Das Aufgebot an Automobilen, die am Straßenrand auf den Mittagszug warteten, war der sichtbare Beweis für Freeports Wohlstand. Dieses Aufgebot war so berechnet, dass träge aus dem Fenster blickende Transkontinentalreisende ausstiegen und den Gepäckträger fragten: »Was ist denn das für ein Städtchen hier?« Schimmernde Limousinen hechelten auf dem stolzen, neuen Betondamm, der kürzlich für die Hochtrasse gebaut worden war, ja selbst die Gepäckwagen ließen irgendwie ein Boosterkomitee um die nächste Ecke vermuten.
Die beiden abgehalfterten, klapprigen Ackergäule, die wenige Minuten vor Einfahrt des Zuges dort einbogen, wussten wohl, dass das Gefährt, das sie zogen, dem Boosterkomitee nicht nützen würde, wenn der »Golden State Limited« durchfuhr. Was sie zogen, hatte in seiner glorreichen Vergangenheit eine geschlossene Kutsche geheißen. Einst hatte sie die feine Gesellschaft des Ortes zu Hochzeiten und Festen gefahren; als sie für Feierlichkeiten zu abgenutzt war, hatte sie lange ihren trübseligen Platz im Bestattungszug gehabt. Aber auch diese Tage waren vergangen, und sie wurde zur Mietkutsche, holte für ein drittklassiges Hotel Leute vom Zug ab, bis der Geschäftsführung dämmerte, dass die Kutsche doch mehr Leute abschreckte als anzog, und so wurde sie erneut ausgemustert und in ihren derzeitigen Dienst verkauft. Diesen erledigte sie nun humpelnd und ächzend wie ein Greis.
Schüchtern musterte der Junge auf dem Bock die lange Schlange. Wie sollte er da jemanden bitten, ein Stück zu rücken und für die Mietkutsche vom Armenhaus Platz zu machen?
Eine Frau öffnete den Schlag und sah besorgt hinaus. »Kein Platz, Johnnie?« Doch der Fahrer vom Hotel Freeport mit seinem stolzen, neuen Bus eilte herbei, um zu zeigen, dass er nicht zu denen gehörte, die Geringere ausgrenzten. »Platz genug, Mrs. Peters«, rief er. »Stell dich hierzwischen, John. Diese Gepäcktypen brauchen ja nicht die ganze Welt«, fügte er mit einem finsteren Blick zu den Bedienten eines konkurrierenden Gasthofs hinzu.
»Sie holen jemanden für die Farm ab?«, fragte er leutselig, als die Dame ausstieg.
Sie nickte, schüttelte ihre Röcke aus und sich selbst gleich mit, als wäre sie steif vom langen Sitzen. Dann sah sie auf und sagte, als wäre es etwas Besonderes: »Wir erwarten jemanden, der nie erwartet hätte, seine letzten Tage dort zu verbringen. Besser gesagt«, fügte sie rasch hinzu, »nie erwartet hätte, sie im Armenhaus zu verbringen. Es ist Mr. Groves, Bert Groves ist auf dem Weg hierher.« Sie sah ihn an, um zu sehen, ob er auch alles in seiner ganzen Tragweite begriffen hätte.
Seinem langen, tiefen Pfeifen nach hatte er es zumindest teilweise verstanden. »Das war es also, worüber die Kerle gestern Abend im Hotel …« Er brach ab und sagte dann: »Mein Vater hat ihn gut gekannt!« Er wiederholte das, als wäre das der springende Punkt an der Sache. »Hat ihn häufig gefahren. Genau dahin, wo der Junge ihn jetzt hinbringt.« Er stand da und betrachtete düster den neuen Bus des Hotel Freeport, als sorgte er sich um das mögliche Schicksal sogar von dessen Fahrer. »Und wo er hingegangen war, konnte niemand für ihn aufkommen?«, fragte er ungläubig.
Sie schüttelte den Kopf, doch in dem Moment ertönte die Pfeife; »Da kommt er ja!«, unterbrach der Busfahrer und eilte, ganz bei seiner eigenen Pflicht, davon. Die Frau aber trat zurück und wartete neben ihrer Rostkutsche, als wäre sie nur auf diese Weise mit einer Einrichtung in Verbindung zu bringen, die das Boosterkomitee noch nicht erreicht hatte.
Sie wäre sich nicht einmal sicher gewesen, ob er es war – es war ungefähr dreißig Jahre her, dass sie Bert Groves zuletzt gesehen hatte, inzwischen war er ein alter Mann –, hätte er sich nicht beim Aussteigen das Revers gerichtet. Bert Groves hatte immer Wert auf seine Erscheinung gelegt.
Mit dem Mann, der ihn hergebracht hatte, wechselte sie hastig einige Worte – ein Durchreisender, der sich freundlicherweise bereit erklärt hatte, ihn zu begleiten. Während sie sich unterhielten, stand Mr. Groves ein wenig abseits und betrachtete unsicher die quasselnden, lachenden Leute, die in die glänzenden Karossen stiegen. Ob er wusste, in welcher Stadt er sich befand?
Der Mann, der ihn hergebracht hatte, sprach das an. »Ganz schön –«, er tippte sich an den Kopf. »Nein, nicht komplett plemplem, aber er kriegt nichts mit, wissen Sie. Was er jetzt weiß, hat er gleich wieder vergessen. Aber keine Sorge, er macht keine Umstände. Dafür ist er zu viel herumgereicht worden.« Der Schaffner rief: »Alles einsteigen!«, und wandte sich nach einem kurzen Abschied von dem Mann, der nicht weiterfuhr, wieder zum Zug um.
Der alte Mann stand da und sah ihm nach, als wollte er nicht zurückgelassen werden. Doch machte er bloß einen Schritt und blieb dann unsicher stehen. Sie berührte seinen Arm. »Wir müssen hier entlang«, sagte sie freundlich und wartete dann an der Tür der schiefen, alten Kutsche darauf, dass er einstieg. Er schaute hinein, sah das verklumpte, löchrige Polster, trat dann zurück, betrachtete das Automobil nebenan und machte einen unsicheren Schritt darauf zu. »Hier hinein, Mr. Groves«, sprach die Frau des Direktors des Armenhauses freundlich, aber bestimmt.
Der nette Mann hatte recht gehabt, das sah sie gleich. Er würde keinen Ärger machen. Dafür schien er zu oft »herumgereicht« worden zu sein. Angespannt rutschte er auf den widerborstigen Federn herum und schien die Bewegung doch verbergen zu wollen. Schließlich fragte er flüsternd, als wäre ihm selbst bange davor: »Wohin fahre ich jetzt?«
Mrs. Peters sagte immer, sie käme mit ihrer Aufgabe zurecht und helfe anderen, zurechtzukommen, indem sie das Beste aus allem machte. Das Beste draus machen, das war ihr Leitsatz. Als sie diesem gebrochenen, hilflosen alten Mann – diesem fügsamen Alten – ins besorgte Gesicht sah und sich an jenen Bert Groves erinnerte, den sie einst gekannt hatte, musste sie sich bei ihrer Antwort ordentlich zusammennehmen: »Na, Sie fahren nach Hause, Mr. Groves! Zum alten Anwesen der Groves«, fügte sie hinzu, als er sie verständnislos ansah. Nach einem winzigen Zögern sprach sie weiter: »Zu den Quellen – nach Crystal Sulphur Springs.«
Als hätte eine plötzliche Bewegung vor seinen Augen ihn erschreckt, bewegte er sich daraufhin so unruhig, sah sie so merkwürdig und aufgeregt an, dass sie in sachlichem, beruhigendem Ton weitersprach: »Sehen Sie? Das ist Freeport da draußen. Gleich biegen wir in die Straße am Fluss ein – zu den Quellen.«
Er sah aus dem Fenster, wandte sich zu ihr um und rückte dann ein wenig ab von ihr. Heimlich sah er hin und wieder zur Stadt hinaus, dann wieder zu ihr. Bald aber schloss er die Augen, als wäre er zu müde, um sich weiter damit zu befassen – als wäre es vorbei.
Sie saß da und fragte sich, was es ihm wohl bedeutet hatte und wie er es aufnehmen würde, wenn sie auf das alte Anwesen einbiegen würden. Sie war nervös und staunte nicht schlecht über ihre eigene Rolle in einem so merkwürdigen Geschehen. Sie versuchte, es zu begreifen, während sie sich sagte, das könne sie unmöglich begreifen. »Wenn das möglich ist – dann ist alles möglich!« Während sie so mit Bert Groves dahinfuhr, erinnerte sie sich, wie oft sie ihn auf dieser selben Straße gesehen hatte. Das Haus der Groves war die größte Farm in der Gegend und ihr Vater ein kleiner Bauer nicht weit entfernt. Er arbeitete Teilzeit für die Groves. Sie waren anders als andere Bauern, eher Städter als Landbewohner, besaßen ein Haus in der Stadt und verbrachten nur einen Teil des Jahres auf dem Land. In einer ihrer ersten Erinnerungen ritt Bert Groves am Haus vorüber. Er hatte ein schönes Pferd und kam häufig aus dem Städtchen vorbei. Vom Hof ihres Vaters aus konnte sie das Anwesen der Groves sehen. Das Kommen und Gehen faszinierte sie. Viele Gäste kamen aus dem Städtchen her; ihre Mutter, die manchmal zum Arbeiten hinging, berichtete immer von buntem Treiben.
Im Ort arbeitete Bert Groves im Immobiliengeschäft; sein Bruder Edward war Arzt; der Vater führte den Hof. Und eines Tages dann, als sie nach Öl bohrten – in der Gegend wurde Öl vermutet, und Bert Groves, der immer gern Neues ausprobierte, immer an etwas glaubte, bestand darauf, dass sie es auf dem Groves-Anwesen versuchten –, wurde nicht Öl, sondern eine reiche artesische Schwefelwasserquelle gefunden, die »Crystal Sulphur Spring«. Jedermann war überrascht, dort darauf zu stoßen, und Bert Groves, wie es im Ort dann hieß, drehte durch. Was das Kristallschwefelwasser mit seiner Fantasie anstellte, stellte das Leben der ganzen Grovesfamilie auf den Kopf. Emma Peters – damals noch die sechzehnjährige Emma Haines – erinnerte sich sehr deutlich an das Gerede. Manche Leute waren der aufgeregten Überzeugung, Bert Groves würde der reichste Mann weit und breit, und über diese Fanatiker wiederum machten sich viele Skeptiker lustig.
Als Erstes gründete er eine Abfüllfabrik. Er wollte das Kristallschwefelwasser in die entlegensten Winkel des Landes liefern. Man müsste die Sache – sie hörte ihn es noch enthusiastisch sagen, als er eines Tages bei ihnen anhielt, um ihren Vater zur Arbeit abzuholen – nur ordentlich vorantreiben.
Also widmete er seine Zeit dem Vorantreiben. Man erzählte sich, dass er die gesamte Jahresernte in Werbung investierte. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater und ein anderer Bauer an ihrem Küchenherd saßen und über ein Flugblatt lachten, das verkündete, die Quelle der ewigen Jugend sei endlich gefunden. »Der Alte sollte sich lieber in Acht nehmen«, sagten sie.
Die bisherige Unruhe war jedoch nichts verglichen mit der Aufregung jenes Tages, als bekannt wurde, dass Bert Groves und sein Bruder, der Arzt, das Groves-Anwesen in eine Art Krankenhaus umbauen wollten, wo Menschen sich erholen und sich mit Schwefelkristallwasser regenerieren konnten – ein Sanatorium nannten sie es. Die Leute tratschten darüber, was sie gehört hatten. Es sollte wohl eine Veranda um das ganze Haus herum geben – unten und oben! Für kurze Zeit sprach man über nichts anderes, doch verblasste diese Nachricht vor der späteren, dass mitten im Haus ein Brunnen stehen sollte!
Der alte Groves starb im Tumult der Umbauarbeiten. Ist auch besser so, sagten die Leute; später erklärten sie, es wäre Vorsehung gewesen. Bert hatte ihn überredet, und er starb im Glauben an das Projekt.
Der Tod seines Vaters, hieß es, hätte Bert zu sich kommen lassen, er aber machte ohne Pause weiter wie »ein Haus in Flammen«, wie sie es nannten. Sie blickte verstohlen zu dem Alten neben ihr hinüber und versuchte sich vorzustellen, dass dies der Mann war, der alle auf Trab gehalten hatte, als sie in jenem Sommer aus dem Haus der Groves ein Sanatorium gemacht hatten. Ihr Vater war dort beschäftigt, daher lief sie ständig hin und her und erledigte irgendetwas. Sie verbrachte so viel Zeit wie möglich dort, die Aufregung faszinierte sie. Und immerfort erklärte Bert Groves den Männern, dass etwas durchaus möglich sei, während sie behaupteten, es sei nicht zu machen; er saß allen im Nacken, hielt die Dinge am Laufen und jedermann bei Laune. Ihr Vater kam immer nach Hause und sagte: »Der Typ mag ja verrückt sein – aber ein Wunder ist er allemal.«
Im Frühling gab es eine große Eröffnung – der ganze Ort war zum Tanzen gekommen –, buntes Treiben. Und auch an dem Abend schaute Bert Groves auf alles, strahlte alle an, sein Gesicht leuchtete, als er die Leute federnden Schrittes und mit so froher und selbstgewisser Stimme herumführte.
Emma Haines war bei den »Springs« als Zimmermädchen angestellt. Es gab viele Zimmermädchen, die die meiste Zeit damit zubrachten, leere Zimmer in Schuss zu halten. »Na, ihr werdet schon noch zu tun bekommen«, rief Mr. Groves immer, wenn er an ihnen vorbeikam, während sie auf den Fluren herumstanden, weil sie sonst nichts zu tun hatten. Sie fragte sich, wie lange er das wohl noch glauben würde. Die meisten Leute da waren Freunde der Groves, aber es gab auch einige Kranke oder Erschöpfte, die die Flugblätter gelesen hatten und tatsächlich gekommen waren, um das Wasser zu trinken. Mr. Groves strahlte sie immer an, während sie um den Brunnen herumsaßen. »Und wie geht es Ihnen heute Morgen?«, fragte er höflich, wenn sie zum Frühstück herunterkamen.
Doch das Haus wurde nicht voll; man entließ einige Hilfskräfte, wobei der Direktor ihnen versicherte, in Kürze würde man sie wieder einstellen. Doch der strahlende Blick wurde matt, die Augen wirkten sorgenvoll verengt; manchmal sprach er die Hilfskräfte scharf an, doch schon die Ankunft eines neuen Patienten ließ ihn wieder strahlen. »Na, man kann ja nicht erwarten, dass alles jetzt und sofort in Gang kommt!« hörte sie ihn noch jubeln, als eines Abends nach einer langen Phase ohne Anmeldungen zwei Patientinnen eintrafen.
Später hieß es, das eigentliche Wunder wäre gewesen, dass es überhaupt so lange lief, und dass Bert Groves die Leute geradezu hypnotisiert hätte, sonst wäre erst gar nichts draus geworden. Jedoch kam der Tag, als er niemanden mehr hypnotisieren konnte, ihm noch mehr Geld für Crystal Sulphur Springs zu leihen. Selbstverständlich war das Haus gleich zu Anfang mit einer Hypothek belegt und zudem noch mehr Geld geliehen worden. Der Zusammenbruch kam. Crystal Sulphur Springs wurde geschlossen. Die Groves hatten alles verloren.
Am letzten offenen Abend war sie dort. Nach der Entlassung einiger Hilfskräfte hatte sie Verschiedenes gemacht und bediente an jenem Abend an Mr. Groves’ Tisch, eigentlich war es der einzige Tisch im Speisesaal. Jedoch saßen dort zwei Gäste, und er sprach mit ihnen so angenehm und höflich wie immer mit den Gästen. Als sie ihm aber etwas anreichte, bemerkte sie, wie angespannt er sich davon nahm, und wenn er lachte, fiel es ihr schwer, an ihrem Platz zu bleiben – sie wollte nur davonlaufen.
Danach sahen sie Bert Groves nicht mehr auf der Straße vom Ort zur Farm. Eine Weile lang ging er seinem Immobiliengeschäft im Ort nach, aber sie hörte, wie jemand ihrem Vater sagte, ohne finanzielle Rücklagen könne man keine Verträge abschließen und dass Groves nicht über die Runden kam – überhaupt hätte er seinen Biss verloren. Eines Tages begegnete sie ihm im Städtchen auf der Straße. Er sah sie nicht, denn er schaute geradeaus, das Gesicht hager, gehetzt. Sie wandte sich um und sah ihm nach, und am schlimmsten war, dass er versuchte, so zu gehen wie immer.
Bald darauf verließ er Freeport. Wahrscheinlich wäre er lieber woanders arm, hieß es. Ein Bauer sah ihn einige Jahre später in der Hauptstadt hinter dem Zigarrenstand eines Bauernhotels. Er berichtete, als er ihn ansprach, schien Bert hinter dem Tresen verschwinden zu wollen, riss sich aber zusammen, und sie unterhielten sich lange. Groves hatte gesagt, die ganze Sache hätte nur vorangetrieben werden müssen; aber man hätte ihm zum Vorantreiben ja keine Zeit gelassen.
Danach hörte man lange nichts von ihm. Edward Groves, dessen Praxis durch den Irrsinn um das Sanatorium Schaden genommen hatte, starb ungefähr zehn Jahre später. Andere nahe Verwandte gab es nicht. Die Dinge änderten sich; von Bert Groves schien niemand etwas zu hören. Für die Gläubiger war das Grundstück lange ein Schwarzer Peter. Die Farm verpachteten sie, aber wer wollte schon das große Haus, von dem Bert Groves überzeugt gewesen war, dass es sich mit Menschen von nah und fern füllen würde, die Schwefelwasser tranken? Eine Frau versuchte es mit Sommergästen, aber Bert Groves’ Hoffnungen waren zu hochfliegend gewesen. Es war einfach eine Nummer zu groß. Jahrelang stand es leer. Als also die Stadt wuchs und von der »Farm« und anderswo größere Räumlichkeiten benötigt wurden, stellte man das Haus der Groves eilig zur Verfügung. Es war heruntergekommen und sehr billig zu haben. So fand sich schließlich eine Nutzung für das Sanatorium.
So geschah es, dass Emma Haines wieder im alten Groves-Haus Arbeit fand. Sie heiratete Henry Peters, einen Farmarbeiter auf der »Farm«, der die Stelle als Direktor ergatterte. Fünfundzwanzig Jahre, nachdem sie Bert Groves an jenem letzten offenen Abend des Sanatoriums am Tisch bedient hatte, kehrte sie als Frau des Direktors des Armenhauses zurück. Im Laufe dessen, was sie »unseren Betrieb« nannte, hatte sie so manches erlebt, aber eines Tages kam Henry mit erschrockenem Blick in die Küche: »Was glaubst du wohl, wer herkommt?« Kraftlos ließ er sich auf einen Stuhl fallen und starrte sie mit leicht geöffnetem Mund an.
»Du liebes bisschen«, sie war nervös auf ihre Beschäftigung konzentriert, »woher soll ich das wissen?«
»Bert Groves«, eröffnete er ihr; da ließ sie die Tasse, mit der sie abmaß, fallen und starrte ihn an.
Er musste ihr alles haarklein berichten, bevor sie ihm irgendetwas glaubte, auch wenn er kaum etwas wusste – nur, dass die Kommission einen Brief von der Frau eines Cousins der Groves aus Simson County im Westen des Bundesstaates bekommen hatte. Sie hatte geschrieben, sie hätte ihn zwei Jahre lang aufgenommen und könnte nicht länger für ihn aufkommen. Sie war selbst arm, und er werde allmählich senil. Außerdem sei sie ja auch keine Blutsverwandte. Es gab keine Blutsverwandten mehr, die ihn nehmen könnten. Daher müsse das County, aus dem er stammte, für ihn aufkommen. Emma Peters und ihr Mann aßen an dem Abend sehr spät; denn lange Zeit konnten sie nur dasitzen und einander sprachlos anstarren.
Praktisch mit angehaltenem Atem hatten sie sich gefragt, wie er es wohl aufnehmen würde. Zunächst war nicht festzustellen, wie er es aufnahm. Mrs. Peters konnte seinen Blick nicht »deuten«; als sie beim alten Groves-Anwesen einbogen, konnte sie sich nicht entscheiden, was genau ihn auf derart merkwürdige Weise ängstlich aussehen ließ. Sie bekam, was sie Muffensausen nannte, als sie ihn so zu dem Haus, das er vor dreißig Jahren umgebaut hatte, hinaufstarren sah. Noch ehe sie beim Haus ankamen, sah er nicht länger aus dem Fenster. Als sie am Seiteneingang vorfuhren, blickte er geradewegs auf seine Füße hinab, die Hände um seinen Stock geklammert, ganz eigenartig still. »Kommen Sie, Mr. Groves; wir sind da«, musste sie sagen. Und als sie ins Haus gingen, sah er sich überhaupt nicht um, sondern war die ganze Zeit eigentümlich still. Zu Henry sagte Mrs. Peters, sie könne es nicht »deuten«; sie wisse nicht, ob er Bescheid wusste – und ob er sich deshalb so benahm – oder ob er es eigentlich nicht wusste, aber irgendwie doch. »Ich glaube, das arbeitet in ihm«. Zu einem besseren Ergebnis kam sie nicht.
Als sie ihn das erste Mal im Speisesaal sah, hatte sie das Gefühl, ihre Knie würden weich. Es war derselbe Speisesaal, in dem sie ihn als Geschäftsführer vom Crystal Sulphur Springs bedient hatte. Jetzt saß er mit anderen männlichen »Bewohnern« an einem langen Tisch; wenn er aufsah, schien es, als ob er nur ein kleines Stück weit sähe, immerzu so eigentümlich still, dass sie sich dabei »sonderbar« fühlte. Die Männer, die nicht in der Lage waren, auf der Farm mitzuarbeiten, saßen viel auf der großen Veranda herum, die Bert Groves für die Gäste des »Spring« entworfen hatte.
»Hier draußen ist ein schönes Plätzchen, Mr. Groves«, hatte sie ihn am zweiten Tag fröhlich angesprochen, als sie ihn in einem dunklen Winkel hinter der Treppe vorfand. Sie brachte ihn hinaus zu einem Sessel. Von da ab saß er immer auf demselben Platz, als hätte man ihn angewiesen, dort zu sitzen. Aber immer, wenn er sich setzte, schob er ihn ein klein wenig zur Seite. »Zu fein für die anderen Bewohner«, hörte sie Joe Minor mit grobem Lachen sagen.
Aber nach ungefähr einer Woche warf er verstohlen ängstliche Blicke um sich. Sie ertappte ihn, wie er sich etwas ansah – sein Blick verwirrt und verstört. Eines Tages kam sie hinzu, als er mit dem Fuß ärgerlich über eine gesplissene Diele auf der Veranda fuhr; er wagte sich sogar von dem Platz weg, von dem er wohl dachte, dass er dort zu sitzen hätte. Eines Tages sah sie ihn unten im Hof auf einer kleinen Bodenwelle immer im Kreis herumgehen. Sie begriff nicht, was er da wollte, bis ihr plötzlich einfiel, dass an der Stelle früher aus Bruchsteinen die Worte »Crystal Sulphur Springs« gestanden hatten. Sie sah zu, wie er mit seinem Fuß über den nicht sonderlich gepflegten Rasen rieb. Der Stein war schon vor langer Zeit herausgenommen und für die Straße verwendet worden, die ums Haus herumlief. Aber offenbar gab es noch Spuren, denn sie sah, wie er etwas aufhob und es stumm anstarrte. Dann drehte er sich um und starrte das Haus an. Ein großer Flügel war vollständig abgebaut und vor Jahren an einen wohlhabenden Bauern verkauft worden; auch anderes war verändert worden und alles ziemlich heruntergewirtschaftet. Am Tag, als Bert Groves das Sanatorium eröffnet hatte, war es frisch gestrichen gewesen; inzwischen war es von frischem Anstrich weit entfernt. Kurz nachdem sie beobachtet hatte, wie er so am Haus hinaufstarrte, saß er wieder in dem Sessel, den sie ihm angeboten hatte. Fast kauerte er darin und sah heimlich aus dem Augenwinkel her, als er ihre Schritte hörte. Sehr alt und verängstigt sah er aus – und noch etwas darüber hinaus, etwas, wofür sie keine Worte fand. Sie sprach ihn freundlich an und stand zögernd vor ihm. Sie hätte ihm gern geholfen; sie wünschte, sie wüsste, wo er war, wie sie es im Stillen nannte, und wie ihm zu helfen wäre.
Von da an sah man ihn gewöhnlich irgendwo auf dem Grundstück etwas suchen, das einmal dort gewesen war. Eines Tages stieß sie auf ihn, wie er immer rund um das Hühnergehege humpelte. Da erinnerte sie sich, dass dort, wo jetzt das Hühnergehege war, eine Weinlaube gestanden hatte. Die Gäste des Sanatoriums sollten dort sitzen. Und nach all dem kehrte er jedes Mal zum selben Platz zurück und setzte sich ganz still dorthin. Im Speisesaal bemerkte sie, wie er den anderen verstohlene, irritierte Blicke zuwarf.
In der großen Eingangshalle vor dem Speisesaal hatte einst das Wunder des halben Countys gestanden – der Brunnen. Inzwischen waren von der Halle die Räume des Institutsleiters abgetrennt worden. Eines Tages stieß sie im geraden Flur, der die große, offene Eingangshalle ersetzte, auf Mr. Groves, der die abgetrennten Räume anstarrte. Diesmal trat sie hinzu und sprach ihn an.
»Wo ist der Brunnen?«, fragte er aufgebracht mit zitternder Stimme. »Na, den – den musste man entfernen, Mr. Groves«, stammelte sie.
»Den hatte gefälligst niemand zu entfernen!«, schrie er wütend und stieß seinen Stock auf den Boden. Er zitterte, seine Wangen waren gerötet. Plötzlich wich alle Farbe aus seinem Gesicht; er wankte, sie dachte schon, er würde stürzen. Sie half ihm in ihre Privaträume und holte ihm rasch ein Stärkungsmittel. Der Mann, der ihn nach Freeport gebracht hatte, hatte ihr von »Anfällen« berichtet, von einem sehr schwachen Herzen, das gelegentlich umgehend Stärkungsmittel benötigte. Für die Leitung des Armenhauses war das nichts Ungewöhnliches; vielen der Alten ging es so.
Bald saß er wieder auf seinem Stuhl, sah schwach und doch irgendwie verändert aus, nicht so still auf diese eigenartige Weise. Am nächsten Tag kam er zu ihr, als sie draußen die Hühner fütterte.
»Alles ist heruntergekommen«, sprach er sie unvermittelt an und ruckte seinen Kopf zum Haus hin. »Deswegen kriegen wir auch keine Leute mit mehr Klasse.«
Sie war erschüttert, jedoch gelang ihr dank ihrem Leitsatz, aus allem das Beste zu machen, eine beruhigende Antwort: »Tja, vielleicht haben Sie recht.«
»Natürlich habe ich recht!«, rief er mit einer Kraft, die in seiner Gebrechlichkeit loderte und die sie fast zum Weinen brachte. Er humpelte davon und murmelte: »Ich werde die Hälfte der Leute hier entlassen!«
So fing es an – alles, wodurch alle, nicht nur vom Hof, auch im Ort, erfuhren, dass Bert Groves nicht bewusst war, dass er im Armenhaus saß, sondern dass er sich für den Geschäftsführer von Crystal Sulphur Springs hielt. Manche lachten darüber, andere neigten zum Weinen, aber alle wollten mehr erfahren. Noch nie war die Armenfarm derart in aller Munde gewesen wie in jenen Tagen, als die Geschichte vom alten Mr. Groves die Runde machte, der immer noch glaubte, er leite das Sanatorium. Die »Bewohner« waren froh, dass wieder etwas los war, freuten sich über das neue Interesse am Haus und waren nur zu gern bereit, über die ganze Sache zu reden. Vielleicht wollten sie nur eine Geschichte zu erzählen haben, oder es war einfach Freundlichkeit, jedenfalls spielten sie das Spielchen mit. Vielleicht hatten alle einfach Spaß am Schauspielern, sodass sie den alten Mann nur zu gern im Glauben ließen, er würde das Haus leiten wie eh und je. Es kursierten Geschichten über einige, die »auspacken« wollten, dauernd mit Auspacken drohten, und über andere, die jenen wiederum alles Mögliche androhten, sollten sie tatsächlich auspacken. Vielleicht wäre viel weniger passiert, als sie dachten, hätten sie etwas gesagt, denn der »Geschäftsführer« war letztlich gut geschützt durch den nahezu geschlossenen Schleier, mit dem er sich gegen die meisten Tatsachen abschottete. Hätte Joe Minor wirklich gesagt: »Stell dich doch nicht blöd, und denk nicht, dass wir uns weiter blödstellen. Wir sind hier im Armenhaus, und du bist genauso arm wie wir – keinen Deut besser. Du leitest kein Hotel. Dein Hotel ist schon lange vor die Hunde gegangen. Jetzt ernährt dich das County.« Hätte er das gesagt, hätte er den schwindenden Verstand wahrscheinlich nur kurz aufgestört, er hätte ihn wohl kaum wirklich dem harten Licht der Tatsachen ausgesetzt. Zweifellos wäre Mr. Groves nur zu Mrs. Peters gelaufen, wie immer, wenn ihm etwas nicht passte, und hätte gesagt: »Ich sage Ihnen, wir müssen alles in den Griff kriegen. Dann kommt auch eine bessere Klasse von Menschen hierher«, und sie hätte das Beste draus gemacht: »Richtig, Mr. Groves. Sobald wir dazu kommen, gehen wir das an.« Damit stellte man ihn zufrieden, denn nie blieb er lange an etwas dran; eine Stunde später hatte er vergessen, was er eben erst vorgeschlagen hatte. Gerade diese Trübung und seine Impulsivität waren es, die ihn beschützten. Wenn die Bewohner morgens nach unten kamen, stand Bert Groves schon da, verbeugte sich mit einem Lächeln vor ihnen und fragte interessiert: »Wie geht es Ihnen denn heute Morgen?« – und einige antworteten herzhaft: »Geht gut, Mr. Groves«, und blinzelten jemandem in der Nähe zu, andere schauten dämlich drein, manche lächelten, einige grunzten. »Soll er es doch glauben«, dachten sich die meisten und machten sich Direktor Peters’ gutmütige Haltung zu eigen. »Schadet doch nichts.«
Eines Tages sagte er zu Mrs. Peters: »Ich glaube, ich ziehe wieder in mein altes Zimmer. Mit dem da«, er wies ruckartig mit einem Ellbogen auf seinen Zimmergenossen, »will ich nicht mehr zusammenwohnen.«
»Na schön, Mr. Groves, wenn es bloß noch ein klein bisschen länger ginge? Wir haben wirklich kein Zimmer für ihn frei – und wie sähe das aus, einen Patienten wegzuschicken, nicht wahr?« Er war zufrieden, ging davon und setzte sich in irgendeine Ecke, döste und grübelte in dem schmalen, zuckenden Streifen Licht, der seinen Verstand noch erhellte. Nur manchmal erhob er sich, um dem Mann mit den Kohlen zu sagen, wo er sie abladen sollte, und wenn der Direktor ihn anwies, sie woandershin zu bringen, machte er sich nicht lange Gedanken.
Das Kristallschwefelwasser wurde immer noch an eine Stelle vor dem Haus geleitet, und jeden Tag sah man ihn hingehen und sich ein Glas holen, oft brachte er auch jemand anderem ein Glas und sprach mit gebrochener Stimme, jedoch in altgewohnter Weise: »Trinken nicht vergessen, Sie sind ja wegen des Kristallschwefelwassers hier.« Und derjenige antwortete dann entweder lauthals, damit er weiterredete, oder nahm das Wasser gutmütig dankend entgegen oder kicherte oder sagte vielleicht: »Was ham Sie da für uns?« – woraufhin er zu Mrs. Peters ging und darüber sprach, wie sie Menschen besserer Klasse herbekämen.
So ging das zwei Jahre lang. Aus dem Ort kamen Leute, um ihn zu besuchen. Einige wenige seiner alten Freunde waren noch übrig und auch solche, die ihn in jüngeren Jahren entfernt gekannt hatten. Er empfing sie, als hielte er Hof, berichtete ihnen von seinen Verbesserungsplänen, führte sie herum und bat sie, zum Abendessen zu bleiben. Mittlerweile nannten die Bewohner das Haus nicht mehr »die Farm«, sondern »das Sanatorium« – wobei sie das Wort auf verschiedene Weise aussprachen; ihre kleinen Witze, wie gut ihnen das Kristallschwefelwasser doch täte und wie bald sie wieder abreisen könnten, belebten sie. Währenddessen wurde der alte Mann – er war nun über fünfundsiebzig – immer gebrechlicher; immer häufiger musste jemand rasch nach den Tropfen laufen, die sein Herz überzeugten, noch etwas länger zu schlagen.
Und dann schlug das Boosterkomitee – oder jedenfalls die Boostergesinnung – doch noch auf der Armenfarm zu. Immer mehr Leute, nicht nur Bert Groves, beschwerten sich, wie heruntergekommen alles wäre.
Direktor Peters hatte seinen Leitsatz »Schadet doch nichts«, mit dem er Bert Groves in dem Glauben ließ, dass er das Haus leite, offenbar in vieler Hinsicht überstrapaziert. In dieser Zeit wurde sehr viel von Effizienz gesprochen, und man fand heraus, dass Hen Peters nicht einmal wusste, was das Wort überhaupt bedeutete. So lief es am Ende darauf hinaus, dass ein junger Mann mit ausgesprochen effizient aussehendem rotem Haar – ein energischer, gewiefter, entschiedener Mensch – die Nachfolge der Peters antreten würde. Die Peters würden sich wieder der Farmarbeit zuwenden.
Eines sonnigen Nachmittags im Spätherbst ging Mrs. Peters nach einem anstrengenden Arbeitstag im Haus, wo sie alles für den Abschied vorbereitet hatte – der neue Direktor sollte in der folgenden Woche eintreffen –, hinaus über den Hof und schob langsam ihre Füße durchs Herbstlaub. Sie war herausgekommen, um – wie sie es nannte – zu verschnaufen, ging aber weiter zur anderen Seite des Hofs – bis zum Weideland – und betrachtete ein paar Obstbäume, die vor Kurzem hier gepflanzt worden waren. Trotz ihrer Bekräftigung, dass ihr der Abschied nichts ausmache, dass es eine undankbare Aufgabe sei und sich gern jeder andere dafür einspannen lassen dürfe, unternahm sie in diesen Tagen einige kleine Pilgerreisen. Wie sie nun auf einer Bank bei den neuen Obstbäumen saß, die sie selbst mitgepflanzt hatte, kam der alte Mr. Groves über den Hof gehumpelt und gesellte sich zu ihr. Er war gebeugt und zitterte bei jeder Bewegung; merkwürdig, dass er trotzdem immer noch wirkte wie Bert Groves.
»Ich werde noch viel mehr davon pflanzen lassen«, begann er in schrillem, bebendem Ton. »Die können ruhig hier ganz entlang stehen.« Er zeigte, wie er es meinte, und sank dann schwer atmend auf die Bank, als hätte er sich zu schnell bewegt.
»Das wäre sehr hübsch, Mr. Groves«, sagte sie in ihrem großzügigen Ton.
Er verfiel in das Schweigen des Alters, wurde jedoch schon nach einer Minute wieder munter: »Oh, ja, ich habe noch jede Menge anderer Pläne. Und vieles, was ich im Frühling verbessern will.«
»Das wird bestimmt schön«, antwortete sie mit einem kleinen Sprung in der Stimme, denn sie fragte sich, wie es im Frühling wohl um Mr. Groves stehen mochte.
Der neue Direktor kündigte an, nach seiner Übernahme würde er solches Affentheater nicht dulden. Mit Sonderrechten wäre dann Schluss; es gäbe Regeln und Bestimmungen, und daran müsse man sich halten – der alte Groves genauso wie alle anderen. Ein Skandal sei das, wie alle ihn im Glauben belassen hätten, er wäre hier der Geschäftsführer! Das schade der Disziplin. Beim ersten Befehl von ihm würde man ihm sagen, dass er dort nun nichts mehr zu befehlen hätte.
Daher saß Emma Peters da und fragte sich traurig, wie es im Frühling wohl um Mr. Groves stehen mochte.
Sie dachte an jenen Tag, als sie ihn vom Zug abgeholt hatte. Er war jetzt schwächer als damals, hatte aber trotzdem in diesen zwei Jahren, die der nächste Direktor Affentheater nannte, in gewissem Sinn wieder zu sich gefunden. Er sah sich nicht mehr so heimlich und verängstigt um. Wenn er auch schwach war, konnte er doch recht energisch Befehle erteilen. Und wie der abgesetzte, zu leichtfertige Direktor sagen würde: »Es schadet ja nichts«, wenn er ja nur den Befehl geben wollte und ihn, gleich nachdem er gegeben war, wieder vergaß. Durch die Macht, Befehle zu geben, hatte er jedoch irgendwie wieder zu sich selbst gefunden. In diesen zwei Jahren hatte er jene Fügsamkeit, die Bände sprach über die Jahre, da ihn jemand aufgenommen hatte, hinter sich gelassen. Und jetzt? Sollte ihm am Ende der Frieden, den diese Täuschung ihm gewährt hatte, genommen werden? Auch wenn die Wahrheit nicht ganz zu ihm durchdränge, würde es ihn doch aufregen, den armseligen kleinen Frieden, in welchem er ruhte, stören und ihn in jenes zermürbende Gefühl der Abhängigkeit zurückwerfen. Was würde er denken, was passiert wäre? An wen würde er sich wenden? Was würde er wohl glauben, fragte sie sich plötzlich tränenblind, wo sie wäre? Das machte ihr den Abschied am schwersten. Sie wünschte, sie könnte für die kurze, ihm noch verbleibende Zeit sein Schutzschild bleiben und einfach weiter »Ja, Mr. Groves« sagen. Es schadet doch nichts, dachte sie mit aufwallender Ablehnung gegen diesen Mann mit den roten Haaren, der angeblich so effizient war – was das auch heißen mochte! Wieso nicht – wie sie immer sagte – das Beste draus machen?
Der alte Mann neben ihr fuhr wieder fort mit seinen Grübeleien. »Tja«, seine Stimme bebte, als er zum Haus hinnickte, »das alte Haus hat einiges erlebt.«
»Wohl wahr, Mr. Groves.«
»Ja, eine Menge erlebt.« Nach einer Pause sah er sie an: »Ich wurde ja darin geboren«, als erzählte er es ihr zum ersten Mal.
Sie nickte.
»Ja, genau da in diesem Haus geboren. Mein Großvater hat dort gewohnt, dann mein Vater und meine Mutter – und Ed.« Er saß da und nickte dazu.
Doch rappelte er sich wieder wach. »Ja, aber ohne mich …«, er nickte weise und sprach nicht weiter. »Wussten Sie schon«, er machte eine kleine Bewegung, als wolle er sie anstupsen, »mein Vater wollte nicht, dass ich das Anwesen zu Crystal Sulphur Springs mache!«
»Tatsächlich!«, murmelte sie.
»Jawohl, ich musste reden und reden und reden …« Er streckte die Beine aus, als wäre die Erinnerung daran, wie er hatte reden müssen, nicht auszuhalten.
Dann sank er zurück, und als er sich erneut aufrappelte, schien weniger von ihm aufzuleben, als wäre mehr von ihm genommen worden. Er machte eine schwache Bewegung, wie um sie anzustupsen, und flüsterte belustigt: »Und mein Bruder Ed – der war zu Anfang auch nicht dafür. Nein, war er nicht«, bestätigte er nickend und gluckste schwächlich über seinen Witz über Edward.
Sie dachte an die ganze Geschichte: an dieses Haus, als es noch das Anwesen der Groves war, das bunte Treiben, Bert Groves, der mit seinem schönen Pferd die Straße am Fluss entlangritt; an das Kristallschwefelwasser, an Bert Groves, als er »ein Haus in Flammen« war, und wie er früher andere dazu bringen konnte, an etwas zu glauben. Ihre Augen waren schon wieder feucht, als sie an die Eigentümlichkeit des Lebens dachte, an die Härten, mit denen Menschen zurechtkommen mussten. Der Sonnenuntergang war großartig; die Farbe flammte durch die nackten Bäume. Für Emma Haines Peters war dies ein Augenblick, der alle empfindsamen Menschen mit einem bestimmten, weichen Gespür für das ganze Wunder des Lebens erreicht.
Als sie die Kühle der Nacht spürte und sich erhob, sprach sie mit sanfter Stimme: »Wir sollten langsam reingehen, Mr. Groves.«
Mit etwas glasigen Augen sah er hoch zu ihr; er wollte aufstehen, fiel aber wieder zurück auf seinen Platz. »Die Tropfen!«, sagte sie leise und wirbelte herum, als wolle sie losrennen, als wolle sie die Männer rufen, die am Haus Laub harkten. Doch sie rannte nicht los, rief nicht nach ihnen. Sie stand still da – stumm, gebannt.
Er rang nach Luft; sie wusste, dass sein Kopf auf die Brust sinken würde. Sie hatte das schon früher gesehen; sie wusste, was zu tun war – was rasch getan werden musste. Sie versuchte, sich zu rühren, aber irgendetwas in ihr ließ sie nicht. Sie sah es vor sich – was passieren würde, wenn Mr. Groves in den Speisesaal kommen und dem neuen Direktor zum ersten Mal sagen würde, was es zum Abendessen geben sollte. Deswegen stand sie da mit dem Rücken zu dem nach Luft ringenden alten Mann, stand da wie festgenagelt, sah zu den Männern hinüber – ihren ihr zugewandten Rücken –, die am Haus Laub harkten, betrachtete den herrlichen Sonnenuntergang, der durch die kahlen Bäume strömte. Sie stand noch starr mit verkrampften Händen da, als es hinter ihr schon still war – vollkommen still, und sah die Farben durch die dunklen Äste flammen. Schließlich bewegte sie sich – konnte sich wieder bewegen –, und da bewegten sich auch ihre Lippen. »Aber es ist ja besser so«, hauchte sie leidenschaftlich. Als wolle sie etwas beschwören da draußen in der Farbe, die das alte Anwesen der Groves überflutete, hauchte sie wieder: »War es nicht besser so?«