10. Kapitel

6. Mai, Donnerstag, frühabends

Es war später Nachmittag, als Pamela ihren kleinen Fiat vor dem Haus mit dem blauen Dach in der Wolfskuhle parkte und den Motor abstellte.

Das mit der Fingerfarbe war fixer gegangen als nach Sabrinas Ankündigung befürchtet. Wie immer, wenn ein Profi am Werk war. Und so hatte sie sich ihrer genialen Idee widmen können, die schnell zu einem konkreten Plan gereift war.

Ahsen schielte unter ihrem Kopftuch vom Beifahrersitz zu ihr herüber.

»Hömma, Pamela, vielleicht ist das doch keine so gute Idee. Ich mein, was ist, wenn du recht hast, und es war echt der Winter, der den Vorsitzenden um die Ecke gebracht hat? Der merkt das doch sicher, dass was mit unserer Story nicht stimmt. Bestimmt kommt der uns gleich auf die Schliche. So einer fackelt nicht lange – zack, zack! –, und wir oxidieren dann in so ’nem weiß getünchten Kellerraum in diesem Bau vor uns hin, und keiner weiß, wo wir sind.« Sie klang ängstlich. In etwa so, wie Pamela sich in einer geheimen Ecke tief in ihrem Inneren auch fühlte.

»Ich hab Totti ’ne Nachricht geschickt«, sagte sie, das jämmerliche Fiepen aus diesem inneren Winkel beharrlich ignorierend. »Wenn wir uns um zehn noch nicht gemeldet haben, soll er die Polizei einschalten.« Polizei, hm, na ja, sie hatte ihm die Karte von Kriminalhauptkommissar Lennard Vogt abfotografiert.

Ahsen sah auf die Armbanduhr.

»Jetzt ist es kurz nach fünf. Was, wenn der Winter noch nicht da ist?«

Pamela schnaubte. »Der ist Finanzbeamter. Der hat spätestens um vier den Griffel fallen lassen und ist definitiv schon zu Hause. Was ist, kommst du jetzt mit, oder willst du lieber im Auto warten, während ich drinnen einen Mörder überführe?«

Ahsen schloss die Augen, legte kurz die Hand aufs Herz und murmelte kurz etwas, in dem mehrmals Allah vorkam.

Dann sah sie Pamela entschlossen an. »Wenn ich lebend wieder nach Hause komme, hat Abdis kleiner Hintern aber Kirmes. Der hat vorhin Kayas Barbie die Haare abgeschnitten. Ich hab nur deswegen kein Riesendonnerwetter losgelassen, weil ich nicht wollte, dass es das Letzte ist, was er von seiner Mama in Erinnerung behält.«

Weil Pamela genau wusste, dass Ahsen ihren Kindern nie auch nur ein Haar krümmen würde, grinste sie leise in sich hinein.

»Heißt das, du kommst mit?«

»Ich kann dich doch nicht allein da reinlassen!«

Sie nickten sich zu. Ahsen zupfte noch einmal ihr Kopftuch zurecht. Dann stiegen sie aus und hoben ihre Putzboxen aus dem Kofferraum, die gerade so reinpassten.

Nebeneinander gingen sie die breite Einfahrt des Hauses entlang, in der ein weißer SUV in der Nachmittagssonne glänzte, nahmen die wenigen Stufen zur metallenen Haustür, und Pamela betätigte den Klingelknopf aus Messing. Im Haus ertönte das melodische Geläut der wohl weltbekanntesten Glocke, der des Big Ben.

Innerlich zählte Pamela bis zehn. Dann bis zwanzig.

»Der ist nicht da«, flüsterte Ahsen und wollte sich zum Gehen wenden. Doch Pamela hielt sie mit der freien Hand an der Schulter fest. In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und sie standen Gero Winter gegenüber.

Er war klein für einen Mann, vielleicht knapp über eins siebzig, aber mit breiten Schultern und muskulösen Armen, und mit genau dem nichtsagenden blassen Gesicht, das Pamela von dem Foto im Klub kannte.

Fragend sah er von einer zur anderen.

»Ja?«

Pamela stieß Ahsen in die Seite.

»Ja, äh, gute Tag!«, sagte die daraufhin mit eindeutig türkisch eingefärbtem Zungenschlag, den sie stets gekonnt einzusetzen verstand, wenn er von Vorteil war. Normalerweise sprach sie ebenso flexibel Ruhrpott oder Hochdeutsch wie Pamela. Dann folgte ein angedeuteter Knicks. Der war nicht abgesprochen, sah aber gut aus. »Wir von Zeitung Esotherisch Zuhause Heute. Sollen Haus putzen.«

Gero Winter zog die Brauen zusammen.

»Wie bitte? Was für eine Zeitung? Sie sind bestimmt falsch.« Schon machte er Anstalten, die Tür zu schließen.

Ahsen behielt die Nerven. Sie nahm rasch den Zettel, der oben auf ihrer Putzbox lag, und las vor: »Herr. Gero. Winter. Wolfkuh.«

»Wolfskuhle«, korrigierte Winter sie und musterte sie erneut, nun eindeutig verwirrt. »Ja, das bin ich. Aber …?«

»Erstes Los. Preisausschreibung.« Ahsen nickte ihm eifrig zu. »Gaaaanzes Haus sauber!«

Winter starrte sie an, dann wanderte sein Blick zu Pamela, die ihn scheu anlächelte, als verstände sie kaum ein Wort.

»Kollegin Justyna«, erklärte Ahsen gleich. »Ist polnisch. Spricht nicht deutsch.«

»Dobry Wieczór!«, murmelte Pamela, was Guten Abend hieß, wie sie von Mikes Schwester wusste, die tatsächlich Justyna hieß und außerdem ihre polnischen Wurzeln hochhielt.

»Ein Preisausschreiben?«, wiederholte Winter, nun plötzlich doch interessiert. »Was soll das denn gewesen sein? Kann ich mich nicht dran erinnern.«

Ahsen und Pamela sahen sich ratlos an und zuckten mit den Schultern.

»Nicht wissen. Nur Adresse und Auftrag. Erstes Los. Preisausschreibung!« Ahsen strahlte Winter an. »Gleich reinkommen? Loslegen?«

Winter zögerte.

»Gratulacje!«, rief Pamela enthusiastisch und hätte auch die Arme hochgeworfen, wenn sie nicht nervös ihre Putzbox samt Schrubber umklammert hätte.

Da hellte sich das Gesicht ihres Gegenübers plötzlich auf. »Ach jaaa! Jetzt erinnere ich mich! Dieses Preisausschreiben bei Unser Haus – Heute! Ja, ja, ich erinnere mich. Ach, und da konnte man eine Reinigung gewinnen? Und ich hab tatsächlich den ersten Preis gewonnen? Ist mir noch nie passiert.«

»Glückspitz!«, verkündete Ahsen und nickte an ihm vorbei. »Gleich anfangen? Kollegin und ich zusammen. Zwei Stunden, zack, fertig.«

Er knickte ein. »Tja, wieso nicht? Meine Hilfe würde morgen kommen, dann kann ich der ja absagen und mir das Geld sparen. Und ich bin sowieso den Abend zu Hause. Sitze an Lightroom. Ähm, … Foto-be-arbeit-ung«, erklärte er an sie gewandt, sah aber beim Blick in ihre betont verständnislosen Mienen die Vergeblichkeit des Unterfangens ein und trat einfach zur Seite, um sie hereinzulassen.

Sie schwärmten aus. Mit dem routinierten Radar der geübten Reinigungskraft lief Ahsen durchs Erdgeschoss in Richtung Küche, während Pamela die freischwebende Treppe ins Obergeschoss erklomm.

»Ich, ähm … finden Sie sich allein zurecht?«, rief Winter, während er Ahsen hinterhereilte.

Oben angekommen, stellte Pamela Putzbox und Schrubber ab und verschaffte sich blitzschnell einen Überblick über die vorhandenen Zimmer. Direkt rechts ein Gästezimmer, in das die Nachmittagssonne hereinschien und zu dem ein kleines eigenes Bad gehörte. Das Bett war ordentlich gemacht, und der Raum hätte unpersönlich gewirkt, wenn nicht an den Wänden etliche gerahmte Fotos gehangen hätten. Sie zeigten Menschen vor unterschiedlichen Hintergründen in einem Studio. Berührende Bilder von lauthals lachenden Kindern, sich anschmachtenden Liebespaaren – hey, da waren auch zwei alte Männer dabei, süß, die beiden – und nachdenklich dreinblickenden Hochschwangeren. Mal in Schwarz-Weiß, mal in Farbe. Die Fotos hatten was, sahen aus, als hätte der Fotograf ein Teil der Seele derjenigen eingefangen, die er abgebildet hatte. Konnte einer, der solche Bilder macht, eiskalt losgehen und einen Klubkollegen totknipsen?

Pamela wandte dem Zimmer den Rücken zu und spähte in das gegenüber. Offenbar das Schlafzimmer des Hausherrn. Das Bett war zerwühlt, auf dem Nachttisch stand eine angebrochene Wasserflasche, dem Bett gegenüber ein riesiger Flachbildschirm. Das angrenzende Bad war geräumig, mit Dusche sowie in den Boden eingelassener Wanne ausgestattet.

Nebenan befand sich ein kleiner Fitnessraum samt Laufband, Seilzug und einer Bank zum Gewichtdrücken. Daher also die Muckis. Weil sich in diesem Raum kein einziger Schrank oder etwas ähnlich Vielversprechendes befand, schloss Pamela leise die Tür hinter sich und betrat den letzten Raum auf der Etage: das geräumige Arbeitszimmer. Hier sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Papier, Fotos, Kameras, Stative, Fachbücher lagen auf allen erdenklichen Ablageflächen. Auf dem überladenen Glasschreibtisch mit zwei Rollcontainern darunter standen zwei große Bildschirme, auf denen sich leider bereits die Schoner eingeschaltet hatten und in Form von Blitzen über die nachtschwarzen Flächen zuckten. So konnte sie nicht sehen, woran Winter gerade gearbeitet hatte. Die gesamte rechte Wand nahm ein brusthoher Aktenschrank ein, in dessen schwarzer Metalloberfläche Pamela sich spiegelte. Wie immer auf der Arbeit trug sie alte Jeans und ein aus der Form geratenes T-Shirt, heute mit der Aufschrift Niemand ist vollkommen!.

Was Pamela nicht gespiegelt sehen konnte, war ihre Rückseite, von der sie wusste, dass darauf zu lesen war: Ich bin Niemand.

Stattdessen entdeckte sie in ihrem Gesicht eine gewisse Gier beim Anblick der diversen Aktenschubladen, die sie regelrecht lockten. Es kribbelte ihr in den Fingern, sie aufzuziehen und nach einem Hinweis darauf zu suchen, warum Winter derart stinkig auf Neumann gewesen sein könnte, dass er im wahrsten Sinne des Wortes zugeschlagen hatte.

Dann fiel ihr Blick auf das, was auf dem Aktenschrank lag. Waren das nicht jede Menge Blitzlichter?

Pamela trat näher und inspizierte die Dinger.

Doch schon im nächsten Augenblick spürte sie, wie die kleinen Härchen in ihrem Nacken sich aufrichteten.

Ohne sich umzudrehen, wusste sie, dass Winter hinter ihr in der offenen Tür aufgetaucht war. Also hob sie die Hand und fuhr mit der Fingerspitze über die Oberfläche des Möbelstücks. Wie erwartet haftete Staub daran, und sie schüttelte mit einem leisen »Tz, tz« den Kopf.

»Hier arbeite ich gerade«, sagte Winter von der Tür her, und es fiel Pamela nicht schwer, einen kleinen Schreck zu simulieren, als sie zu ihm herumfuhr. »Bitte fangen Sie doch in den Schlafzimmern an.«

Sie starrte ihn an.

Er sie ebenfalls.

Dann legte er beide Hände aneinander, kippte sie zur Seite und bettete die Wange daran. Mit dem Winken seines Daumens deutete er hinaus.

»Ah!« Pamela hob den Daumen ebenfalls als Zeichen, kapiert zu haben, und machte, dass sie hinauskam.

»Ich hab den Staubsauger mit raufgebracht, steht an der Treppe«, rief Winter ihr noch hinterher.

Mit Tüchern, Eimer und Putzmittel ausgerüstet, nahm Pamela Kurs aufs Schlafzimmer, machte das Bett, wischte die Oberflächen. Es war deutlich zu sehen, dass hier regelmäßig jemand sauber machte, der oder die ihr oder sein Handwerk verstand. Pamela tippte auf einen zweiwöchentlichen Rhythmus, denn eine feine Staubschicht fand sie doch hier und dort.

Leise zog sie die Schubladen des Nachttisches auf. Darin fand sie fünf Fläschchen Nasenspray in unterschiedlichen Füllstadien, Hals- und Kopfschmerztabletten, eine Betriebsanleitung für den Fernseher und zwei Kondome, deren Haltbarkeitsdatum überschritten war. Sie nutzte die Gelegenheit, ein Jackett in den großen Kleiderschrank hängen zu müssen, um die Taschen der anderen Jacken zu kontrollieren. Kinokarten, Kleingeld, ein Einkaufszettel. Nichts von Belang.

Dann saugte sie den hochflorigen Teppich, drapierte die Vorhänge am Fenster hübsch und fand, das reiche für den für ihre Ermittlung unwichtigen Raum.

Im Gästezimmer gab es noch weniger zu entdecken. Trotzdem lunzte sie in alle Schubladen der Kommode und den schmalen Kleiderschrank und achtete darauf, alle Staub­eckchen zu erwischen. Sie schob sogar drei, vier der Fotorahmen zur Seite, hinter denen ein Safe Platz gehabt hätte. Fehlanzeige.

Die Uhr sagte, dass sie bereits seit über einer Stunde arbeiteten. Ahsen hatte unten offenbar auch noch nichts Sachdienliches gefunden. Sie hatten abgemacht, dass sie sich in diesem Fall über ihre Smartphones melden würden.

Das zog Pamela jetzt aus ihrer hinteren Jeanstasche und tippte:

Brauche etwas Ablenkung. Aktenschrank im Arbeitszimmer vielversprechend – da sitzt aber W drin. Mindestens 10 Minuten.

Und schickte es ab.

Dann bezog sie hinter der Tür des Gästezimmers Position und wartete ab, was Ahsen sich einfallen lassen würde.

Es dauerte. Nichts geschah.

Pamela checkte das Handy. Ahsen hatte Daumen hoch geantwortet.

Noch eine weitere Minute. Dann ertönte plötzlich aus dem Erdgeschoss lautes Getöse und Geklirr sowie eine aufgeregte weibliche Stimme, die auf Türkisch zugleich schimpfte und jammerte.

Winter stürzte aus dem Arbeitszimmer und die unter seinen raschen Schritten bebende Treppe hinunter. Im nächsten Moment vermischten sich unten die aufgeregte weibliche und die betont beruhigende männliche Stimme zu einem interessanten Kanon.

Pamela huschte aus dem Zimmer und hinein in den Raum, in dem Winter gerade noch an den Bildschirmen gesessen hatte. Sie warf einen Blick darauf. Doch zu sehen war nur eine junge Braut in weißem Kleid samt Schleier, die liebreizend in die Kamera lächelte.

Der Aktenschrank!

Sie packte den Griff der ersten Schublade und zog daran. Vergeblich. So auch der nächste und der übernächste. Die gesamte obere Etage des Schranks war abgeschlossen. Ebenso die darunter und die ganz unten.

Warum sollte jemand, der ganz allein in einem Haus wohnte, einen Aktenschrank derart sichern? Doch wohl nur, weil das, was sich darin befand, auf keinen Fall zufällig von jemandem gefunden werden durfte.

Fieberhaft sah Pamela sich um. Kein Schlüssel weit und breit.

Ihr Blick blieb am Schreibtisch hängen. Die Rollcontainer. Sie lauschte kurz zur Tür. Immer noch war unten Ahsens rauchige selbstanklagende Stimme zu hören, die in den höchsten Tönen jammerte, und hin und wieder Winters beruhigende Erwiderungen.

Die Schubladen an den Rollcontainern beherbergten jede Menge Zeug, das sich in solchen Dingern üblicherweise rumtreibt: Stifte, Radiergummis, Post-its, Stecknadeln und Heftzwecken, Briefmarken, Stempel. Keine Schlüssel.

Ebenso wenig war sie auf dem Schreibtisch selbst erfolgreich. Vorsichtig hob Pamela Stapel von Papieren und Krimskrams an, spähte darunter und ließ alles wieder so zurück, wie es zuvor ausgesehen hatte.

Wenn sie in ihrem Job eines gelernt hatte, dann war es die Fähigkeit, sich genau zu merken, wie so eine Unordnung oder Dekoschnickschnack vorher ausgesehen hatte, damit sie es nach dem Putzen genauso wieder hinterlassen konnte. Für die Leute sah es aus wie vorher, nur sauber eben.

Und dann, an der äußersten Kante, verborgen unter einem Wälzer über ein Bildbearbeitungsprogramm: ein kleiner silberner Schlüssel an einem Ring.

Pamela schnappte ihn sich und flitzte um den Schreibtisch zum Aktenschrank.

»Nein, verdammt, Sie müssen mir das nicht ersetzen. Die Vase war doch nichts wert, ein Geschenk, hat mir sowieso noch nie gefallen!«, hörte sie von unten Winters Stimme und Ahsen emotionale Erwiderung, die nach Klageweib klang. Laut stachen die Worte »Chef!«, »Kündigung!« und »Vier kleine Kinder!« heraus.

Mit angehaltenem Atem steckte Pamela den Schlüssel in eines der Schlösser.

Er passte. Sie drehte ihn herum, und auf einen weiteren Druck glitt die Lade auf.

Hängeordner. Fein säuberlich alphabetisch geordnet. Hier drin befanden sich die Buchstaben E und F.

Pamela griff in eine der E-Laschen und zog die darin befindlichen Bilder heraus.

»Ich kipp ausse Latschen!«, zischte sie leise.

Auf den Fotos war eine Frau zu sehen. Aber das Bild war vollkommen anders als jene, die im Gästezimmer hingen.

Die Frau auf diesen Fotos trug Lackkleidung, hatte ihre Zwölf-Zentimeter-Stilettos auf den Rücken eines vor ihr knienden Mannes gestellt und hielt mit hochmütigem Blick eine mehrendige Peitsche in der Hand. Sie blickte in die Kamera, als wolle sie nur zu gern das Ding mal kräftig sausen lassen. Das Gesicht des Mannes war nicht zu erkennen, denn er trug eine Kapuze, die ihm bis zum Kinn reichte.

Pamela blätterte durch die anderen Fotos, die alle ähnlich gestaltet waren. Dann steckte sie sie in ihre Hängung zurück und nahm die nächsten. Dann die nächsten.

Überall dasselbe.

Es waren immer andere Frauen, blonde, rot gefärbte, dunkelhaarige, auch eine grauhaarige mit knallkurzem Schopf.

Alle trugen sie ähnliche Kleidung: Lack, Leder, Stiefel, hohe Absätze, Korsagen und gewaltig viel Schminke. Eine steckte sogar in piekfeiner Reitkleidung, schwang eine Gerte und lachte dabei lasziv in die Kamera.

Pamela verschloss die Lade wieder und wählte willkürlich eine andere.

Q, R und S.

Sie blätterte die Hängeordner durch. Überall dasselbe.

Doch dann hielt Pamela neben den Fotos plötzlich noch etwas anderes in der Hand. Einen Zettel, auf dem ein paar Daten notiert waren. Eine Internetadresse, eine Webseite, 12 Stück, 1200 Euro.

Moment mal!

Pamela zählte die Aufnahmen in dem Ordner. Sie kam auf zwölf Motive. 12 Stück. Hatte Winter dafür etwa allen Ernstes tausendzweihundert Schleifen kassiert?

Sie zog ihr Handy heraus und machte ein Foto von dem Zettel. Suchte in den anderen Ordnern nach ähnlichen, fotografierte sie. 6 Stück, 700 Euro. 28 Stück 3000 Euro.

»Mein lieber Scholli«, hauchte sie.

Ursprünglich hatte sie hier nach einem Notizbuch oder Ähnlichem gefahndet. Irgendetwas, das ihren Verdacht bestätigen würde, dass Winter sich regelmäßig über Einnahmen freuen konnte, weil reiche Mitbürger sich für die Vertuschung von Steuerhinterziehung erkenntlich zeigten.

Aber das hier sah nach etwas ganz anderem aus. Ihr Bauch sagte ihr, dass Klapperts Bemerkung zu Winters Tatmotiv ganz sicher etwas mit diesen Fotos hier zu tun hatte.

Sie stutzte. Sah noch einmal in den Hängeordner vor sich.

Diesmal beachtete sie jedoch nicht die Frau in ihrem Lackoutfit, sondern den Hintergrund des Bildes. Der war schwarzgolden marmoriert. Neben der Frau stand ein kleines Beistelltischchen, auf dem diverse vielversprechende Utensilien neben einem schlanken Kerzenständer lagen.

Den Kerzenständer kannte Pamela. Ebenso wie diesen Hintergrund.

Im Studio des Fotoklubs gab es riesige Papierrollen, die von einer Halterung an der Decke herabhingen. Je nachdem, welche Kulisse die Fotografierenden für eine Aufnahme wünschten, gab es sämtliche Farben des Regenbogens, Landschaften, das Meer, eine Waldlichtung, eine blühende Sommerwiese.

Ein kurzer Blick in die anderen Ordner bestätigte ihr, was sie bereits ahnte: Diese Bilder hier waren in dem Studio geschossen worden, in dem sie einmal die Woche den Boden wischte.

»Gibbet doch nich«, wisperte sie und steckte gerade das Foto zurück, als sie von unten etwas ausgesprochen Beunruhigendes hörte: Ahsen sang!

Das tat sie oft bei der Arbeit, wusste Pamela von den Einsätzen, zu denen sie hin und wieder gemeinsam gebucht wurden: vom Sportverein nach einer Siegesfeier, nach Karnevalsveranstaltungen oder Jubiläen. Deswegen war es das Zeichen, das sie für den Notfall vereinbart hatten.

Und wenn Pamela jetzt so recht überlegte, war es unten schon seit einer ganzen Weile wieder still. Keine hysterische Türkin mehr, keine sonore Männerstimme. Stattdessen hörte sie Schritte auf den schwingenden Holzstufen.

Pamela schloss rasch die Schublade und drehte den Schlüssel um. Doch sie kam nur noch dazu, das Ding aus dem Schloss zu ziehen und nach dem Putztuch zu greifen, dessen Zipfel sie in die Jeanstasche geklemmt hatte. Dann stand bereits Winter in der Tür.

Pamela wischte über den Aktenschrank und gab sich alle Mühe, mit ihren plötzlich zitternden Händen keines der Blitzlichter herunterzureißen.

»Was machen Sie denn hier?« Der Tonfall war alles andere als freundlich.

Pamela drehte sich um und lächelte ihn in gespielter Verwirrung an. Doch sein Gesicht blieb glatt. Sein Blick huschte von ihr über die geschlossenen Laden mit all seinen Kostbarkeiten. Plötzlich wirkte er misstrauisch.

Pamela spürte vor lauter unechtem Lächeln ihren Kiefer knacken.

»Sie, weg.« Sie deutete auf ihn und dann zur Tür. »Ich, sauber.« Sie winkte mit dem Putztuch, während ihre andere Hand den Schlüssel zum Aktenschrank umklammert hielt.

»Das brauchen Sie nicht. Das mach ich selbst. Diese Geräte sind empfindlich.« Er trat zu ihr und rückte ein Blitzlicht zurecht, das Pamela definitiv gar nicht angefasst hatte. Dann deutete er übertrieben höflich zur Tür.

Pamelas Schlüsselhand schwitzte.

In ihrem Kopf herrschte Leere.

Dieser verflixte Schlüssel musste an seinen Platz zurück.

Wenn sie das nicht schaffte, würde Winter wissen, dass sie an diesen so sicher verschlossenen Schubladen gewesen war. Jetzt, wo er sie hier am Aktenschrank ertappt hatte, würde er womöglich gleich nach dem Schlüssel sehen. Dann säßen Ahsen und sie in der Falle.

»Fenster?«, schlug Pamela vor und ging enthusiastisch am Schreibtisch vorbei zu der Scheibe des einzigen Fensters im Raum, die dummerweise gar nicht dreckig wirkte. Winters übliche Haushaltshilfe hielt ärgerlicherweise alles gut in Schuss.

»Nein, danke. Nicht nötig«, befand Winter ganz zu Recht und wiederholte die auffordernde Geste.

Dies war eine der Situationen im Leben, wo man unbedingt der einzigen, auch noch so schlichten Eingebung folgen sollte, die sich einem aufdrängte!

Pamela zuckte mit den Achseln, kam wieder am Schreibtisch vorbei und … stolperte über ihre eigenen Füße.

Gerade noch schaffte sie es, sich am Schreibtisch abzustützen, und riss dabei etliche der Papiere hinunter, die allesamt auf dem Teppich landeten.

»Oh, Dziekuje!«, rief sie, was eigentlich Oh, danke schön! bedeutete, aber das polnische Wort für Entschuldigung hatte sie sich einfach noch nie merken können.

Rasch bückte sie sich und raffte so viel von den Papieren zusammen, wie sie greifen konnte, und ließ dabei den Schlüssel unauffällig zwischen den Papierwust fallen.

»Nein, nein, nein!«, brüllte Winter und stürzte zu ihr hin, um sich selbst um seine Unterlagen zu kümmern.

Pamela zuckte zurück und ließ ihn machen.

Winter sammelte Blatt für Blatt ein und sortierte sie dabei nach einem wohl nur ihm bekannten Schema.

Bei diesem Anblick wurde Pamela unwohl. Das sah so aus, als sei der Kerl zwar oberflächlich betrachtet ziemlich chaotisch mit seinen Sachen, hielte aber still für sich durchaus eine Ordnung, die nur er durchschaute.

Sie beschloss den geordneten Rückzug und machte sich auf leisen Sohlen in Richtung Tür.

»Moment mal!«, ertönte es da hinter ihr.

Sie erstarrte.

Als sie sich umwandte, sah sie, dass der am Boden kniende Winter den Schlüssel zum Aktenschrank in der Hand hielt.

Mit zu Schlitzen verengten Augen sah er den Schlüssel an, dann zur anderen Seite des Schreibtisches, wo Pamela das verdammte Ding tatsächlich auch entdeckt hatte, dann zum Aktenschrank. Und dann richtete er den Blick auf sie.

»Jetzt reicht’s!«, sagte er gefährlich leise und erhob sich vom Boden. »Sie verlassen jetzt augenblicklich das Haus!«

Als er einen Schritt auf sie zumachte, wandte Pamela sich rasch um und beeilte sich, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Neben der Treppe raffte sie ihr Putzequipment zusammen und war bereits auf der ersten Stufe, als Winter hinter ihr auftauchte.

»Wer seid ihr überhaupt?«, schnauzte er. »Das mit dem Preisausschreiben war doch ein Fake, oder?« Dass er plötzlich zum Du wechselte, jagte Pamela einen kalten Schauder den Rücken hinunter.

Unten erschien Ahsen in der Tür zu einem der Räume, und Pamela deutete mit dem Kopf zur Haustür. Ihre Freundin reagierte sofort, verschwand noch einmal kurz und war sofort wieder mit ihrer Putzbox zur Stelle.

»Stopp!«, donnerte Winter und schaffte es, Pamela auf der schwingenden Treppe zu überholen. Die letzten Stufen sprang er hinunter und landete vor der Haustür, versperrte ihnen also den Ausweg. Dann hob er die Hand mit einem Zeigefinger und fuchtelte damit vor ihnen hin und her. »Nee, nee, nee, so einfach kommt ihr jetzt nicht davon. Ich lass mich doch nicht verkackeiern. Wer seid ihr?«, wollte er wissen. »Warum seid ihr wirklich hier und …?«

In diesem Moment erklang die volltönende Stimme von Big Ben.

Ahsen und sie waren sowieso schon erstarrt, aber nun hielt auch Winter inne. Mit ärgerlich gerunzelter Stirn wandte er sich der Tür zu.

»Was ist denn heute hier los?«, knurrte er und öffnete.

Vor der Tür standen zwei Männer.

Der eine mit gewinnendem Lächeln, in lässig sitzenden stonewashed Designerjeans und strahlend blauem kragenlosen Hemd, das den dunklen Bronzeton seiner Haut zum Leuchten brachte.

Der andere, braunhaarig, eher blass und ernst dreinblickend, in Chinos, weißem Polohemd und knittrigem Blouson: Kriminalhauptkommissar Lennard Vogt.

Pamela hätte fast ihre Putzbox fallen lassen.

Der Blick des Kommissars, der zuerst auf Winter geruht hatte, glitt an diesem vorbei und erstarrte.

»Herr Gero Winter?«, fragte sein Kollege und hielt eine Dienstmarke in die Höhe, genau wie im Fernsehen.

»Äh … ja«, antwortete Winter, als sei er dessen selbst gerade nicht ganz sicher, und glotzte auf die ovale Marke vor seiner Nase.

»Kriminalhauptkommissar Vogt und Kriminaloberkommissar Schmidt, guten Abend«, fuhr der Typ fort. »Dürfen wir kurz hereinkommen?«

Dann warf er einen irritierten Seitenblick zum Kommissar hinüber, der noch keinen Ton von sich gegeben hatte. Hauptkommissar Vogt war nämlich damit beschäftigt, vollkommen fassungslos Pamela anzustarren.

Diese, in Winters Rücken, schüttelte heftig den Kopf, klemmte sich schließlich sogar die Putzbox auf die Hüfte, um mit der freien Hand deutliche Abwehrbewegungen zu machen und einen Finger an die Lippen zu legen. Das sah natürlich auch Oberkommissar Schmidt, der sie nun seinerseits verdutzt anblickte.

»Ähm … na ja«, stammelte Winter. »Ich bin eigentlich gerade …«

»Es dauert nicht lange«, beteuerte Schmidt. »Es geht um den Todesfall Neumann, wie Sie sich vielleicht denken können.«

»Wir sind sowieso schon weg«, mischte Ahsen sich ein und vergaß dabei ganz, dass sie gerade noch vorgegeben hatte, nur gebrochen Deutsch sprechen zu können. Flink schob sie sich an Winter vorbei, der sie giftig ansah, aber nichts sagte.

»Widdasehn!« Ahsen nickte allen zu und machte, dass sie die wenigen Stufen zur Einfahrt hinunterkam, in der nun neben dem SUV auch ein Polizeidienstwagen stand.

Pamela folgte ihr mit niedergeschlagenen Augen.

Sicherheitshalber drehte sie sich nicht noch einmal um. Doch sie hörte, wie die Männer noch etwas sagten und dann die schwere Tür hinter sich schlossen. Auf der Straße bog sie hinter Ahsen nach rechts zu ihrem Wagen.

Nachdem sie das Putzzeug verstaut hatten und in ihre Sitze gefallen waren, stieß Ahsen einen tiefen Seufzer aus.

»Okay, grenzenlose Bewunderung für alle Ermittlerinnen im Fernsehen!«, stöhnte sie. »Hätte mir echt fast in die Hosen gemacht, als der Typ gerade so ausgerastet ist. Boah, wie gut, dass die Kommissare genau in dem Augenblick aufgetaucht sind, oder? Was die wohl von Winter wollen? So ganz routinemäßig fragen, wo er vorgestern Abend war und so? Oder ob sie auch schon einen Verdacht haben? Dein Kommissar hat aber cool reagiert. Ich mein, der hat dich doch gleich erkannt und trotzdem nichts gesagt. Wahnsinn! Sieht ja wirklich nicht schlecht aus, ne? Wobei der jüngere eher mein Fall wäre. Diese schwarzen Locken! Und erst die Augen! Ich steh einfach auf diesen Typ Mann. Aber jetzt erzähl mal: Was ist denn da oben passiert?«

Pamela spürte, wie sich durch die erstarrte Maske der ängstlichen Anspannung ein breites Grinsen Bahn brach. »Ich sach ma so: Wir haben jetzt eine echte Spur. Aber das erzähl ich dir unterwegs. Erst mal nichts wie weg hier!«

Sie startete den Motor, und sie verließen Niederwenigern nur wenig unter Lichtgeschwindigkeit.