»Irgendwas hat der Kerl zu verbergen«, bemerkte Thilo, als er rückwärts aus der Einfahrt setzte. Er steuerte den Dienstwagen geschickt um die parkenden Autos in der Wolfskuhle.
»Den Eindruck hatte ich allerdings auch. Auch wenn sein Alibi wasserdicht sein dürfte. Wenn er wirklich den ganzen Abend an diesem Online-Treffen von Porträtfotografen teilgenommen hat, ist das schnell nachzuprüfen«, erwiderte Lennard.
Auch sein Bauchgefühl hatte sich bei der kurzen Befragung von Gero Winter gemeldet. Der Mann wirkte ausgesprochen nervös, flattrig. Deswegen hatte Lennard die Befragung länger hinausgezogen, als er ursprünglich vorgehabt hatte.
Die meisten Menschen wurden ein wenig aufgeregt, wenn sie Besuch von der Polizei bekamen. Kripo daheim. Da schien sich plötzlich in allen ein schlechtes Gewissen zu regen. Als hätte jeder noch so rechtschaffene Bürger irgendwo eine Leiche im Keller.
Doch Winter war ein anderes Kaliber. Er zeigte nicht nur eine leise Aufregung, sondern war regelrecht versteinert. Ein Mann, den sie auf jeden Fall im Auge behalten sollten. Vielleicht war er es nicht selbst gewesen, wusste aber etwas über die Tat? Oder womöglich hatte er jemanden mit dem Mord beauftragt, sich selbst aber ein gutes Alibi für die Tatzeit verschafft? Geld genug schien er ja zu haben. Schickes Häuschen in einer wohlhabenden Gegend. Dickes Auto in der Einfahrt. Haushaltshilfen …
Als seine Gedanken an diesem Punkt angekommen waren, fragte Thilo, als habe er genau das geahnt: »Sag mal, die beiden Frauen, die gerade gehen wollten, als wir kamen, kanntest du die?« Natürlich waren seinem Kollegen Pamela Schlonskis Verrenkungen aufgefallen.
»Allerdings. Die Blonde ist die Reinigungskraft, die den toten Neumann gefunden hat.«
»Is nich wahr!«
»Doch.«
»Was macht die denn bei Winter?«
»Keine Ahnung. Auf den ersten Blick sah es doch nach einem Putzjob aus. Aber die lauten Stimmen, die wir gehört haben, als wir vor der Tür standen, machen mich stutzig. Schien hoch herzugehen zwischen ihm und den beiden«, sagte Lennard.
Leider hatten sie nicht verstehen können, was gesprochen wurde, aber der Ton war eindeutig etwas schärfer gewesen.
Und nachdem Winter geöffnet hatte, hatte Frau Schlonski mehr als klargemacht, dass er ihre Bekanntschaft nicht erwähnen sollte.
Einer Eingebung folgend, nahm Lennard das Handy und wählte die Kurzwahl für Tina Bruns.
»Lennard?«, meldete die sich auch sofort.
»Ja, hallo. Suchst du mir mal die Adresse von der Reinigungskraft aus dem Fotoklub raus? Sie heißt …«
»Pamela Schlonski«, wusste Tina sofort. Er konnte sie lächeln hören, während das Klappern einer Tastatur im Hintergrund ertönte. »Klasse Frau, oder? So wahnsinnig tough. Ich wünschte, ich wäre bei meiner ersten Leiche auch so cool gewesen.«
»Ähm … ja«, brummte Lennard.
»Da hab ich sie schon. Das ist eine Adresse in Holthausen. Ich glaub, das ist gegenüber vom Friedhof. Hast du was zum Notieren?«
Lennard wühlte kurz im Handschuhfach und förderte Stift und Notizblock zutage. Tina nannte ihm die Anschrift, er wünschte ihr einen schönen Feierabend, und sie legten auf.
»Sollen wir da noch hin?«, erkundigte Thilo sich. Auf dem Weg zu der Adresse würden sie am Dezernat vorbeikommen, und eigentlich war Feierabendzeit.
»Nicht nötig, dass du mitkommst. Du hast doch gleich dein Training. Wärest du aber so nett und würdest mich kurz hinfahren? Ich lauf dann später nach Hause. Tut mir ganz gut.« Er klopfte sich auf den nicht vorhandenen Bauch.
Thilo grinste.
»Wie du willst. Aber wenn du was für deine Fitness tun willst, solltest du mit den Kollegen und mir Fußball spielen.«
»Och, danke. Vielleicht lieber nicht.«
»Die Einladung steht.«
Lennard nickte und sah aus dem Seitenfenster.
Sie sprachen nicht weiter, bis er in der Sackgasse in Holthausen aus dem Wagen stieg.
»Soll ich warten? Vielleicht ist sie ja nicht zu Hause«, schlug Thilo noch vor.
»Danke dir. Ich laufe in jedem Fall. Bis morgen.«
»Bis morgen, Lennard.«
Er schlug die Tür zu, Thilo wendete den Wagen und fuhr davon.
Fußball spielen mit den Kollegen. Das hatte er schon in Bremerhaven nicht gern gemacht. Da waren auch ein paar Verrückte im Dezernat gewesen, die an den Wochenenden grün-weiß gekleidet ins Stadion zu Werder Bremen zogen.
Aber hier im Ruhrgebiet war der Fußballwahnsinn quasi noch potenziert. An den Brücken der A40, die sich quer durchs Revier zog, waren Sprüche und allseits bekannte Anspielungen auf Fußballlegenden angebracht. Klubzugehörigkeit war eine Frage der Ehre. Und wehe, du trugst an entsprechenden Spieltagen die falschen Farben. Schwarzgelb. Blauweiß. Rotweiß.
Tz, die waren einfach drollig, die Menschen hier.
Lennard wandte sich den Hochhäusern zu, auf die das Schild mit den Hausnummern deutete, unter denen sich auch Pamela Schlonskis Adresse befand.
Ein großer Garagenhof gehörte zu den Gebäuden, die fünf Stockwerke hoch waren. Für eine Großstadt wäre das ein Klacks, aber für Hattingen schon eher ungewöhnlich. Hier gab es viele Ein- und Zweifamilienhäuser, im Zentrum auch mal Altbauten, die nicht im Krieg zerstört worden waren, mit drei Etagen.
Die fünf hohen Häuser lagen am Hang, und eine Treppe führte zu ihnen hinauf. Schon im ersten fand er in der Klingelschildleiste den Namen.
P & L Schlonski stand da.
Irgendetwas daran berührte ihn seltsam. Vielleicht war es die Tatsache, dass er bisher keinen Gedanken daran verschwendet hatte, dass Pamela Schlonski verheiratet war.
Dabei hatte sie es ihm selbst gesagt, gleich bei ihrer ersten Begegnung im Klub hatte sie ihren Mädchennamen erwähnt. Was ja auf Namensänderung durch Heirat hinwies.
Vielleicht war es dieses simple kleine Zeichen, dieses »&« zwischen den beiden Initialen, das ihn daran erinnerte, dass an seiner Tür nur sein Nachname stand. Der auch noch Sandras Nachname war. Aber wahrscheinlich nicht mehr lange. An seiner Haustür hatte sich absolut nichts geändert, obwohl in seinem Leben seit ein paar Wochen alles kopfstand. Ein wirklich deprimierender Gedanke.
Eher er den vertiefen konnte, betätigte er den Klingelknopf.
Es dauerte nicht lange, dann ertönte in der Gegensprechanlage die leicht rauchige Stimme: »Ja?«
»Vogt hier«, sagte er. »Hauptkommissar Vogt«, korrigierte er sich schnell.
Kurz war es still, dann summte der Türöffner. Er drückte die Tür auf und stieg die helle Steintreppe hinauf. Als er an den Türen im Hochparterre vorbeikam, fühlte er sich durch die eingelassenen Spione regelrecht beobachtet. Das war doch aber sicher Einbildung, oder?
Erster Stock. Zweiter Stock. Im dritten stand Pamela Schlonski in der rechten Tür. Sie trug noch die Jeans und das T-Shirt, in dem er sie vorhin bei Winter gesehen hatte.
Niemand ist perfekt. Au ja, das waren mal wahre Worte.
Eigentlich hatte er erwartet, dass sie kleinlaut, zumindest irgendwie schuldbewusst wirken würde, wenn er jetzt bei ihr auftauchte. Doch sie strahlte ihn an, als käme sein Besuch ihr ausgesprochen gelegen.
»Hereinspaziert!«, tönte sie und trat bei der weit geöffneten Tür in den fast quadratischen Flur, um ihm Platz zu machen.
Er kam ihrer Aufforderung nach, und sie schloss die Tür mit einem Fußkick.
»Gutes Timing«, raunte sie ihm zu, ohne das zu erklären. Stattdessen winkte sie ihn mit sich, an jeweils zwei Türen zur linken und rechten vorbei zu der offen stehenden geradeaus.
Er folgte ihr. Auf ihrem Rücken las er: Ich bin Niemand.
Wieso wunderte ihn das nicht?
Als er ins Wohnzimmer kam, saß dort auf dem gemütlich wirkenden Ecksofa ein braun gebrannter, breitschultriger Mann mit sonnengebleichtem vollen Haar und der Ausstrahlung eines jungen Robert Redford in Jenseits von Afrika. Nein, eigentlich saß er nicht auf dem Sofa, er fläzte sich dort herum.
»Sorry, Mike, aber du musst gehen«, erklärte Pamela.
Daraufhin richtete der Angesprochene sich auf und musterte ihn, Lennard, mit der milden Überraschung, die so gut aussehende Männer gern denen gegenüber an den Tag legten, die ihnen nie das Wasser reichen könnten.
»Kripo Hattingen, Kriminalhauptkommissar Vogt«, stellte Lennard sich rasch mit einem Nicken vor. Nicht, dass Mike noch auf seltsame Ideen kam, was das Verhältnis anging, in dem er selbst zu Pamela Schlonski stand.
»Mike Schlonski«, antwortete sein Gegenüber mit einem lässigen Winken. »Sie sind also am Mord dran, wo Pam die Leiche gefunden hat?«
Wie so oft in den letzten drei Jahren verspürte Lennard den heftigen Drang, grammatikalisch Erste Hilfe zu leisten, unterdrückte ihn jedoch erfolgreich.
»Genauso ist es«, bestätigte er und sah zu Frau Schlonski, die ihrerseits Mike abwartend anschaute.
»Ich wär ausse Latschen gekippt«, gestand dieser mit einer entsprechenden Geste. »Aber Pam nicht! Die Frau hat Standing, sach ich immer. Die haut nix so schnell um. Und, kommen Sie denn vorwärts? Schon ’n Verdacht, wer dat war?«
»Mike?«, mischte sich Pamela Schlonski ein.
»Yep?«
»Da hat der Maurer dat Loch gelassen!« Sie deutete zur Tür.
Mike schien kurz zu überlegen, ob er das einseitige Gespräch noch würde in die Länge ziehen können, entschied sich dann jedoch, der Aufforderung Folge zu leisten, und erhob sich.
»Vielleicht wird’s ja die Tage was mit ’nem zweisamen Abend?«, sagte er zu Pamela, als er an ihr vorbeiging.
»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, erwiderte die.
Mike lachte, als hätte sie einen guten Scherz gemacht, tippte sich an Lennard gewandt an die nicht vorhandene Mütze und verschwand in den Flur.
»Tschüss, Leia!«, rief er. Eine dumpfe Erwiderung war zu hören. Dann fiel die Wohnungstür zu.
Pamela Schlonski ließ sich seufzend aufs eine Ende des Sofas sinken und deutete aufs andere.
»Mein Ex«, erklärte sie. »Wir sind seit zehn Jahren getrennt, aber in der letzten Zeit hat er sich in den Kopf gesetzt, dass aus uns noch mal was werden könnte. Angeblich hat er sich die Hörner jetzt abgestoßen.« Sie rollte mit den Augen. »Na, verkackeiern kann ich mich selber. Jedenfalls vermeide ich es, ihn in die Wohnung zu lassen. Der hat Sitzfleisch, wissen Sie. Aber Leia, meine, also unsere Tochter, war den Nachmittag bei ihm, und er hat sie nach Hause gebracht, weil ich ja … beschäftigt war.«
Das war ein gutes Stichwort. Lennard öffnete bereits den Mund, um einzuhaken, als erneut eine Tür klappte.
»Mama?«, erscholl es aus dem Flur. »War das grad doch noch der Paketbote, der da geklingelt hat? Weil, ich warte auf ein Rezi-Buch von Ullstein, so’n toller Krimi, der …«
Im Türrahmen erschien ein schmales Teenagermädchen mit hüftlangen hellblonden Haaren und bestechend blauen Augen. Sie starrte ihn an, als sei er eine Erscheinung.
»Wenn man vom Teufel spricht«, bemerkte Pamela. »Das ist Leia. Wie Prinzessin Leia aus Star Wars, kennen Sie sicher? Leia, das hier ist Hauptkommissar Vogt.«
Starren. Schweigen.
Etwas strenger: »Leia?«
»Hallo«, grüßte das Mädchen dann gehorsam und zog die Sweatshirtjacke enger um sich. »Und ich voll in den Schlabberklamotten, mal wieder typisch.«
Die Kleine, Lennard schätzte sie auf dreizehn oder vierzehn, hatte dieselbe unverstellte Art wie ihre Mutter.
Ehe er genau nachgedacht hatte, hörte er sich bereits antworten: »Kein Problem. Zu Hause trage ich auch nichts anderes.«
Leia grinste. »Weiß ich schon.«
»Leia!« Ihre Mutter sah sie drohend an.
»Is doch wahr. Du hast doch erzählt …«
»Am besten, du gehst wieder in dein Zimmer. Bestimmt gibt es hundert neue Posts auf Instagram«, unterbrach Pamela ihre Tochter.
Das schien ein verlockendes Stichwort zu sein. Leia winkte ihm noch einmal zu. »Tschö.« Weg war sie.
Einen Moment lang saßen sie beide einfach da und sahen auf den Fußboden, Laminat in Lärchenholzoptik mit ein paar bunten Flickenteppichen darauf.
»Haben Sie Kinder?«, wollte Pamela Schlonski dann unerwartet wissen.
»Wie? Nein. Ich … wir … haben uns erst spät kennengelernt. Fernbeziehung. Und als ich vor drei Jahren aus Bremerhaven herkam, musste ich mich erst mal eingewöhnen und … na ja, irgendwann ist es dann auch zu spät.«
Was tat er hier? Erzählte persönliche Dinge, obwohl er doch hergekommen war, um eine Art Verwarnung auszusprechen. Sein Gegenüber schien von seiner maßlosen Verwirrung nichts zu bemerken.
»Ja, Gott sei Dank ist es das!«, stöhnte Pamela. »Ich sach immer, das hat schon seinen Grund, warum wir Frauen irgendwann keine Kinder mehr kriegen können. Ab einem gewissen Alter sind die Nerven dafür einfach zu dünn. Als Leia geboren wurde, da war ich siebenundzwanzig, hab ich das alles flotti rabotti hingekriegt. War ’ne schöne Zeit, wenn man mal von den anderen Frauen absieht. Der Mike konnte echt die Finger nicht bei sich behalten. Und dann hab ich irgendwann gesagt, ich bin besser dran ohne ihn. So was von goldrichtig! Hab ich nie bereut.«
Ihr durchdringender Blick aus den leuchtend blauen Augen, ihre Tochter hatte sie also von ihr geerbt, war ihm unangenehm. Fast war es so, als wolle sie ihn ermuntern, ihr zuzustimmen, zu sagen, dass auch für ihn die Trennung der beste Weg gewesen sei. Dieser Gedanke war Lennard allerdings noch nie gekommen. Und außerdem war er ja nicht hergekommen, um über auseinanderbrechende Beziehungen zu sprechen. Nicht gerade geschickt wechselte er das Thema: »Frau Schlonski, was haben Sie heute bei Gero Winter gemacht?«
Sie verzog das Gesicht zu einer schmerzhaften Miene.
»Dachte mir schon, dass Sie das wissen wollen. Was für ein Megazufall, dass wir uns da begegnet sind. Und ein Heidenglück! Winter ist uns kurz vorher irgendwie auf die Schliche gekommen, und das Ganze drohte, ziemlich unangenehm zu werden. Also, er drohte, unangenehm zu werden. Aber dann haben ja Sie geschellt.«
Lennard versuchte vergeblich, ihr zu folgen, und sah sie einfach nur an.
»Ich fang wohl besser mal von vorne an?«, entschied Pamela.
Er nickte. »Das wäre bestimmt das Beste.«
»Also, ich war doch heute Morgen im Klub. Um nachzuholen, was ich gestern nicht geschafft habe, beziehungsweise das meiste musste ich sowieso noch mal machen wegen diesem ganzen Pulver, das Ihre Leute da rumgepinselt haben.« Sie klang beinahe ein bisschen vorwurfsvoll. »Klappert, der zweite, beziehungsweise jetzt erste Vorsitzende, war auch da und hat im Büro aufgeräumt. Jedenfalls, als ich mal grad an einem stillen Örtchen war, hab ich mitbekommen, dass eine Frau in den Klub kam. Sie ist geradewegs zu Klappert gegangen und …«
Pamela zögerte kurz. Dann fuhr sie fort: »Rein zufällig hab ich ihr Gespräch mitbekommen.«
»Rein zufällig?«, wiederholte Lennard. »Was haben Sie gehört?«
»Das hab ich Ihnen schon am Telefon erzählt.« Er irrte sich nicht, jetzt klang ihre Stimme ganz eindeutig vorwurfsvoll. »Aber Sie haben mir gesagt, dass ich keine Ahnung habe und mich nicht einmischen soll. Dabei hat die Frau, Gundula Schneid war das übrigens, ich hab sie später noch vorbeigehen sehen und auf dem Mitgliederplakat nachgeguckt, also Gundula Schneid hat erst davon gesprochen, dass der Neumann den Klappert nicht gerade nett behandelt hat und er doch jetzt froh sein kann, dass der Kerl aus dem Weg ist. Von wegen Mobbing und so. Das hat Klappert sogar selbst so bezeichnet. Hat sich nämlich ziemlich aufgeregt, als ihm klar wurde, dass die Schneid ihm da ein Mordmotiv unterstellte. ›Du denkst doch nicht, dass ich Peter wegen Mobbing …‹, oder so ähnlich hat er es ausgedrückt. Und die Schneid dann so: ›Neeeein! Nicht dooooch! Ganz sicher hab ich das nicht gedacht!‹ Und er so: ›Wollt ich aber auch gemeint haben! Weil … der Gero hätte doch viel mehr Grund dazu gehabt!‹«
»Gero? Gero Winter?«, hakte Lennard rasch nach.
»Genau der. Es gibt nämlich im Klub nur einen Gero.«
»Und warum sollte Herr Winter ein Interesse daran gehabt haben, Herrn Neumann aus dem Weg zu räumen?«
Pamela beugte sich vor. »Genau das hat die Schneid auch gefragt. Aber da ist Klappert ausgewichen und wollte nichts mehr sagen. Hat sie abgewimmelt. Aber als ich dann draußen war aus dem Klub, dachte ich, das muss ich Ihnen doch unbedingt mitteilen. Ist doch bestimmt wichtig, von wegen Motiv und so.«
Sie sah ihn erwartungsvoll an.
Lennard atmete tief ein. »Ja, Sie haben recht. Das war genau richtig so.«
»Sag ich doch. War ja goldrichtig, dass Sie grad bei Winter aufgetaucht sind, um ihn zu befragen. Nachdem Sie Klappert schon nicht erreichen konnten.«
Verblüfft öffnete er den Mund.
Doch ihre Antwort kam bereits, ehe er die Frage formulieren konnte: »Klappert hat nach dem Aufräumen im Klub doch Neumanns Gewinner-Bild von einer Ausstellung in Keine-Ahnung-wo-Pusemuckel abgeholt. Muss jedenfalls weit weg gewesen sein. Sodass er den ganzen Tag unterwegs war.«
Frau Klappert hatte bei Lennards Anruf genau dasselbe gesagt. Mit dem Unterschied, dass sie Keine-Ahnung-wo-Pusemuckel durch Würzburg ersetzt hatte. Pamela Schlonski war tatsächlich über alles bestens informiert.
Er versuchte, die Gesprächsführung wieder an sich zu ziehen, unsicher, ob er sie bisher überhaupt in der Hand gehabt hatte. »Wieso sind Sie dann zu Herrn Winter gefahren? Haben Sie dort einen Reinigungsjob?«, erkundigte er sich.
Pamela schüttelte den Kopf.
»Nein, das nicht. Aber wir mussten uns ja irgendwas einfallen lassen, um ins Haus zu kommen. Als ich nämlich mittags …«, sie stockte kurz, » … einen meiner üblichen Besuche bei meiner lieben Tante Christa in Niederwenigern gemacht habe, kamen wir rein zufällig auf ihren Nachbarn zu sprechen, der zwar nur kleiner Finanzbeamter ist, aber einen fetten Wagen fährt, in einem teuren Architektenhaus in dieser feinen Gegend wohnt und auch sonst keinen ärmlichen Eindruck macht. Winter. Tante Christa meint ja, er hat vielleicht im Lotto gewonnen. Aber ich dachte: ›Nee, da ist irgendwas faul. Irgendwas, wovon Neumann vielleicht wusste.‹ Die Schneid aus’m Fotoklub hat nämlich noch erwähnt, dass Neumann und Winter früher oft zusammengehangen haben, aber in der letzten Zeit nicht mehr. Und eins kann ich Ihnen aus Erfahrung sagen: Wenn Männerfreundschaften auseinanderbrechen, dann ist entweder ’ne Frau im Spiel oder Geld. Tja, und welcher Gedanke kommt Ihnen als erster, wenn ein kleiner Finanzbeamter überraschend viel Geld zur Verfügung hat?«
Sie sah ihn herausfordernd an.
»Sagen Sie es mir.«
»Na, dass er irgendwelchen reichen Eumeln dabei hilft, Moneten am Finanzamt vorbeizuschmuggeln, und dafür ein gutes Taschengeld einsteckt. Deswegen wollt ich in seinem Haus nach einem Notizbuch oder so was suchen, wo er diese Sachen aufschreibt. Auch Verbrecher müssen Ordnung halten, oder?«
»Sie sind in Herrn Winters Haus eingedrungen, um dort nach Beweismaterial für ein Mordmotiv zu suchen?«, fasste Lennard erschüttert zusammen. Das toppte den alten Mann aus Bremerhaven mit seinen selbst gemalten Einbrecher-Phantomfotos um Längen.
»Wenn Sie das so sagen, klingt es ziemlich schräg«, musste Pamela widerwillig zugeben. »Eindringen würde ich das nicht nennen. Er hat uns freiwillig reingelassen. Und wir haben seine Bude geputzt – für umsonst. Da kann er sich eigentlich nicht beschweren. Abgesehen von der Vase vielleicht …«, setzte sie murmelnd hinzu.
»Welche Vase?«
»Ach nichts.«
Er musste sie belehren. Er musste ihr sagen, dass sie dabei war … ach was, dass sie sich bereits strafbar gemacht hatte. Und dass sie der Kripo ins Handwerk pfuschte mit ihren stümperhaften Versuchen, einem Mörder auf die Schliche zu kommen.
»In Ordnung, Frau Schlonski«, setzte er stattdessen an. »Bitte sagen Sie mir jetzt, dass Sie nicht das gesamte Haus durchsucht und dann auch noch solch ein belastendes Material in Form von so einem Notizbuch gefunden haben!«
Sie legte den Kopf schief und sah ihn an. »Nein, so ein Notizbuch haben wir nicht gefunden«, antwortete sie. Trotzdem empfand Lennard keine Erleichterung. Eher im Gegenteil: Diese Worte klangen nach sehr viel Auslassung. Eine unangenehme Vorahnung beschlich ihn. Und da kam es schon: »Ein bisschen gesucht haben wir natürlich schon. Bleibt ja fast nicht aus, wenn man gründlich putzt.«
Lennard konnte es nicht fassen, aber sie schaffte es tatsächlich, ihn neugierig zu machen. »Was haben Sie entdeckt?«
»Etwas, das den dicken Wagen und das Haus und so erklärt: Winter macht professionelle Fotos von Professionellen«, erklärte Pamela und lupfte eine ihrer Brauen.
»Von … wem?«
»Professionellen«, wiederholte sie, diesmal mit zwei wippenden Augenbrauen. »Dominas. Alle in Lack und Leder, mit Peitschen und Streckbänken, Masken und diesem Bondage-Gedöns. Ach ja, und eine in Reitklamotten war auch dabei. Zuerst hab ich nur auf die Aufmachung geachtet. Ich meine, das hätten Sie bestimmt auch, oder? Aber dann fiel mir auf, dass die Fotohintergründe die aus dem Studio im Fotoklub sind. Die Hintergründe und das eine oder andere Dekoteil. Die kenn ich alle genau vom Saubermachen. Bin mir ganz sicher, dass die Bilder in dem Studio aufgenommen worden sind, wo der Neumann … na ja. Zuerst dachte ich: ›Was ist, wenn Winter diese Fotos hinter dem Rücken der anderen Klubmitglieder macht? Könnte Neumann ihn damit vielleicht erpresst haben?‹ Hätte doch sein können. Also, wenn ich in so einem Klub jede Menge Kröten latzen würde für die Technik und Studio und so, dann hätte ich aber was dagegen, wenn ein Mitglied so viel Kohle mit den Sachen einstreicht, die doch irgendwie auch mir gehören. Aber …« Sie hob die Hand, obwohl er gar nicht vorgehabt hatte, sie zu unterbrechen. »Aber als ich Ahsen, das ist meine Freundin und Geschäftspartnerin, die haben Sie vorhin ja auch gesehen, also als ich ihr von meinem Verdacht erzählt hab, meinte sie: ›So Fotos hinter dem Rücken der anderen Klubleute sind vielleicht ’ne Sauerei, aber umbringen würd ich deswegen doch niemanden. Nee, es muss um was anderes gehen. Vielleicht um viel Geld.‹ Ahsen guckt ständig Krimis, wissen Sie. Jedenfalls haben wir uns dann überlegt: Was ist, wenn Winter seinem Arbeitgeber nicht die Einnahmen von anderen verschweigt, sondern seine eigenen? Ich meine, dreitausend Euro hier, zweitausend dort, immer für so ein paar Fotos, da läppert sich ganz schön was zusammen. Und wenn Neumann davon wusste, stand für Winter mehr auf dem Spiel als nur die blöden Sprüche von ein paar stinkigen Klubkollegen: Job weg. Steuerfahndung. ’ne Erpressung auf dieser Basis wäre schon ein anderes Kaliber, ne? Echt ein Grund, um den Erpresser um die Ecke zu bringen«, schloss sie mit einem überzeugten Nicken.
Lennard verschränkte die Finger ineinander und ließ seinen Blick aus dem Fenster schweifen. Er sah ein Stück des benachbarten Hauses und eine Ecke vom Friedhof. Dahinter den Sportplatz und dahinter … Wiesen und Wald.
Konnte es tatsächlich sein, dass diese Frau nicht nur schneller, sondern auch effektiver Hinweise in einem Mordfall zu sammeln verstand als sein Team?
»Was meinen Sie?«, wollte Pamela wissen.
Er räusperte sich und entschied sich für seinen offiziellen Tonfall: »Frau Schlonski«, begann er. »Was Sie entdeckt haben, könnte tatsächlich ein Tatmotiv sein. Vielleicht hat Herr Winter seine Einnahmen jedoch auch ganz offiziell gemeldet und betreibt neben seiner Arbeit beim Amt noch ein Nebengewerbe.« Sie gab ein leises Schnauben von sich, das er ignorierte. »Das ist nicht verboten und lässt sich von uns leicht nachprüfen. Was es ganz sicher nicht ist: ein Grund für unbeteiligte Bürgerinnen, sich unter Vortäuschung falscher Tatsachen auf den Grund und Boden eines Dritten einzuschleichen und dort eine strafbare Handlung in Form von einer Art Durchsuchung durchzuführen. Was Sie getan haben, war Hausfriedensbruch. Herr Winter könnte Sie dafür anzeigen.«
»Nur wenn er weiß, wer wir wirklich sind«, warf Pamela ein.
Er sah sie eindringlich an.
»Frau Schlonski, noch einmal: Sie mischen sich hier verbotenerweise in Polizeiarbeit ein.« Er vermied es, noch einmal zu erwähnen, dass sie davon gar keine Ahnung hatte. Denn zum einen hatte er wirklich keine Lust auf weitere dieser vorwurfsvollen Blicke. Und zum anderen war er sich verwirrenderweise der Richtigkeit dieser Aussage gerade nicht mehr so sicher. »Mit Ihrem Handeln haben Sie sich bereits strafbar gemacht. Ich spreche hiermit eine Verwarnung aus und kann Ihnen nur dringend raten, das ernst zu nehmen, hören Sie? Lassen Sie die Finger von der Sache. Denken Sie einfach nicht mehr daran! Wir kümmern uns darum. Haben wir uns verstanden?«
Sein Tonfall gegen Ende wurde ziemlich scharf.
Tina Bruns hatte ihm einmal beinahe bewundernd gesagt, dass er Verdächtige allein mit seiner strengen Stimme und dem dazugehörigen Kommissarblick einschüchtern könne.
Bei Pamela Schlonski schien es nicht zu wirken. Sie erwiderte seinen Blick beinahe trotzig.
Er wartete.
Sie sahen einander an.
Schließlich verzog sie den Mund, wandte den Blick aber nicht ab.
»In Ordnung«, sagte sie. »Aber Danke hätten Sie schon mal sagen können.«
»Danke für Ihre unerwünschte Hilfe«, sagte Lennard.
»Bitte«, erwiderte sie mit spitzem Mund.
Dann erhoben sie sich beinahe gleichzeitig.
»Ich bringe Sie noch …«
»Ich finde den Weg schon allein«, kam er ihr zuvor.
Er nickte ihr noch zu, dann wandte er sich um und verließ auf direktem Wege die Wohnung.
Erst als die Tür hinter ihm zufiel, atmete er auf.
So was aber auch.
War ihm noch nie passiert.
Mit raschem Schritt eilte er die Stufen hinab und prallte zurück, als im Hochparterre eine ältere Frau mit Wischeimer und Schrubber die Treppe blockierte. Sie trug eine enge Leggins mit Leopardenmuster und darüber ein schwarzes T-Shirt, das ihr bis auf die Oberschenkel reichte, mit der Aufschrift »ROAR!«. Der Look ließ die Dame nicht gerade elegant, aber auf überraschende Weise jugendlich erscheinen.
»Ach, guten Tag!«, grüßte sie ihn herzlich.
»Guten Tag«, erwiderte er und wollte sich an ihr vorbeischieben. Kam es ihm nur so vor, oder lehnte sie den Besenstiel in genau dem Moment an die gegenüberliegende Wand und damit mitten in seinen Weg?
»Marlies Ewing«, stellte sie sich mit einem einnehmenden Lächeln vor. »Sie sind bestimmt der Hauptkommissar Vogt?«
»Ähm …?«
Sie winkte ab. »Ach, halb Hattingen spricht doch von dem Mordfall im Fotoklub. Pamela hatte Sie ja gerufen, ne? Ich hoffe, Sie kommen vorwärts? Man hört ja nur Gutes von der Kripo hier vor Ort. Flott, gründlich, da kommt keiner davon!«
Er nickte ihr zu. »Danke.«
»Ach, nun mal nicht so bescheiden. Sie tun ja Ihr Bestes!«
»Werden wir.«
Er nahm den Besenstiel von der Wand, drückte sich an Frau und Eimer vorbei und war bereits an der Haustür.
»Schönen Abend noch!«, rief Marlies Ewing ihm nach.
Während Lennard den Fußweg Richtung Stadt einschlug, versuchte er, seine Gedanken zu ordnen.
Was als eine Verwarnung gedacht gewesen war, hatte sich zu irgendetwas anderem entwickelt. Und das gefiel ihm ganz und gar nicht. In der letzten Zeit lief zu viel in Richtungen, die er nicht geplant hatte, und, noch schlimmer, entzog sich seiner Kontrolle. Wildfremde Bürgerinnen sprachen ihn auf den laufenden Fall an, während eine Reinigungskraft seinen eigenen Ermittlungen immer eine Nase voraus war.
Das durfte nicht sein. Egal, was in seinem Privatleben gerade vorging, ihm durfte beruflich nicht die Ruderpinne aus der Hand rutschen.
Nun, wenigstens lag ein freier Abend vor ihm, an dem er die losen Fäden des aktuellen Falls betrachten und vielleicht ein oder zwei verknüpfen konnte. Er würde in aller Ruhe ausklamüsern können, wie die neuen Informationen ins Gesamtbild passen könnten. Diese Gedanken nahmen ihn bereits jetzt sehr gefangen.
Erst als er eine ganze Weile später von der Nordstraße in Richtung Altstadt abbog, kam ihm die Frau mit Eimer und Besen im Hausflur wieder in den Sinn. Was hatte sie gesagt, wie sie hieß? Marlies Ewing?
Ewing. Moment mal.
Ihm ging auf, dass er heute nicht nur Pamela Schlonskis Ex-Ehemann und ihrer Tochter begegnet war, sondern auch ihre Mutter kennengelernt hatte. Mittlerweile wusste er ziemlich viel von dieser Zeugin. Irgendwie, so schwante ihm, wurde er diese Frau nicht mehr los.