von Trauernden oder Jubelnden wachgehalten. Mit allem, was an widerwärtigem, gepantschtem Whiskey unter der Hand zu haben war, wurden die Gefühle abgetötet oder aufgepeitscht. Joe Doane musste zugeben, dass er gern einen Schluck gehabt hätte. Allzu gern hätte er nicht mehr an tote Fischer denken und lebendigen zuhören wollen. Seit man vor zwei Tagen aus Boston gehört hatte, dass die Lillie-Bennie eines jener Schiffe war, die es »erwischt« hatte, waren alle mit den Nerven am Ende.
Wie viele ihrer Männer sie heimbringen würde, wusste niemand genau, bis die Lillie-Bennie an jenem Nachmittag einlief. Alle sahen ihr draußen vom Langen Kai aus bei der Einfahrt zu und waren gespannt, wer an Land käme und wer nicht. Frauen waren da und jede Menge Kinder. Einige der Frau-und-Kinder-Grüppchen verließen den Kai mit einem Mann im Arm und lachten oder machten vielleicht ein dummes Gesicht, dass sie je hatten denken können, er wäre tot. Andere gingen so, wie sie gekommen waren – vielleicht ganz still, vielleicht weinend. Alte Männer gingen mit den Sachen ihrer Söhne weg, die nicht von der See zurückgekehrt waren. Alles war ganz so wie im Film, nur war man nachher nicht beruhigt.
Er hatte also, wie er allem ringsum unwirsch verkündete, Schlaf dringend nötig, rieb sich den Nacken und fragte sich, warum Sofas so gebaut waren; dann drehte er sich auf die andere Seite. Anstatt aber zu schlafen, dachte er an Joe Cadara. Freundliche Gedanken waren das an Joe Cadara; viel freundlicher als seine Gedanken an Ignace Silva. Zunächst einmal hatte Joe keinen Lärm gemacht. Schon als er noch lebte, hatte Joe wenig Lärm verursacht. Seine Stelle auf einem Schiff hatte er schon immer gehabt; immer war er in seinem Ölzeug die Front Street entlanggekommen, bei seinem roten Häuschen eingebogen, war nach einer Weile wieder herausgetreten und hatte in seinem Garten herumgehackt oder seinen Schuppen geflickt, draußen auf dem Kai gesessen und gelauscht, was Ignace Silva und die anderen portugiesischen Maulhelden zu sagen hatten – und war wieder in seinem roten Häuschen verschwunden. Er – na ja, er war eben ganz so wie das Meer. Es kam herein, es floss hinaus. Als Joe Cadara sich das letzte Mal gerade zum Ausfahren aufmachte, lief ihm Joe Doane über den Weg. »Na, Joe«, sagte Joe Doane, »wieder raus?« »Wieder raus«, sagte Joe Cadara, und weiter schien nichts dabei zu sein. Er sah zu, wie er die Straße entlangging – klein, kompakt, langsam, stumpfsinnig. Mit stumpfsinnig meinte er – na, stumpfsinnig wie das Meer –, er machte eben immer weiter. Und jetzt –
Mit einem Mal hielt er Ignace Silva nicht mehr aus. »Verdammt!«, brüllte Joe Doane aus dem Fenster, »wisst ihr denn nicht, dass jemand gestorben ist?« Sofort war nichts weiter zu hören als das Meer. Rein – raus …
Er ging wieder ins Schlafzimmer. »Ich kann auch nicht schlafen«, sagte seine Frau – wie manche Leute gleich zu verstehen geben, dass es ihnen auch nicht besser geht als anderen.
Bei den Cadaras schien es vorerst still zu sein. Die Kinder waren eingeschlafen, die Freunde ebenso. Jetzt gab es nur noch ein Geräusch, wo zuvor viele waren. Und das schien vom Meer zu kommen. Man hörte es, wenn eine Welle brach und auslief. In der kleinen Pause zwischen einem Rein, einem Raus war klar, dass Mrs. Cadara nicht eingeschlafen war, man hörte, dass Mrs. Cadara weinte, denn Joe Cadara war tot im Meer.
Joe Doane und seine Frau Mary lagen also da und lauschten, wie Annie Cadara um ihren Gatten Joe Cadara weinte.
Schließlich richtete sich Mrs. Doane auf ihrem Kissen auf und seufzte. »Sie fragt sich wahrscheinlich, was sie jetzt machen soll – die vier Kinder.«
Er sah Joe Cadaras Rücken die Front Street entlanggehen – breit, langsam, stumpfsinnig. »Wahrscheinlich«, sagte er, als erklärte er etwas, das bis dahin vielleicht nicht selbstverständlich gewesen war, »geht es ihr nicht gut, weil sie ihn nie wiedersehen wird.«
»Natürlich, das ist doch klar«, sagte seine Frau ungeduldig, als hätte er ihr auf irgendeine Weise widersprochen.
Aber nachdem sie seinen Gedanken vereinnahmt hatte, kam sie auf ihren eigenen zurück. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie zurechtkommen soll. Ich glaube, wir müssen ihnen ein bisschen helfen.«
Schweigend lag Joe Doane da. Er konnte niemandem groß helfen – leider. Er hatte seine eigenen drei Kinder – und man konnte ein Doane sein, ohne Geld zum Helfen zu haben, auch wenn es Leute gab, denen das nicht in den Schädel wollte. Um die Doanes hatte es auch schon anders gestanden. Wenn Flut ist und man liegt morgens um drei wach, ist alles mehr oder weniger wie das Meer – jedenfalls war das bei Joe Doane jetzt so. Sein Großvater Ebenezer Doane, der Walfangkapitän – rein – raus – Silas Doane – eine Flotte draußen bei den Grand Banks – rein – raus – überhaupt alle Doanes. Mit ihrer Hilfe war aus dem Kap ja erst was geworden, aber – rein – raus – plötzlich musste Joe lachen.
»Worüber lachst du denn?«, wollte seine Frau wissen.
»Ich muss nur lachen«, sagte Joe, »weil ich dachte, was die alten Doanes wohl sagen würden, wenn sie uns sehen könnten.«
»Da gibt es ja wohl gar nichts zu lachen«, sagte Mrs. Doane.
»Ach, ich finde schon«, meinte ihr Mann bester Laune, »das ist doch ein Riesenscherz auf ihre Kosten.«
»Wenn das ein Scherz ist«, stellte seine Frau fest, »dann nicht auf ihre Kosten.«
Er war sich nicht ganz sicher, auf wessen Kosten der Scherz eigentlich ging. Er lag da und dachte darüber nach. Wenn man nachts um drei nicht schlafen kann und Flut ist, kann man schon durcheinanderkommen – welcher Scherz auf wessen Kosten ging.
Aber nein, der Scherz ging tatsächlich auf ihre Kosten, weil sie ihr langes, langsames Rein–Raus gehabt hatten –, ihren Walfang und ihre Flotten, und jetzt kam danach ausgerechnet er –, ein Flickschuster an anderer Leute Booten, ein Schiffszimmermann, der sogar an Häusern herumzimmerte. »Lass das doch Joe Doane erledigen.« Und wie gern Joe Doane es erledigte. Und links und rechts von ihm wohnten Portos!
Er lachte. »Du hast ja eine komische Vorstellung von einem Scherz«, sagte seine Frau empört.
Das mochte wohl sein. Was für ihn ein Scherz war, sah niemand anders so. Vielleicht war er deswegen manchmal ganz allein. Allmählich verlor er sich in diesem Rein–Raus. Undeutlich hörte er Mrs. Cadaras Weinen – Joe Cadara war auf See geblieben, und undeutlich hörte er seine Frau sagen: »Ich glaube, Agnes Cadara könnten Myrties Schuhe passen, nur – wie es aussieht, muss Myrtie ihre Schuhe selbst auftragen.«
Als er am nächsten Tag mittags nach Hause kam – er war arbeiten gewesen, dann hatte er Ed Davis beim Anstreichen von Stills Laden geholfen –, standen seine beiden Jungs – die Jungen waren jünger als Myrtie – an den Lattenzaun gepresst, der Doanes und Cadaras trennte.
»Was’ denn mit den Kindern los?«, fragte er seine Frau nach dem Abendessen beim Abwasch.
»Ach, die wollen bloß gucken«, sie sprach ihre Antwort in den Herd.
»Was denn gucken?«, fragte er; aber entweder war die Antwort Mrs. Doane zu offensichtlich oder zu schwierig, also ging er zur Tür und rief: »Joe! Edgar! Was gibt’s denn da zu glotzen?«
Der kleine Joe buddelte mit dem Zeh. »Die Cadaras kriegen eine Menge Besuch.«
»Sie weinen!«, verkündete stolz der jüngere und wahrhaftigere Edgar.
»So, tun sie das? In ihrem eigenen Haus dürfen sie doch weinen, oder? Lasst mal die Cadaras und sucht euch hier euren Spaß.«
Die Jungs schienen das nicht witzig zu finden und Mrs. Doane auch nicht, ihr Vater aber gluckste vor sich hin, als sie sich zum Essen vor ihre gebackene Flunder setzten.
Die Cadaras zu lassen und seinen Spaß zu Hause zu suchen, geriet allerdings zusehends schwieriger. Die Lillie-Bennie hatte ihre Männer im Frühsommer verloren, und die Sommergäste strömten in den Ort wie die Wittlinge ins Hafenbecken.
Für die Sommergäste hatte es in Cape’s End noch nie sonderlich viel zu tun gegeben, daher war »das Unglück« für ihre Sommerunterhaltung gar kein Unglück. Mit anderen Worten, die Sommergäste gingen die Cadaras besuchen. Die jungen Doanes verbrachten viel Zeit am Lattenzaun; manchmal kamen die jungen Cadaras raus, um sie gnädig einzuweihen. »Eine Frau, die hat meiner Mutter eine schwarze Kleid gebracht.« Oder: »Eine Dame und ihre zwei Jungs sind gekommen mit Automobil und mir haben Kinderauto gebracht und weiße Hose.« Eines Tages kam Joe Doane von der Arbeit nach Hause und fand seinen Jüngsten in Tränen, weil Tony Cadara ihm nicht sein Kinderauto leihen wollte. Damit verkehrten die Dinge sich ins Gegenteil; bislang hatten Cadaras wegen der Besitztümer von Doanes geweint. Joe lachte darüber und sagte Edgar, er solle nicht traurig sein, vielleicht hätte er selbst eines Tages ein Kinderauto – bis dahin hätte er immerhin einen Papa.
Agnes Cadara und Myrtie Doane waren ungefähr im selben Alter. Sie gingen in dieselbe Klasse. Eines Tages, nachdem Joe Doane draußen einiges an der Lillie-Bennie repariert hatte und sein Dory an Land zog, sah er eine junge Lady auf der Spundwand der Cadaras stehen. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, aber es war unverkennbar, dass sie schön war. Sie sah aus wie jemand von außerhalb, jedoch nicht wie die übliche Sorte Sommergäste. Myrtie stand da und betrachtete die feine Erscheinung.
»Wer ist das?«, fragte Joe.
»Wieso«, flüsterte Myrtie ehrfurchtsvoll, »das ist Agnes Cadara – in ihrem Trauerkleid.«
Man hätte es nicht geglaubt, bis sie sich umwandte. »Na«, sagte er zu Myrtie, »ein Jammer, dass nicht mehr Frauen was zum Trauern haben.«
»Ja«, hauchte Myrtie, »ist sie nicht wunderschön?«
Agnes hatte ihr Trauerkleid von der jungen Mrs. MacCrea erhalten, die oben am Hang wohnte und selbst gerade ihre Trauerzeit beendete. Scheinbar waren Mrs. MacCrea und Agnes ähnlich gebaut, obgleich man es nicht vermutet hätte, ehe Agnes’ Trauerzeit begonnen hatte. Mrs. MacCrea kam aus New York, und diese Kleider hatte eine Frau genäht, die Mrs. MacCrea beim Vornamen nannte. Aber selbst wenn das so eine Frau war, die man beim Vornamen nannte, brachte sie es doch fertig, dass eine so aussah, als wäre sie von woandersher. Ehe Agnes Cadara etwas zum Trauern hatte, war sie bloß »eins von diesen gut aussehenden portugiesischen Mädchen« gewesen. Von denen gab es in Cape’s End zu viele, als dass man ihretwegen in Wallungen geraten würde. Eines Tages hörte er ein paar Frauen am Strand sagen, diese Kleider hätten Agnes »gefunden« – als wäre sie verloren gewesen.
Mrs. MacCrea zeigte Agnes, wie sie ihre Haare so zurechtmachen konnte, dass sie zu ihrem Kleid passten. Einmal kam Joe früher nach Hause, weil er im Regen nicht anstreichen konnte, und als er nach oben ging, sah er, wie Myrtie versuchte, auch ihre Haare so hinzubekommen. Aber mit Myrties Haaren war das einfach nicht zu machen. Myrties Haare ließen einfach nicht alles mit sich anstellen. Sie war ganz rot im Gesicht vor Anstrengung und vor Ärger, weil sie es nicht hinbekam. Er musste lachen, aber das half überhaupt nichts. Deshalb sagte er: »Lass gut sein, Myrtie, wir können nicht alle Trauer tragen.«
»Ist mir egal«, schniefte Myrtie, »das ist nicht fair.«
Er musste wieder lachen, und weil sie nicht einsah, was es da zu lachen gab, musste er erneut versuchen, sie zu trösten. »Schon gut, Myrt«, sagte er, »dafür hast du etwas, das Agnes Cadara nicht hat.«
»Und was soll das bitte sein«, sagte Myrtie und zerrte an ihren Haaren.
Er wartete ab; komisch, dass sie nicht selbst drauf kam. »Na – einen Vater.«
»Ach so«, sagte Myrtie, als fiele ihr sonst dazu nichts ein. »Na ja …«
Jemand schenkte Mrs. Cadara eine Kochkiste. Mrs. Doane besaß keine Kochkiste. Deshalb musste sie den ganzen Tag an ihrem heißen Herd stehen – und davon sprach sie häufig. »Mein Abendessen ist in der Kochkiste«, sagte Mrs. Cadara und blieb draußen im kühlen Hof beim Jäten ihres Beetes. »So eine Kochkiste, das wäre schon schön«, sagte Mrs. Doane, als sie das Essen auf den Tisch stellte und sich mit ihrer Schürze die Stirn abwischte.
»Na, dann bring doch einfach deinen Mann um«, konterte Joe Doane. »Wenn du nur keinen Mann hättest, könntest du ja eine Kochkiste bekommen.«
Scherzhaft fragte er: »Was wäre dir lieber, ein Mann oder eine Kochkiste?« Er argumentierte für und wider – und manchmal brachte er alle zum Lachen, nur dass die Diskussion nie besonders lang ausfiel. Eines Tages fiel ihm auf, dass die Debatten so kurz waren, weil die anderen ihren Standpunkt nicht entschieden vertraten. Er vertrat die Seite der Kochkiste, und bei einem echten Streitgespräch hätten die anderen sich für den Ehemann aussprechen müssen. Aber scheinbar ließ sich für einen Ehemann viel weniger ins Feld führen als für eine Kochkiste. Ihm kam das schon ziemlich ulkig vor, aber scheinbar war er der Einzige, der das witzig fand. Wenn er manchmal erschöpft nach Hause kam – Gelegenheitsarbeiten können einen nämlich genauso ermüden wie regelmäßige – und sich anhörte, was die Cadaras alles aus ihrer Kochkiste zu essen bekamen, wünschte er sich, jemand anders übernähme das Witzereißen. Es war ziemlich ermüdend, alles selber machen zu müssen – und einsam dazu.
Eines Morgens wachte er besonders erholt und erquickt auf. Er sollte auf der Lillie-Bennie arbeiten, und wenn er auf einem Schiff arbeitete, war er stets besser aufgelegt.
Es war ein kühler, frischer Sonnenmorgen. Er fing an zu singen – er dachte sich häufig Lieder aus. Dieses hieß: »Ich wäre lieber am Leben als tot.« Da ihm kein weiterer Text einfiel, sang er beim Anziehen diesen immer wieder zu einer Melodie, die immer ergreifender geriet. Er ging zum Fenster neben dem Spiegel. Da sah er, wie ihn drüben von den Cadaras her ein Neuankömmling anblickte.
Er starrte hinüber. Dann lachte er laut und lange, riss das Fenster auf und rief: »Hallöchen!«
Der Neuankömmling gab keine Antwort, wollte man nicht ein leichtes Kopfsenken gelten lassen.
»Na, du bist ja wohl der Gipfel!«, rief Joe Doane.
Die jungen Doanes hatten den Zuwachs zur Cadara-Familie entdeckt und kamen aus dem Haus gelaufen.
»Papa!«, rief Edgar, »die Cadaras haben eine Ziege!«
»Ob ihr’s glaubt oder nicht«, sagte sein Vater, »das dachte ich mir schon, dass das eine Ziege ist.«
Die jungen Cadaras kamen aus ihrem Haus, um den jungen Doanes mitzuteilen, worin genau ihre Privilegien hinsichtlich der Ziege bestanden und worin nicht. Um sie herumgehen und sie anschauen durften sie; am Strick führen durften sie sie nicht.
»Jetzt ist alle Hoffnung verloren«, schüttelte Joe düster den Kopf, »kein vernünftiger Mann nimmt es mit einer Ziege auf.«
Die kleinen Doanes wollten nicht reinkommen und frühstücken. Lieber blieben sie draußen und liefen um die Ziege herum.
»Wirklich ein Jammer, finde ich«, seufzte ihre Mutter, »mit dem Kinderauto und dem feinen Kostüm und dem Segelboot hatten die Kinder genug zu hadern – auch ohne diese Ziege. Unsere Kinder haben offenbar nichts von dem, was die Cadaras haben.«
»Außer …«, sagte Joe und wartete, dass jemand den Satz beendete. Aber niemand sagte etwas, also vollendete er den Satz mit einem Lachen – einem ziemlich kurzen Lachen.
»Pass bloß auf, sonst stecken sie dich noch in die Kochkiste!«, rief er der Ziege auf dem Weg zur Arbeit zu.
Aber als er mittags nach Hause kam, verging ihm das Lachen. Er kam vorn zum Törchen herein, und die Ziege verstellte ihm den Weg. Die Cadaras hatten sich darauf eingelassen, die Ziege besuchsweise zu den Doanes und dort auch grasen zu lassen. »Verzieh dich!«, rief Joe Doane unwirsch, so gar nicht wie Joe Doane.
»Papa!«, flüsterte der junge Joe Doane staunend, »das ist eine Regierungsziege.«
»Was geht mich das an?«, erwiderte sein Vater. »Zum Teufel mit der Regierungsziege!«
Alle wichen zurück wie bei einer Gotteslästerung – oder gar Hochverrat. Diese portugiesischen Kinder sahen ihn an, als gehörten sie zur Regierung und er nicht. Er war so wütend, dass er Tony Cadara anfuhr: »Zur Hölle mit eurer Regierungsziege!«.
Von ihrer Seite des Zauns rief Mrs. Cadara: »Tony, du bringst die Ziege sofort nach Hause«, als wolle sie ihr Kind – oder ihre Ziege – von etwas Bösem fernhalten.
»Und lasst sie dort!«, warf Joe Doane hinterher.
Die Doanes aßen in schreckerfülltem Schweigen. Schließlich brach es aus Doane hervor. »Was ist los mit euch? So viel Aufhebens, weil eine Ziege zurückgepfiffen wurde?«
»Es ist eine Regierungsziege«, lispelte Edgar.
»Das ist eine Regierungsziege«, wiederholte seine Frau angespannt.
»Was soll das heißen – Regierungsziege? So ein Tier gibt’s gar nicht.«
Scheinbar aber doch. Nicht nur hatten die Cadaras eine Ziege, sondern auch ein Buch dazu. Das Buch war von der Regierung. Die Regierung hatte die Ziege aufgezogen und die Familie Cadara ausgewählt, der eine Regierungsziege zugesprochen wurde. Die Cadaras hielten sie treuhänderisch für die Regierung. Und tranken derweil ihre Milch.
»Tony Cadara hat gesagt, wenn ich heute Nachmittag für ihn nach Muscheln buddle, lässt er mich heute Abend beim Melken helfen«, sagte Joe Junior.
Das war zu viel. »Habt ihr eigentlich kein Rückgrat im Leib? Fallt vor diesen Portos auf die Knie, weil ein paar mitleidige Gestalten denen was schenken. Das sind Muschelköppe. Ihr seid Doanes.«
»Ich will eine Ziege!«, heulte Edgar. Sein Vater stand vom Tisch auf.
»Die Kinder haben recht«, sagte seine Frau mit ihrer geduldigen Stimme, die einen auf die Palme brachte. »Wenn sie bei anderen Kindern so was sehen, wollen sie das natürlich auch haben.«
Er musste raus! Im Schuppen stieß er auf seine Angelleine und nahm sie mit. Er wollte hinaus zur Mole, vielleicht würde er etwas fangen, jedenfalls aber hätte er seine Ruhe.
Die Mole war nicht weit vom Haus, ein Stück den Strand hinunter. Ab und zu ging er da raus. Ab und zu hatte er das Gefühl, er müsse mal für sich sein. Sie war eine halbe Meile lang und bestand aus großen Felsbrocken mit großen Lücken dazwischen. Man musste ein bisschen kraxeln, konnte sich vorstellen, man wäre in den Bergen, irgendwo anders, weit weg. Nur wenn die Flut reinkam, stieg das Meer in die Lücken und man musste »aufpassen, wo man hintrat«.
Er ging weit hinaus, kehrte dem Städtchen den Rücken zu und angelte. Die Arbeiten an der Lillie-Bennie sollte er nicht abschließen. Man hatte ihm gesagt, man wolle am Morgen jemanden zum Kap runter nach einem »Experten« schicken. Er würde wahrscheinlich am neuen Kühlhaus arbeiten, zusammen mit einem Haufen Portos. Was lief eigentlich schief bei ihm, fragte er sich. Offenbar war alles eben einfach so gekommen. Es war nicht einfach, Arme-Leute-Arbeiten zu erledigen, wenn man eigentlich Geld haben sollte. Ungefähr drei Jahre, bevor sein Vater seine Schiffe verkauft hatte, brachte die Fischerei um die »Banks« herum kein Geld mehr ein. Während dieser letzten drei Jahre hatte Kapitän Silas Doane sein ganzes Geld aufgewendet, damit das Geschäft weiterlief, er weigerte sich einzusehen, dass sich die Fischverarbeitung verändert hatte und dass der Fischfang zwischen Cape’s End und den Grand Banks sich nicht wieder erholen würde.
Eines seiner Schiffe hatte er beim Verkauf behalten, und im nächsten Winter lief es gleich da drüben, gegenüber dem Nordostarm des Kaps, auf Grund. Joe Doane war in jener Nacht mit an Bord gewesen. Damals war Myrtie noch ein Baby. Und an die kleine Myrtie hatte er gedacht, als das Schiff zu zerschellen drohte, bevor sie von ihm herunterkamen. Er durfte nicht verloren gehen! Er musste am Leben bleiben und arbeiten, damit sein kleines Mädchen alles bekäme, was sie wollte. Nach dieser Geschichte besaßen die Doanes kein Schiff mehr, und Doanes ohne Schiff waren Fische an Land. Noch nie hatte es ihnen gelegen, auf den Booten anderer Leute zu arbeiten. Wahrscheinlich hatte er nie irgendetwas Großes, Neues angefangen, weil er immer davon ausgegangen war, dass er sowieso bald wieder ausfahren würde. Einige gute Jahre waren so vorbeigerauscht, und immer noch vergeudete er nur Zeit. Mehr und mehr sah es danach aus, als würde er nie wieder ausfahren.
Plötzlich musste er lachen. Wirklich ein Scherz mit Joe Cadara! Er sah ihn vor sich, wie er die Front Street entlangging, breit, langsam, stumpfsinnig. Joe Cadara war der Überzeugung gewesen, seine Familie würde ihn brauchen. Er hatte geglaubt, sie kämen nur durch seine Fahrten über die Runden. Aber war Joe Cadara je in der Lage gewesen, seiner Frau eine Kochkiste zu schenken? Hatte die Regierung den Cadaras eine Ziege geschenkt, als Joe noch da war? Joe Doane saß auf der Mole und lachte über den Scherz auf Joe Cadaras Kosten. Als Agnes Cadara klein war, lief sie ihrem Vater entgegen, wenn er von einer Fahrt nach Hause kam. Joe Doane hatte sie immer rennen sehen. Aber über ihr Trauerkleid freute sich Agnes halb tot!
Lange Zeit saß er dort – saß dort, bis er nicht mehr sicher war, ob es ein Scherz war oder nicht. Jedoch fing er zwei Schellfische und mehr Wittling, als er nach Hause schleppen wollte. Es ging ihm also besser. Manchmal braucht ein Mann einfach Zeit für sich.
Als er zu seinem Haus einbog, sah er, wie Ignace Silva drauf und dran war, mit Kapitän Gorspie auszufahren. Silva war überzeugt, er müsse unbedingt ausfahren. Aber Silva war gerettet worden – und hatte seine Frau eine Kochkiste? Plötzlich rief Joe Doane ihm zu: »He! Silva! Die Regierungsziege, das bist du!«
Doane lachte, daran erkannte Silva, dass es sich um einen Witz handelte; da er keinen eigenen Witz parat hatte, drehte er Joes einfach um und schickte ihn zurück.
»Selber Regierungsziege!«
»Würd mich nicht wundern«, erwiderte Joe amüsiert.
Am Abendbrottisch brachte er alle Doanes zum Lachen. »Alle herhören! Alle herhören! Stimmt schon, ihr habt einen Vater anstelle einer Ziege – aber wir haben alle unser Kreuz zu tragen! Wir haben alle unser Kreuz zu tragen!«
»Los!«, sagte er nach dem Essen, »alle Frauen, alle Kinder schnappen sich eine Mütze. Wolln doch mal sehen, ob Ed Smith vielleicht Limonade hat.«
Als sie hinausgingen, warf er einen Blick zu den Cadaras hinüber und tat überrascht. »Was ist denn mit dieser Ziege los? Sieht nicht aus, als ob die Ziege den Cadaras Limonade spendiert.«
Am nächsten Tag baute er Edgar ein Kinderauto. Joe versprach er, ihm ein Segelboot zu bauen. Allerdings bekam er mächtig Gegenwind. Die Sommergäste in Cape’s End veranstalteten »Straßen von Bagdad«, und die Einnahmen dieses Basars sollten den »Unglücksfamilien« zugutekommen. Wenn die Sommergäste nach und nach abreisten, war es üblich, dass sie einer Familie, die ein Unglück erlitten hatte, alles überließen, was sie nicht mitnehmen wollten. Die Doanes hatten kein Unglück erlitten; es wäre sowieso niemandem eingefallen, Leuten wie den Doanes Sachen zu überlassen. Richtig, manchmal kam Mr. Doane her und setzte einem das Fliegengitter in die Tür ein, aber das war ja eher so, wie wenn einem der Nachbar aushilft. Ein Mann, der am Meer wohnt und an Land arbeitet, macht keine pittoreske Figur. Außerdem war Joe Doane nicht nur am Leben, sondern auch kein Portugiese. Folglich gingen die Unterwäsche, die Schläger und die Konserven, die nicht in die Stadt mitgenommen werden sollten, an die Cadaras. Kein Vater – erst recht keiner ohne feste Beschäftigung – durfte hoffen, mit all dem zu konkurrieren, das nicht in die Koffer sollte.
Auf jeden Fall konnte er unmöglich eine Ziege bauen. Er mochte noch so viel Witz und Freundlichkeit ausstrahlen, beides konnte für seine Jungs nicht dasselbe leisten wie die Ziege für die Cadaras. Mit der Zeit entwickelte Joe Doane einen fürchterlichen Hass auf die Regierungsziege. Portos waren bloß Portos, trotzdem hatten sie die Regierungsziege. Doanes gab es am Kap immerhin seit mehr als hundert Jahren. Es hatte Zeiten gegeben, als jedermann ringsum für die Doanes gearbeitet hatte, aber jetzt kamen seine Jungs der Regierung nicht näher, als der Regierungsziege der Cadaras Gute Nacht zu sagen! Noch vor fünfundzwanzig Jahren hatten die Cadaras in einer Hütte auf den gottverlassenen Azoren gehockt! Allenfalls hatten sie vielleicht gewusst, dass die Vereinigten Staaten eine Regierung hatten. Und jetzt sangen ihm die Cadara-Kinder ganze Arien von der Regierung vor. Er wusste genau, irgendwo steckte in all dem ein Scherz, hinter seiner ganzen Aufregung darüber, dennoch saß er bloß da und sah der Ziege auf dem leeren Grundstück gegenüber den Cadaras beim Fressen zu, bis sie mehr war als bloß eine Ziege. Sie war der Lauf der Dinge. Eines Tages, als er dasaß und zusah, wie Tony Cadara seine Ziege molk – neben ihm sehnsüchtig glotzende Jungs –, rief Ignace Silva, der gerade von einer Fahrt zurückkam: »Selber Regierungsziege!«, und lachte über – er wusste selbst nicht, worüber.
Bei Gott! – Das stimmte! Ein Doane ohne Schiff. Ein Einheimischer, der sich von dämlichen Anfängern aus irgendeinem Drecksflecken im Meer verdrängen ließ! Ein Mann, der im Gang der Dinge den Boden unter den Füßen verloren hatte. Eine Familie, die einen Ort aufgebaut hatte, nur damit dort nun andere fett würden. Natürlich war er die Regierungsziege. Nur weil er am Leben war, enthielt er seiner Familie all die schicken Sachen vor, die sie haben könnten, wäre er nur tot. Konnte man überhaupt noch mehr Ziege sein?
Agnes Cadara und Myrtie kamen zusammen die Straße hoch. Ihm kam es vor, als wäre Myrtie reingelegt worden, weil sie zusammen mit Agnes Cadara ging. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte Agnes Cadara darauf gewartet, mit Myrtie zu gehen! Plötzlich dachte er daran, wie seine Frau gesagt hatte, dass Agnes Cadara vielleicht Myrties Schuhe tragen könnte. Er schaute Agnes Cadaras Füße an – dann Myrties. Myrtie sah geradezu aus wie ein Kind aus dem Waisenhaus, das neben der Tochter eines großen Herrn aus der Stadt herläuft!
Er stand auf und marschierte los Richtung Stadt. Nicht mit ihm! Denen würde er es zeigen! Er würde für Myrtie – na, jetzt kauft er Myrtie –! Er steckte die Hand in die Tasche. Ein Dollar Kleingeld. Der Rest des Wochenlohns war an Lou Hibbard gegangen, Einkäufe. Na ja, bei Wilkinsons würde er anschreiben können. Für Myrtie würde er …
Er kam an einem Hutgeschäft vorbei. Im Fenster hatten sie eine Menge schwarze Bänder ausgelegt. Er stand davor und sah sich alles an. Dann lachte er. Genau richtig!
»Freu dich, Myrt«, sagte er, als er nach Hause kam und es ihr zeigte. »Jetzt kannst du ein kleines bisschen trauern. Denn ein kleines bisschen was hast du ja zu trauern.«
Skeptisch nahm Myrtie es entgegen – dann legte sie es sich um den Hals. Es gefiel ihr, und darüber musste ihr Vater lachen. Er lachte lange – als wollte er den Klang seines Gelächters nicht missen.
»Das ist so albern – lachen, wenn es nichts zu lachen gibt«, sagte schließlich seine Frau.
»Ach, da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Joe Doane.
»Und es ist ja ganz nett, den Kindern etwas zu schenken, in unserer Lage wäre es allerdings besser, ihnen etwas Nützliches zu schenken.«
»Gibt es denn etwas Nützlicheres als Trauern?«, fragte Doane. »Denk doch mal, was Myrtie alles zu betrauern hat. Arme, arme Myrtie – sie hat ja einen Vater.«
Man kann etwas so lange sagen, bis man es irgendwann glaubt. Man kann etwas so lange sagen, bis man andere dazu bringt, es zu glauben. Er scherzte darüber, dass er zwischen ihnen und einer Kochkiste stand, bis er sah, wie sie darüber nachdachten. Die ganze Zeit über hatte er seine Stelle im alten Kühlhaus verabscheut. Einem Doane liegt es nicht, an Land Fisch auf Eis zu legen. Ein Doane hatte die Aufgabe, aufs Meer rauszufahren und mit einem vollen Boot heimzukommen.
Eines Tages brach er mit der alten Vorstellung, dass Doanes nicht auf anderer Leute Schiffen arbeiteten, und schlug Kapitän Cook halb im Scherz vor, dass er einen oder zwei Muschelköppe entlassen und ihm eine Koje auf der Elizabeth geben sollte. Bill Cook war erschüttert. Schließlich lachte er und sagte: »Was denn, Joe, du gehörst auf dein eigenes Schiff«, und gab ihm damit zu verstehen, dass er ihn auf seinem nicht haben wollte. Warum nicht? Dachten sie etwa, er wäre so lange nicht rausgefahren, dass er dazu nicht mehr taugte? Dachten sie, ein Doane könne keine Anweisungen befolgen? Immerhin gab es nicht viele Schiffe, auf die er gehen würde. Die meisten im Hafen gehörten mittlerweile Portos. Anweisungen von einem Porto entgegenzunehmen, würde ihm inzwischen ziemlich schwerfallen – jedenfalls auf See. Im Moment gab ihm im Kühlhaus einer Anweisungen – aber da er sowieso nicht ins Kühlhaus gehörte, war es vielleicht egal, wer ihm da Anweisungen gab.
Am Ende jenes Tages, an dem ihm Bill Cook sagte, er gehöre auf sein eigenes Schiff, saß Joe Doane oben auf den Stufen, die von seinem Haus zum Meer hinabführten, und seine Gedanken glichen den Segeln, die langsam um die Spitze herumkamen – gemächlich, schön eines nach dem anderen und von weit draußen. Genauso waren die Schiffe seines Vaters immer um die Landzunge gesegelt. An dem Abend fühlte er sich einsam. Halb kam er sich vor wie ein alter Mann und halb wie ein kleiner Junge.
Mrs. Cadara stand auf der Bretterfläche vor ihrem Haus. Auch sie blickte zu den Segeln auf der anderen Seite der Mole hinüber – heimkommende Segel. Er fragte sich, ob sie an Joe Cadara dachte – wünschte sie sich, er wäre auf einem dieser Schiffe? Dachte sie jemals an Joe Cadara? Wünschte sie sich jemals, er würde heimkehren? Er hätte sie gern gefragt. Er hätte es gern gewusst. Wenn man fortging und nicht nach Hause zurückkehrte, dachten sie dann nur daran, wie sie zurechtkämen? Und wenn sie gut zurechtkamen, war es dann auch wahr, dass sie dich bald loswürden?
Er erhob sich. Plötzlich hatte er die verrückte Anwandlung, für Joe Cadara zu kämpfen. Er wollte zu der Frau-mit-der-Kochkiste hingehen und ihr erklären: »Ein ums andere Mal ist er rausgefahren, in Kälte und Sturm. Er hat dafür gesorgt, dass ihr es hier zu Hause warm und sicher habt. Für euch ist er rausgefahren; zu euch ist er zurückgekommen. Du wirst ihn schon noch vermissen. Glaubst du, das wird ewig so gehen? Glaubst du, die reichen Leute interessieren sich nächstes Jahr noch für dich? In fünf Jahren schrubbst du Böden auf den Knien, damit es die Kinder warm haben und satt sind.«
Wie gern hätte er die Wahrheit von ihr gehört! Irgendwie würde nicht alles so verquer wirken, wenn er die Gewissheit hätte, dass sie manchmal nachts im Bett läge und um Joe Cadara weinte.
Heute Abend war es ruhig; alle Cadara-Kinder und alle Doanes passten auf die Regierungsziege auf. Die Regierungsziege hatte ihr Revier ausgedehnt. Scheinbar wusste sie, dass ihr als Regierungsziege nichts passieren konnte. Wenn einem eine Regierungsziege auf den Hof stolziert, wirft man nicht so schnell mit der Blechbüchse nach ihr – wusste man denn, wo genau der Hochverrat begann? Niemand in Cape’s End kannte den genauen Status einer Regierungsziege, und niemand wollte jemanden fragen, denn immerhin könnte der Gefragte es ja wissen, dann stünde man da als jemand, der weniger wusste als jemand anders. Die Regierungsziege lief also, wohin es ihr passte, und heute Abend hatte es ihr gepasst, weit weg zu laufen. Deswegen war es still im Viertel, denn die Regierungsziege hatte viele Beschützer.
Joe Doane wollte Mrs. Cadara etwas sagen. Nicht so wild und grob wie das, was er ihr eben noch hatte sagen wollen, sondern bloß etwas zu ihr sagen. Außer ihr und ihm war niemand da – die Kinder weg und seine Frau mit Kopfschmerzen oben. Er fühlte sich einsam und dachte, auch sie sehe so aus, wie sie dastand im schwächer werdenden Licht, hinter ihr das Meer. Sie und Joe Cadara hatten immer draußen auf der Spundwand gesessen. Sie kam näher, als wäre sie einsam und wollte sich unterhalten. Auf seiner Seite des Zauns ging er etwas näher heran zu ihr. Sie sagte: »Ich hoffe nur, die Ziege hat sich nicht verlaufen.«
Er sagte nichts.
»Die ist so zahm, die Ziege«, fuhr Joe Cadaras Frau stolz und gefühlvoll fort, »die würde mit jedem mitgehen, wie ein Hund.«
Joe Doane stand auf und ging ins Haus.
Es kam so weit, dass er kaum noch mit den Leuten redete. Hin und wieder machte er einen Scherz, da er ja lachte, aber das waren Scherze, die machte er ganz für sich allein, und sein Lachen kam unvermittelt, sodass andere sich umdrehten und ihn anstarrten. Er wirkte dadurch wie in seiner eigenen Welt, auch wenn sie gemeinsam bei Tisch saßen. Er lachte über Dinge, über die es nichts zu lachen gab, wie als Myrtie sagte: »Agnes Cadara hat von Mrs. MacCrea einen Brief mit einem Trauertaschentuch bekommen.« Und wenn er über etwas gelacht hatte, das niemand zum Lachen fand, setzte er sich hin und starrte auf das Wasser hinaus. »Sei doch fröhlich«, sagte seine Frau. Er lachte darüber.
Aber eines Tages brach es aus ihm heraus, und er sagte etwas. Es war Sonntagnachmittag, die Cadaras gingen zusammen auf den Friedhof. Sie gingen jeden Sonntagnachmittag und nahmen Blumen mit zu dem Stein, auf dem stand: »Verschollen auf See«. Als Agnes rief: »Komm, Tony! Umziehen für den Friedhof«, kamen sich die Doane-Kinder vor, als hätten sie überhaupt nichts zu tun. Gekleidet in die besten Sachen, die die Sommergäste ihnen dagelassen hatten, kamen sie hintereinander her zum Törchen hinaus wie auf den Jahrmarkt oder in den Zirkus, und die Doanes mussten alle zu Hause bleiben.
»Ach Myrt«, sagte er, »du kannst doch auch auf den Friedhof gehen, wenn du willst. Da liegen eine Menge Doanes. Geh sie ruhig mal besuchen.«
»Ganz sicher würden sie sich freuen, dich zu sehen«, fuhr er fort, als sie unsicher dastand. »Ich glaube kaum, dass sie in letzter Zeit jemand besucht hat. Du könntest deinen Urgroßvater Ebenezer Doane besuchen. Die Wale hatten solche Angst vor dem Mann, dass sie sich von einem Meer zum nächsten warnten, wenn er unterwegs war. Und Lucy Doane, Ebenezers Frau. Lucy Doane war eine, die sich nahm, was sie wollte. Kann sein, dass die Wale vor Ebenezer Angst hatten – Lucy jedenfalls hatte keine. Sie lag mit ihrem Bruder im Streit wegen einer Decke ihrer Mutter, und mitten in der Nacht schlich sie sich in sein Haus und nahm sie ihm weg, während er schlief. Nur Mut! Mach’s wie die alten Doanes! Geh doch zum Friedhof, da kannst du zwischen ihren Gräbern hin- und herspazieren, während die Cadaras an ihrem einen Stein stehen! Mein Vater – der würde sich freuen, dich zu sehen. Wenn der jetzt noch am Leben wäre, wenn Kapitän Silas Doane hier wäre, der würde den Cadaras schon stecken, ob sie auf dem Bürgersteig gehen dürften oder auf der Straße laufen müssten!«
Myrtie war interessiert, aber bald wandte sie sich ab. »Man geht nur für nahe Verwandte«, seufzte sie.
Er starrte die Stelle an, wo sie gerade noch gestanden hatte. Er lachte, hörte auf, starrte wieder. »Man geht nur für nahe Verwandte.« Langsam drehte er sich um und ging aus dem Haus. Die Regierungsziege, die allein zu Hause geblieben war, kam zu ihm, als dächte sie, dass sie auch eine Runde drehen würde.
»Zur Hölle mit dir!«, sagte Joe Doane, seiner Stimme war anzuhören, dass er innerlich weinte.
Mit hängendem Kopf ging er am Strand entlang bis zur Mole. Ohne darüber nachzudenken, kraxelte er hinauf und hinaus. Er konnte für Myrtie also nichts weiter tun, als ihr einen Grund für einen Besuch auf dem Friedhof zu geben. Sie wollte ihn auf dem Friedhof – damit sie einen Grund hätte, sonntagnachmittags hinzugehen! Dann könnte sie Schwarz tragen – ganz Schwarz, nicht bloß ein Band um den Hals. Plötzlich blieb er stehen. Hätte sie denn etwas Schwarzes zum Anziehen? Eben war ihm ein Scherz eingefallen, neben dem alle anderen Scherze, die er sich je ausgedacht hatte, klein und mickrig aussahen. Mal angenommen, er würde sich aus dem Weg schaffen und sie würden die Dinge nicht bekommen, die sie anstatt seiner zu bekommen glaubten? Rasch ging er weiter – rasch und geschickt suchte er sich seinen Weg über die kleineren Steine zwischen den großen auf so flinke, zielsichere Weise, wie es ihm nie gelungen wäre, hätte er überlegt, wohin er den Fuß setzte. Wie eine mausende Katze eilte er voran. Und in ihm wuchs dieser gigantische Scherz. Wer gäbe ihnen denn die Kochkiste? Würde es jemandem in den Sinn kommen, dem jungen Joe Doane ein Segelboot zu schenken, weil sein Vater tot wäre? Lieber als einen Vater hätten sie eine Ziege. Aber angenommen, sie würden den Vater verlieren und keine Ziege bekommen? Myrtie wäre eine Trauernde ohne Trauerkleidung. Sie würde sich schämen, zum Friedhof zu gehen.
Er lachte so sehr, dass er unversehens dasaß, auf einem der kleineren Steine zwischen den größeren Brocken landete, auf der stadtabgewandten, der Seeseite.
Er vergaß seinen Scherz und merkte, dass er wieder zur See wollte. Doanes gehörten auf See. An Land kam einem alles eigentümlich vor – später, wenn man es erstmal an sich rangelassen hatte, tat es weh. Er dachte daran, wie er um diese Landzunge gekommen war, als Myrtie ein Baby war. Wie er an sie gedacht hatte, als er genau hier vorbeigekommen war und die Stadt im Sonnenlicht hatte liegen sehen, und wie er sie jetzt sah und wie sie gestrampelt und gejauchzt hatte. Jetzt aber wollte Myrtie ihn besuchen kommen – auf dem Friedhof. Ach, das war doch wirklich ein Scherz. Aber irgendwie hatte er genug von Scherzen. Außer dem einen großartigen Scherz – dem Scherz, der dem ganzen Leben geradewegs ins Gesicht schlagen würde.
Die Flut kam herein. Rein – raus – Doanes und Doanes. Rein – raus – er genauso. Rein – raus – er wurde nass. Er müsste weiter nach oben. Aber – wieso nach oben? Vielleicht würde er der See niemals wieder näher kommen als hier. Gefangen auf der Mole. Das war es wohl, oder nicht? Felsbrocken waren schon eine komische Sache. Man konnte sich irgendwo verkeilen, wo man nicht mehr rauskam. Er müsste sich kaum bewegen. Hätte er sich eine Stelle aussuchen müssen, hätte er keine bessere finden können. Sich verkeilen – Flut beinahe auf Hochwasser – zu schwierig, sich freizumachen – zerschellt wie das letzte Schiff, das die Doanes ihr Eigen genannt hatten. Näher würde er der See nie wieder kommen. Mehr Nähe hätte er nicht verdient – er und mit Muschelköppen Fisch auf Eis legen. Und eine Kochkiste gäbe es auch nicht!
Er drehte die Schultern hin und her, um sich so zu verkeilen, dass er nicht leicht wieder freikäme. Mit dem Gesicht nach oben sah er, wie sich auf dem großen, flachen Brocken über den gezackten Felsen etwas bewegte. Er zog sich ein bisschen hoch; er stand auf; er schwang sich auf den großen Felsen über ihm. Auf dem einen flachen Felsklotz stand Joe Doane. Auf dem anderen flachen Felsklotz stand die Regierungsziege.
»Fahr zur Hölle«, schluchzte Joe Doane. »Zum Teufel mit dir!«
Die Regierungsziege nickte ein bisschen mit dem Kopf, sodass ihr Bart wedelte und ihr Euter wackelte.
»Geh nach Hause! Sauf doch ab! Lass mich in Ruhe! Hau ab!« Es kam schnell, es kam erstickt, und er zitterte.
Die Ziege tat nichts dergleichen. Er setzte sich hin, den Rücken der Regierungsziege zugekehrt, und versuchte zu vergessen, dass sie da war. Aber in manchen Augenblicken ist eine Ziege nicht so leicht zu vergessen. Er zwang sich zu denken, dass hinter seinem Tod irgendein Scherz stecken müsste – in der Mole verkeilt sein zum Beispiel, aber er würde nicht sterben, wenn eine Ziege zusah. Das war dann doch unter seiner Würde. Er sah sich um, ob sie sich vielleicht auf den Heimweg gemacht hatte. Aber sie stand noch genau dort und sah ihn an.
Schließlich sprang er wutentbrannt auf. »Was willst du hier? Was willst du von mir? Wie willst du denn nach Hause kommen?« Nach jeder Frage wartete er auf Antwort. Es kam keine.
Er hob einen kleinen Stein auf und warf damit nach der Regierungsziege. Sie sprang, rutschte aus und wäre vom Felsen gestürzt, hätte er sie nicht an den Hinterbeinen erwischt. Nachdem er sie gerettet hatte, schrie er: »Denk bloß nicht, dass ich dich rette. Von mir brauchst du nichts zu erwarten!«
Wieder bekam er Wutanfälle auf sie. »Was machst du hier draußen? Du bist doch eine Bergziege. Merkst du nicht, dass die Flut reinkommt? Glaubst du, du kommst so einfach wieder weg, wie du hergekommen bist?«
Er trat gegen ihre Hinterbeine, damit sie sich bewegte. Sie stand da und sah zu, wie das Wasser die kleinen Zwischenfelsen überschwemmte, die sie als Rückweg vorgesehen hatte. »Siehst du«, sagte Joe Doane. »Hochwasser – du blödes Biest! Verdammte Ziege!« Mit der ganzen Kraft seiner Manneswut packte er sie und warf sie auf den nächsten Felsen. »Hoffentlich fällst du tot um!«, waren seine herzhaften Worte.
Die Regierungsziege fiel aber nicht tot um. Sie schaute sich bloß nach weiterer Hilfe um.
Wenn er sie loswerden wollte, musste er sie an Land schaffen. Er zog und hob, stellte Vorderhufe auf und schob Hinterbeine voran und erklärte ihr fortwährend, dass er hoffe, sie möge verrecken. Einmal blieb er stehen, sah sich um und dachte nach. Dann gab er der Regierungsziege einen Schubs, sodass sie knietief im Wasser landete. Da musste er ebenfalls hinein und ihr auf einen höheren Felsen helfen.
Gleich nachdem er die Regierungsziege dergestalt aus dem Meer gerettet hatte, aus dem die Regierungsziege ihn herausgelockt hatte, blickte er voraus und entdeckte, dass an Land Zuschauer standen. Die Cadaras waren vom Friedhof zurückgekehrt. Cadaras und Doanes schauten zu, wie er die Regierungsziege heimbrachte.
Hin und wieder sah er zu ihnen hoch. Die Gruppe schien nicht wenig beunruhigt. Sie hielten einander fest und sprangen auf und ab wie Zuschauer, deren Männer von einem Wrack gerettet werden. An einer Stelle musste er die Regierungsziege noch einmal tragen. Danach hörte er Rufe und sah, wie seine Jungs an Land auf und ab tanzten wie kleine Indianer.
Schließlich hatten sie es geschafft. Die Zuschauer kamen auf sie zugerannt.
»Ach, Mr. Doane!«, rief Mrs. Cadara mit ausgestreckten Händen. »Ich bin Ihnen so dankbar! Sie haben meine Ziege gerettet! Ich habe ja keinen Mann, der meine Ziege rettet. Ich habe keinen Mann. Ich habe keinen Mann!«
Mrs. Cadara schlug die Hände vors Gesicht, wankte vor und zurück und schluchzte, denn ihr Mann war tot.
Die jungen Cadaras scharten sich um sie. Mit einem Mal wurde ihnen scheinbar klar, dass sie ohne Vater waren und dass diese Tatsache zu bedauern war. Sogar Agnes benetzte ihr Trauertaschentuch.
Myrtie nahm ihn beim Arm. »Ach Vater«, sagte sie, »mir war so bang, dass du dir wehtust!«
Er sah ins Gesicht seines kleinen Mädchens hinunter. Ihm wurde klar, dass er einen Moment zuvor noch erwartet hatte, ihr nie wieder ins Gesicht zu blicken. Er schaute die Regierungsziege an, die ein Stück abseits stand und dieses Menschengeschlecht wohlwollend betrachtete. Plötzlich musste Joe Doane lachen. Er lachte – lachte – und lachte. Und es war zum Lachen.
»Wie du diese Ziege hochgehoben hast!«, sagte seine Frau im Ton von einer, die vielleicht keine Kochkiste hatte, dafür aber …!
Den jungen Joe Doane hatte man zu lange daran gehindert, den für ihn günstigen Moment zu nutzen, jetzt fing er an, mit Hohngeschrei um Tony Cadara herumzutanzen. »Du hast keinen Papa, der deine Ziege rettet!«, und Edgar fiel lispelnd ein: »Hast keinen Papa, der deine Ziege rettet!«
»He!«, rief ihr Vater, »jetzt hört mal auf, die Kinder zu ärgern, die können nichts dafür. Los! Mützen auf! Doanes, Cadaras, wir gehen alle zusammen mal nachsehen, ob Ed Smith vielleicht Limo hat.«
Aber der junge Joe hatte zu lange gelitten, um gleich still zu sein. »Du hast keinen Papa, der dir Limo kauft!«
»Joe!«, befahl sein Vater, »lass die Kinder in Ruhe, sonst knallt’s!«
Und Joe, ganz trunken vor Freude, dass er etwas hatte, das die Cadaras nicht hatten, kreischte: »Du hast keinen Papa, der dir eine knallt! Du hast keinen Papa, der dir eine knallt!«