Am nächsten Morgen hätte Pamela einiges dafür gegeben, nicht zu denen zu gehören, die ihr Wort hielten. Sie hatte schlecht geschlafen und lange wach gelegen. Immer wieder waren blitzartig Bilder des Tages vor ihren Augen aufgepoppt: Mal war es Jessi gewesen, dann wieder Ahsen und Totti, aber auch ihre neue Bekanntschaft schlich sich immer wieder in ihr Bewusstsein: der Bayer Bernd mit seinem Hund Xaverl. Als der Wecker sie dann um sieben an die Arbeit im Büro des Fotoklubs erinnerte, hatte sie leise geflucht. Aber sie hatte Markus Klappert versprochen, den Raum heute Morgen fertig zu machen, und so quälte sie sich aus dem Bett.
Durchs Bad huschen, in Arbeitskleidung schlüpfen, eine Banane aus der Obstschale klauben, und schon war sie auf dem Weg in die Südstadt.
Nachdem sie den Wagen abgestellt hatte, blickte sie an dem schmucken Altbaugebäude hinauf. Sie winkte der Sekretärin des Immobilienmaklers, die im Untergeschoss durch die Lamellenjalousien spähte, und betrat das Haus.
Wieder beschlich sie ein beklemmendes Gefühl, während sie die Stufen hinaufging und die schwere Eichenholztür aufschloss.
Wie immer stellte sie die Putzbox unter der Garderobe ab und streifte die Jeansjacke ab, die sie so früh am Tag noch gebraucht hatte.
Sie nahm alles, was sie zur Reinigung des Büros brauchen würde, füllte im Waschraum den Eimer, gab Putzmittel dazu und marschierte festen Schrittes am Polizeiflatterband vor der Studiotür vorbei durch die Eingangshalle, um die Schiebetür in den Besprechungssaal zu öffnen.
»Nicht erschrecken!«, rief eine Stimme. Und sie ließ beinahe den Eimer fallen.
»Schon passiert«, keuchte sie, als sie Thomas Ruh erkannte. Der Frührentner stand über einen der Tische gebeugt und war gerade dabei, einen großformatigen Fotoabzug in einem Rahmen zu platzieren.
»Guten Morgen, Frau Schlonski«, sagte er. »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich hab Sie nicht gehört. Wusste nicht, dass Sie heute Morgen hier sind.«
»Ich hab auch langsam das Gefühl, ich könnte eigentlich gleich hier bleiben, so oft, wie ich diese Woche hier war«, erwiderte Pamela. »Aber macht ja nix. Ist schließlich nichts passiert. Ich will nur fix das Büro machen. Am Donnerstag war da quasi Arbeitsstau.«
Sie lachten beide.
»Wow! Haben Sie das gemacht?« Pamela trat näher und begutachtete das Bild, das Thomas Ruh gerade mit einem Fusselfreituch sorgfältig abwischte. Es zeigte eine der Hauptkreuzungen im Zentrum bei Nacht. Die lange Belichtungszeit hatte die Autoscheinwerfer zu einem faszinierenden Muster aus Gelb und Rot verschlungen. »Sieht ja aus wie ’ne Weltstadt!«
Ruh nickte begeistert. »Toll, oder? Ist aber leider nicht von mir, sondern von einem unserer Nachwuchskünstler. Es soll noch in die aktuelle Lokalkolorit-Ausstellung, genau wie die anderen hier. Ich hab mich nur angeboten, sie zu rahmen. Hab ja Zeit.«
Pamela warf einen Blick auf die anderen Bilder. Die Ruhr im Morgennebel. Ein paar berührende und witzige Szenen aus der Fußgängerzone. Details aus dem Hüttengelände. Ein Windrad in Elfringhausen. Der Blick über einen düsteren, uralt wirkenden Dachboden aus dem Fenster hinaus, wo man den schiefen Turm der Kirche sah.
Sie deutete auf das letzte.
»Das find ich auch super.«
Thomas Ruh errötete.
»Das ist tatsächlich von mir.«
»Echt klasse!«, bestätigte Pamela noch einmal. »Irgendwie anders als die anderen. Dieser Dachboden sieht aus, als hätten da schon vor Generationen Leute die Wäsche aufgehängt. Dieser alte Schornstein da, von dem der Putz abblättert, und die Schnüre, die da noch gespannt sind. Ist irgendwie, als würd man aus der Vergangenheit in die Gegenwart gucken.«
Der Hobbyfotograf sah sie überrascht an. »Frau Schlonski, Sie sollten mal zu unseren Bildbesprechungsabenden kommen. Sie haben einen Blick für Details.«
»Kommt durch die Arbeit«, erklärte sie ihm. »Alle Sachen müssen ja wieder so stehen wie vorher, wenn ich durch die Wohnungen durch bin.«
»Toll. Das müssen sich manche Fotografen erst mühsam erarbeiten. Fotografieren Sie denn auch selbst?«
»Ich? Ach nee, das ist nix für mich, glaub ich. Dieses Gefriemel mit der Blende und dem Objektiv und so. Ich guck lieber ohne so ’ne Linse in die Gegend. Aber ich find’s toll, wenn andere das können. Sie machen das bestimmt schon lange, ne?«
»Ein paar Jahre«, erwiderte er. Der war ein bescheidener Mann. Wahrscheinlich meinte er damit: sein halbes Leben.
»Man kann schon einiges erreichen, wenn man sich in eine Sache so richtig reinwirft, hm?«, meinte Pamela. »Ist ja auch ein tolles Hobby. Machen Sie oft so Bilder? Von Hattingen, mein ich.«
»Hin und wieder. Ich bin keinem Thema ganz abgeneigt. Es hat alles seinen Reiz.«
»Und am liebsten?«
Er zögerte nicht. »Stillleben.«
»Oha, das ist schwer, oder? Ich meine, wenn da so nichts Lebendiges ist und man alles selbst arrangieren muss? Die Klamotten, die man fotografiert, die Lichtstimmung und so.«
»Ich muss sagen, Sie imponieren mir. Sie haben wirklich Verständnis für die Kunst«, sagte Thomas Ruh beeindruckt.
»Ach, na ja, ich glaub, nicht mehr als andere«, wehrte Pamela bescheiden ab.
»Nein, nein, ich meine das ganz ernst. Es gibt so viele Menschen, die gar nicht zu schätzen wissen, welche Mühe und Arbeit hinter einem wirklich guten Foto stecken. Es beginnt ja schon bei der Idee.«
»Da würde es bei mir schon hapern«, meinte Pamela skeptisch. »Kreativ bin ich echt nicht. Ich mein, ich kann Ordnung in Dinge bringen, das kann ich wirklich. Aber so selbst Ideen haben für was Neues? Nee. Sie sprudeln da bestimmt über, oder? Ihre beste Idee, was war das?«
Er musste nicht überlegen.
»Natürlich ein Stillleben. Aber kein Obst oder Blumen oder so was. Aus viel Pomp kann nämlich jeder etwas machen. Nein, nur ein einziger Gegenstand. Das Schlichte als das Außergewöhnliche, Wunderbare.«
Er hielt inne und schien plötzlich so in Gedanken versunken, dass Pamela schon der Verdacht kam, er habe sie vergessen. Doch dann schüttelte er den Kopf, lächelte sie an.
»Ich bin von der alten Schule, wissen Sie? Bildbearbeitung? Ja, kann ich. Aber will ich eigentlich nicht. Ich möchte, dass mein Bild perfekt ist, wenn ich auf den Auslöser drücke. Das Licht, von dem Sie gerade gesprochen haben, das ist in der Tat das Schwierigste daran. Licht und Schatten. Die Gefühle, die diese beiden Dinge auslösen. Ich liebe Kerzenlicht auf Fotos. Kein Aufheller. Keine Tricks. Ein Bild mit einem ganz und gar ehrlichen Charakter. Manchmal schafft man so was und denkt: ›Jetzt kannst du eigentlich auch aufhören mit dem Fotografieren. Das Bild ist so perfekt, danach kann nichts mehr kommen.‹«
Mit einem verlegenen Lächeln brach er ab.
Männer. Wenn sie mal über etwas sprachen, was sie wirklich umhaute, sie tief drinnen berührte, war es ihnen meist gleich darauf peinlich.
»Also, dabei ist Ihnen das auf jeden Fall gelungen«, sagte sie und deutete noch einmal auf das Dachbodenbild.
»Danke. Ach, was Fotografieren angeht, neige ich wohl zum Schwadronieren. Aber wahrscheinlich geht das allen Menschen so, wenn sie ein Hobby haben, für das sie so richtig brennen.«
Pamela nickte zustimmend. Auch wenn sie ein wenig bestürzt feststellen musste, dass sie selbst offenbar so ein brennendes Hobby gar nicht hatte. Hm.
»Tja, dann werd ich mal. Muss fertig werden, solange meine Tochter noch in den Federn liegt. So sind Teenager: Sobald sie aufwachen, schreien sie nach frischen Brötchen.«
»Na, dann mal los!«
Sie winkten sich lächelnd zu, und Pamela ging hinüber ins angrenzende Büro. Hier sah es schon bedeutend besser aus, als sie es gewohnt war: Der Schreibtisch war freigeräumt. Die Ordner standen in den Regalen und lagen nicht wild durcheinander auf allen Ablageflächen. Die Blumen auf der Fensterbank waren gegossen.
Sie wischte alle Oberflächen, inklusive der Schranktüren, fegte den Boden und ging dann zweimal mit dem Wischmopp drüber.
Als sie fertig war, arbeitete Thomas Ruh nebenan immer noch an den Rahmungen für die Klubmitglieder.
Sie wünschten sich ein schönes Wochenende, und Pamela verließ den Fotoklub.
Kurzer Stopp beim Bäcker und dann nix wie nach Hause.
Als sie die Wohnungstür aufschloss, wehte ihr verlockender Kaffeeduft entgegen.
»Mmmh! Dat riecht ja guuut!«, rief sie.
Leia streckte den Kopf aus der Küchentür. Sie trug noch das übergroße T-Shirt, das ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, ihr Schlafdress.
»Brötchen?«, nuschelte sie.
»Sind dabei!«
»Goldstückmama!« Leia grinste.
Pamela musste einen Liebhabanfall unterdrücken. Ihre halbwüchsige Tochter hasste es, wenn sie sie direkt nach dem Aufstehen mit Knuddelattacken überfiel. Dabei sah sie so zerknautscht einfach so unglaublich niedlich aus, noch ein bisschen wie früher als Grundschulkind. Mann, das waren auch schöne Zeiten gewesen. Gut, dass sie sich die gemeinsamen Samstage in Leias Teenagerzeit hinübergerettet hatten.
Als sie wenig später beim Frühstück saßen, war Leia nach dem ersten halben Brötchen und ein paar Schluck aufgeschäumtem Hafermilchkaffee endlich intellektuell ansprechbar.
»Was möchtest du heute machen? Ist so schönes Wetter«, erkundigte Pamela sich bei ihrer Tochter.
»Shoppen!«, erklärte die sofort. »Ich brauch ein neues T-Shirt für den Post mit dem Buch über die Waldvölker. Muss was Grünes sein.«
Gewohnheitsmäßig wollte Pamela schon widersprechen oder zumindest einen Kommentar dazu ablassen, dass ein Instagram-Post zu irgendeinem Buch bestimmt kein Grund für ein neues T-Shirt war. Aber da fiel ihr das Gespräch mit Thomas Ruh wieder ein und seine Worte zu den Hobbys, für die manche Menschen brannten.
Leia brannte ganz eindeutig für Bücher. Schon bevor sie selbst lesen konnte, war sie regelrecht süchtig nach Bilderbüchern gewesen. Als sie dann in die Schule kam, hatte sie allen Eifer ins Lesen gesteckt, war meistgesehene Ausleiherin in der Kinderabteilung der städtischen Bibliothek geworden und hatte zu Pamelas Entzücken ihre süße Stupsnase lieber zwischen Buchseiten gesteckt, als vor dem Fernseher zu hängen.
Diese Leidenschaft hatte bisher keinen Einbruch erfahren. Leias Entdeckung, dass es Instagram gab, wo sie sich mit anderen Buchfreaks austauschen konnte, hatte ihre Begeisterung für geschriebene Geschichten nur noch angeheizt.
»Wie soll der Post denn aussehen?«, fragte Pamela also statt der üblichen Nörgelei. »Ich mein, wenn es um Wald geht, solltest du dein Bild doch am besten im Wald machen, oder?«
Leia sah sie mit offenem Mund an. Weil sie gerade von ihrem Brötchen mit Tomatenaufstrich abgebissen hatte, war dieser Anblick allerdings nicht so niedlich.
»Mach den Mund zu«, setzte Pamela hinzu.
Das tat Leia, kaute schnell und schluckte dann eilig runter.
»Genau! Hab ich auch gedacht. Auf jeden Fall Wald. Am besten ein echt dicker, richtig schöner Baum! Und ausnahmsweise mal so von unten fotografiert, damit man über mir auch die ganzen Blätter und so sieht. Ich hab mir schon überlegt, wie ich das am liebsten hätte – aber dazu bräuchte ich jemand, der die Aufnahme macht …«
»Mach ich.« Pamela nickte. »Also, erst Shoppen, dann Eisdiele und dann Wald für deinen Post?«
Ein paar Sekunden lang war ihre Tochter sprachlos, was bei Leia einer kleinen Sensation gleichkam. Dann legte sie ihr Brötchen, das sie zum nächsten Bissen erhoben hatte, wieder auf den Teller.
»Soll ich irgendwas machen oder so?«, fragte sie misstrauisch.
»Was denn machen?«
»Weiß nicht. Mein Zimmer putzen. Tante Christa besuchen. Irgendwas halt.«
Pamela hob die Brauen. »Nein, stell dir vor, ich würd wirklich einfach gern ein grünes T-Shirt für dich aussuchen und dir später bei dem Bild für den Post helfen. Die Eisdiele hab ich mir ausgesucht! Du darfst aber auch einen Amarenabecher essen.«
»Danke.«
»Bitte.«
Sie grinsten sich an.
Dann sagte Leia mit seligem Gesichtsausdruck: »Mega.«
Irgendwie fühlte es sich toll an, der eigenen Tochter das Wochenende derart zu versüßen.
»Worum geht’s in dem Buch?«, setzte Pamela deswegen noch eins drauf. Und bereute es fünfzehn Minuten später, als Leia in Inhaltsbeschreibung und ausführlicher Besprechung immer noch kein Ende gefunden hatte.
»Jetzt aber anziehen und los!«, unterbrach sie den Teenagermonolog und klatschte in die Hände.
»Yeah!« Leia sprang auf, trug ihr Geschirr brav zur Spüle und drückte Pamela im Hinausgehen einen feuchten Kuss auf die Wange.
Als die Badtür klappte und von drinnen die hohe Stimme einen aktuellen Popsong trällerte, hob Pamela die Hand zur Wange und lächelte. Von diesem durchschlagenden Erfolg in Sachen Unterstützung brennender Hobbys würde sie Thomas Ruh erzählen, wenn sie ihn mal wieder morgens im Klub traf.
Und jetzt hieß es: Sich selbst in Schale schmeißen! Kurz dachte sie dabei an Bernd Stangl und ob er wohl auch am Samstag durch die Stadt streifen würde. Doch dann verwarf sie den Gedanken. Bestimmt war er mit Xaverl irgendwo auf verschlungenen Wanderwegen unterwegs.
Morgen würde sie ihn anrufen. Und heute Abend würde sie mit ihrer Mission Wir-informieren-unauffällig-die-Polizei-über-unsere-Ermittlungsfortschritte einen weiteren Versuch in der Eckigen Kneipe starten.
Schließlich hatte Fritz behauptet, der Kriminalhauptkommissar tauche auch hin und wieder am Wochenende dort auf.
Neuer Abend, neues Glück. Oder wie hieß das noch? Ach, egal!