17. Kapitel

8. Mai, Samstag, vormittags

Er sollte dringend ein paar Gewohnheiten ändern.

Nachdem Lennards Versetzung aus Bremerhaven beschlossen gewesen war, Sandra und er so schnell das Haus an der Stadtmauer gefunden hatten, war er stets samstags in aller Frühe losgesaust, um den großen Wocheneinkauf zu erledigen. Sandra hatte sich noch mal ins Bett gekuschelt und dann irgendwann das Frühstück vorbereitet, um ihn dann mit Kaffeeduft und einem liebevoll gedeckten Tisch zu empfangen.

Als er jetzt den nur halb gefüllten Einkaufskorb und den Wasserkasten zur Haustür hineinmanövrierte, kam ihm der Gedanke, dass er von dieser Gepflogenheit besser Abstand nehmen sollte.

Solange er nämlich im Supermarkt unterwegs war, Pfandglas zurückgab, die Lebensmittel von seinem Einkaufszettel aus den Regalen suchte, an der Bäckertheke wartete, konnte er sich der Illusion hingeben, es sei alles wie immer, alles wie in den letzten drei Jahren. War es aber nicht. Niemand erwartete ihn zu Hause. Und durch den Flur zog kein Kaffeeduft, sondern der Geruch vom Fast Food des gestrigen Abends.

Trotzig schaltete er das Radio in der Küche an, um die Stille zu vertreiben.

Während er die Einkäufe in den Schränken verstaute, überlegte er, was er heute unternehmen könnte. Er entschied sich für einen langen Spaziergang an der Ruhr entlang dem alten Treidelpfad, auf dem früher die schweren Pferde die Schiffe den Fluss hinuntergezogen hatten. Er mochte den buckeligen Weg aus Kopfsteinpflaster, so nah am Wasser. Und wenn er sich auf die Strudel, die Enten und Gänse, die Lichtreflexe auf der sich stets bewegenden Oberfläche konzentrierte, vergaß er oft minutenlang die anderen Menschen, von denen es in dieser dicht besiedelten Region irgendwie immer zu viele an einem Ort gab. Radfahrer, Spaziergänger, ganze Gruppen samt wild tobender Hunde, vielköpfige Familien auf Picknickdecken. Die Ruhrwiesen waren bei schönem Wetter ein beliebtes Ausflugsziel.

Aber das enorme Aufkommen an Erholungswilligen hatte auch den Vorteil, dass er selbst zwischen ihnen gar nicht auffiel. Niemand beachtete ihn besonders oder wollte ihm ein Gespräch aufzwingen. Alle ließen ihn mit seinen eigenen, ganz privaten Gedanken in Ruhe. Ja, der Treidelpfad war eine gute Idee, sein Entschluss stand fest.

Er füllte den Kaffee in die Maschine, bemerkte, dass es ihm jetzt nach vier Wochen nicht mehr passierte, dass er aus Gewohnheit versehentlich zu viel Pulver nahm, wollte darüber zuerst triumphieren, fand es dann aber eher deprimierend.

Der Trick mit der weit über den Tisch aufgeschlagenen Tageszeitung verhinderte zumindest, dass der leere Platz ihm gegenüber zu sehr gähnte. So konnte er das Frühstück durchaus genießen. Na ja, zumindest halbwegs. Wenn er nicht nachdachte.

Deutlich früher, als sie es sonst gemeinsam getan hatten, beendete Lennard auch dieses Ritual, räumte das Geschirr in die Maschine und die Sachen zurück in Kühl- und Vorratsschrank. Die schmale Holztreppe knarzte, als er hinaufging. Oben tauschte er seine Chinos gegen Jeans und T-Shirt, schnappte sich einen Pullover für den Fall, dass es am Fluss frisch sein würde, und machte sich auf den Weg.

Er verließ die Altstadt strammen Schrittes. Auf dem Weg zum nächsten Zugang zur Ruhr kam er am Kommissariat vorbei. Kurz wollten seine Füße ganz automatisch abbiegen, und der Gedanke, einen hoffentlich inspirierenden Blick aufs Whiteboard zu werfen, ließ ihn ein paar Sekunden zögern, doch dann widerstand er und setzte seinen Weg fort.

Dieser Fall machte ihm zu schaffen.

Nicht eine einzige heiße Spur.

Mit der Befragung der Klubmitglieder waren sie nun durch. Doch außer Winter schien niemand ein überzeugendes Motiv für so eine Tat gehabt zu haben. Täuschte sein Bauchgefühl ihn vielleicht, und er musste sich doch auf einen anderen Lebensbereich des Opfers fokussieren? Die Arbeit? Eine Liebschaft?

Immer noch war nicht geklärt, was es mit den Entwicklerflüssigkeiten in der Dunkelkammer auf sich hatte. Ein gewisser Bela Korwitsch hatte angegeben, Montagabend das Labor für Schwarz-Weiß-Abzüge genutzt, danach aber alles ordnungsgemäß aufgeräumt zu haben. Laut Aussagen der anderen Klubmitglieder hatte niemand von ihnen den Klub am Dienstag betreten. Also musste es Neumann selbst gewesen sein, der in der Dunkelkammer Bilder entwickelt oder das zumindest vorgehabt hatte. Das wurde von der KTU bestätigt, die seine DNS an den Plastikwannen gefunden hatte. Fotos oder nicht entwickelte Filmrollen waren jedoch nirgends aufgetaucht. Was hatte Neumann also mit den Entwicklerflüssigkeiten vorgehabt?

Auch der von Pamela Schlonski gefundene Fotoabschnitt musste vom Opfer stammen. Der Abschnitt mit den zwei Paar Beinen, über den sie gesagt hatte: Sieht nach ’nem Liebespaar aus, wenn Sie mich fragen.

Er hatte sie natürlich nicht gefragt. Aber wenn er ehrlich war, hatte er ihre Einschätzung sofort geteilt.

Das, ihre aufmerksame Einschätzung des Tatorts, die kluge Schlussfolgerung zu Gundula Schneid und deren Verhältnis zu Klappert, all dies hatte dazu geführt, dass er gestern Morgen ihrem Hinweis in Sachen Winter gefolgt war.

Zugegeben, es war blankes Glück gewesen, dass er Winter auf nervösem Fuß erwischt hatte. Es hatte nur eine Andeutung gebraucht und das wie zufällig eingestreute Wort Steuerfahndung, schon hatte der Fotograf die Nerven verloren. Offenbar hatte er geglaubt, sie wüssten bereits Bescheid – über die Summen, die er hinterzogen hatte ebenso wie über die von Neumann versuchte Erpressung. Er war so eifrig damit beschäftigt gewesen, sein Alibi für den Mordabend zu untermauern, dass er zunächst gar nicht registrierte, dass er auf diesem Weg die Steuerhinterziehung großzügig gestand.

Pamela Schlonski hatte also auch in dieser Hinsicht recht gehabt. Sie war irgendwie … außergewöhnlich. Selbstbewusst, nicht auf den Mund gefallen, von der kumpeligen Art der typischen Ruhrpöttler. Ein echtes Grauen also. In ihrer Nähe fühlte er sich immer irgendwie unbehaglich. So als würde sie hinter seiner Rolle als Erstem Kriminalhauptkommissar auch ihn selbst, ihn ganz persönlich erkennen. Und das, obwohl er sie weiß Gott nicht dazu ermuntert hatte. So wie er in der letzten Zeit eigentlich niemanden dazu ermunterte. Kurz kam ihm der heutige Grillabend in den Sinn, für den etliche seiner Kolleginnen und Kollegen sicher jetzt Salate und Dips vorbereiteten.

So in Gedanken versunken, erreichte er die Abzweigung an der Straße, die zur Ruhr hinunterführte. Ein paar Wassersportler luden gerade ihre Kanus von einem Hänger. Zwei Radfahrerinnen in sportlichem Dress zischten an ihm vorbei. Von der anderen Seite des Flusses dröhnte eines der gewaltigen Heckrinder herüber.

Wenn sein Plan gewesen war, durch den Spaziergang seine Gedanken in eine gewisse Ordnung zu bringen, würde er wahrscheinlich noch länger unterwegs sein als geplant.