18. Kapitel

8. Mai, Samstag, vormittags

»Das Shirt ist der absolute Hammer, Mama!« Leia strahlte immer noch und linste immer wieder in ihre Umhängetasche, in der das neue Kleidungsstück verstaut war.

Sie hatten Glück gehabt und eines entdeckt, das geradezu auf eine junge Bloggerin zu warten schien, die ein Fantasy-Buch über ein im Wald lebendes Volk besprechen wollte: In unterschiedlichen Grüntönen gebatikt, prangte auf der Brust der Spruch: Go into the Woods! Perfekt!

Pamela hatte sich eine ärmellose Bluse aus weich fallendem Stoff gegönnt. Das hatte bei Jessi so lässig elegant gewirkt. Sie bezweifelte zwar, dass es an ihr ebenso rüberkommen würde, doch den Versuch war es wert. Die Bluse war tulpenrot und sah zu ihrem blonden Haar wirklich nicht schlecht aus.

Nachdem sie ihre Wunschstücke sichergestellt hatten, hatten sie sich auf die Wanderschaft durch diverse Läden begeben.

Klamotten, Bücher, Deko, Sportschuhe. Im Fahrradladen hatte Pamela für Totti eine Fahrradklingel gekauft, die laute Rülpsgeräusche von sich gab.

»Soll ich noch mal?«, fragte sie Leia, als sie sich ihrer Lieblingseisdiele näherten und ihre Tochter bereits nach einem Tisch Ausschau hielt. Pamela ließ die Hand in die Tasche gleiten, in der Tottis spezielles Geschenk verstaut war.

»Mama! Du bist so peinlich, ich lass dich stehen!«, kreischte Leia und sah sich dann mit geducktem Kopf nach allen Seiten um. Zu ihrer großen Erleichterung fand sie kein bekanntes Gesicht. Pamela kicherte.

»Da, mein Lieblingstisch!« Leia steuerte direkt darauf zu, während sich gerade ein älteres Ehepaar von den Sitzen erhob. Sie grüßten freundlich, und Mutter und Tochter ließen sich nieder.

Die Karte auf dem Tisch blieb unberührt. Sie hatten beide ihre Standardeisbecher, denen sie treu blieben. Pamela winkte durch die große Scheibe zu Angelo und Elisa hinein, die den Laden schon seit vielen Jahren betrieben. Sie deutete auf Leia und sich und formte mit den Lippen ein »wie immer«. Angelo hob den Daumen als Zeichen, dass er verstanden hatte.

»Jetzt sag mir mal, wieso es diesmal nicht so unter den Nägeln brennt mit dem Post auf Instagram«, verlangte sie dann von Leia zu wissen.

Ihre Tochter beugte sich eifrig vor. Das frisch erwachte Interesse ihrer Mutter an ihrem Besten-Hobby-ever, wie sie es nannte, beflügelte sie.

»PrettySandy hat das Buch schon längst besprochen. Also, vor drei Wochen oder so. Lange genug her, damit jetzt keiner mehr denkt, ich häng mich da dran. Aber die Sache ist die«, Leia senkte ihre Stimme geheimnisvoll, als könnten sie via Wanzen von geheimen Instagram-Spionen abgehört werden. »Sandy hat das Buch überhaupt nicht verstanden!«

Pamela hob die Brauen. »Wie geht das denn? Sie bespricht ein Buch, das sie nicht versteht?«

»Merkt man nur, wenn man es selbst gelesen hat. Aber viele holen sich bei ihr erst die Anregung für was Neues. Die wissen das gar nicht, dass Sandy da Schwachsinn geschrieben hat. Das Buch ist nämlich gar keine Dystopie, sondern eine Märchenadaption!« Leia sah sie vielsagend an.

»Aha?«

»Mensch, Mama! Das ist doch voll der Unterschied, ob es in der Geschichte um unsere Welt in dreihundert Jahren nach der Klimakatastrophe geht oder ob es in Wirklichkeit so was sein soll wie Hänsel und Gretel

Pamela wiegte den Kopf. »Ja, du hast recht. Das klingt nach was komplett anderem.«

»Siehste! Der Witz ist, dass sie die Autorin getaggt hat, und die war not amused über den Stuss, den Sandy da geschrieben hat. Ich mein, sie war immer noch nett und so, aber man merkte ihrem Kommentar an, dass sie das nicht gut fand.«

»Tja, das ist ja auch … ähm … ärgerlich.« Pamela hatte keine Ahnung, was es bedeutete, als Schriftstellerin getaggt zu werden.

Leia musterte sie kurz. »Das heißt, dass Sandy sie in ihrer Rezension so markiert hat, dass die Autorin die Besprechung auf jeden Fall sehen wird«, erklärte sie. »Das macht man eigentlich nur, wenn man was besonders Tolles von sich gegeben hat. Weil, das ist doch voll peinlich, wenn eine Buchautorin, eine echte Schriftstellerin, deine Rezi liest und denkt: ›Hä? Die hat ja meine Message gar nicht kapiert!‹ Ich meine, die gibt sich da voll Mühe, recherchiert und schreibt und überarbeitet und legt sich voll krumm für ihr neues Buch – und dann kommt da eine und rotzt so einen Schwachsinn raus.«

Das musste Pamela zugeben, so was war peinlich.

In diesem Moment tauchte Elisa mit ihren Eisbechern vor ihnen auf. Zwei Tische weiter, wo zwei Frauen um die dreißig beieinandersaßen, reckte eine der beiden den Hals.

»Noch zwei Cappuccino, bitte!«

»Sofort, die Damen!«, rief Elisa gut gelaunt zurück. »Soooo, einmal Amarenabecher für die junge Dame und einmal Pizzaeis mit Mokka, Nuss und Vanille für die Mamma!« Sie stellte die verlockenden Kalorienbomben vor ihnen ab. »Lasst es euch schmecken, ne?!« Und weg war sie wieder.

Das ließen sie sich nicht zweimal sagen und machten sich über die süße Sünde her.

»Und deswegen kannst du dir jetzt Zeit lassen, einen richtig guten Post machen, mit einem toll formulierten Text und einem genialen Foto und so, und dann tackst du die Autorin auch?«, fasste sie zusammen.

»Taggen, Mama. Mit so weichem gg. Aber ja, genauso.« Leia sah hochzufrieden aus, was nicht nur an der Sahnespur auf ihrer Oberlippe lag.

»Findest du, dass Bücher Kunst sind?«, erkundigte sich Pamela nicht ohne Stolz bei der gewitzten Vierzehnjährigen, die offenbar so viel schlauer war als PrettySandy mit ihren elftausend Followern.

»Totaaaal! Überleg doch mal, wie schwierig das ist, eins zu schreiben. Was man da über sein Thema alles wissen muss. Und dann ja auch noch die Sprache. Wenn man Fantasy schreibt, kann man sogar eine ganz eigene Welt erfinden – das ist doch mega krass, oder?«

»Mega krass!«, bestätigte Pamela im selben Vokabular, ohne dass Leia merkte, dass sie sie ein klitzekleines bisschen auf den Arm nahm.

»Und genauso ist es mit den Insta-Posts«, fuhr ihre Tochter fort. »Natürlich nicht bei allen. Es gibt ja auch viele, die einfach nur so rumposten, was ihnen gerade einfällt, was sie kochen oder wo sie abhängen oder so. Pff. Aber mein Feed zum Beispiel … also, diese Kacheln, weißt du? Das, was du siehst, wenn du meinen Account aufmachst?«

»Weiß, was ein Feed ist. Ganz dumm bin ich auch nicht, Mäuschen«, brachte Pamela an einem großen Klumpen Mokkaeis vorbei.

Leia sah aus, als sei sie da nicht ganz sicher, verkniff sich aber um des lieben Friedens dieses heiligen Mutter-Tochter-Tags willen einen Kommentar.

»Also, mein Feed ist zwar nicht komplett durchgestylt, aber ich benutze immer nur dieselben zwei Filter und sortiere meine Beiträge nach Themen, sodass die schönen Bilder dann auch den Inhalt wiedergeben. Das ist doch so was wie Kunst, oder? Da bastle ich manchmal stundenlang dran rum.«

»Wem sagst du das?«

»Mama!«

»Schon gut. Ja, stimmt, hast recht. Wahrscheinlich ist auch das eine Art von Kunst.«

»Siehste. Und deswegen ist es auch voll fies, wenn die Älteren einfach auf mich herabsehen und so tun, als hätten sie es automatisch besser drauf.«

»PupsySandy wirst du es jetzt jedenfalls zeigen.« Pamela riss die Faust in die Höhe.

Leia quietschte entzückt.

»PrettySandy«, korrigierte sie.

»So nennt sie sich vielleicht«, meinte Pamela. »Aber man muss die Dinge beim Namen nennen. Für mich ist sie ab jetzt SuperwichtigPupsySandy.« Sie kicherten verschwörerisch, und Leia sah höchst zufrieden aus. Es war herrlich, einfach hier zu sitzen, nach Herzenslust albern zu sein und das Zusammensein mit ihrer klugen, lebhaften Tochter zu genießen.

Elisa kam wieder an ihnen vorbei und stellte die gewünschten Cappuccinos bei den beiden Frauen zwei Tische weiter ab.

Auf dem Rückweg grinste sie sie an. »Na, schmeckt’s, ihr Hübschen?«

»Mmmh, leckaaa!«, seufzte Leia und verdrehte die Augen.

Doch Pamela war abgelenkt.

Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Verwirrt ließ sie ihren Blick noch einmal zu den beiden Frauen mit den Cappuccinos hinüberwandern. Kannte sie die vielleicht? Hm, nein. Seltsam. Aber irgendetwas …

Unauffällig glitt ihr Blick von den Gesichtern der beiden zu ihren Händen, die auf dem Tisch mit den Tassen beschäftigt waren, über ihre Handtaschen, die über den Stuhllehnen baumelten, bis hinunter zu ihren Beinen.

Und da durchfuhr es Pamela plötzlich wie ein Blitz.

Beide Frauen trugen kurze Sommerröcke, die eine mit Ballerinas, die andere mit offenen Sandalen, deren Riemchen sich um die hübschen Knöchel hinaufwanden. Und über einem der dort gebundenen Knoten befand sich ein kleines Bild auf der Haut.

Wie zufällig ließ Pamela ihre Serviette zu Boden fallen und bückte sich unter den Tisch. Von dort hatte sie freie Sicht auf die nackten Beine zwei Tische weiter.

Sie sah so angestrengt hin, dass ihre Augen brannten. Dann tauchte sie wieder auf, mit dieser absoluten Gewissheit, den richtigen Riecher gehabt zu haben. Denn die Frau mit dem kastanienbraunen Pagenkopf und der Gazellenfigur trug am rechten Knöchel eine hübsche Tätowierung, eine aufblühende Rosenknospe. Es gab keinen Zweifel: Das waren die Beine von dem Fotoschnipsel!

Rasch schielte Pamela zu ihrer Tochter, doch die bekam von der Aufregung, die sie selbst plötzlich tsunamiartig überflutete, nichts mit, sondern gab sich mit Teenager-üblicher Ausschließlichkeitsbegeisterung ihrem Eisbecher hin.

Wie gut, dass sie selbst durch jahrelanges Training so multitaskingfähig war. Sie konnte Eis, Sahne, Früchte schlemmen und gleichzeitig fieberhaft überlegen.

Was war jetzt zu tun?

Ihr erster Gedanke galt Kommissar Lennard Vogt. In Pamelas Handy war seine dienstliche Nummer eingespeichert. Aber würde sie ihn dort jetzt, am Samstag, erreichen? Und wenn ja, würde ihn diese Entdeckung überhaupt interessieren? Vielleicht wusste die Polizei ja längst, zu wem die Beine auf dem Fotoabschnitt gehörten und wer das Bild geschossen hatte? In dem Fall würde sie sich wahrscheinlich nur einen weiteren Anpfiff einhandeln – obwohl sie doch wirklich nichts dafür konnte, wenn ihr hier so mir nichts, dir nichts tätowierte Beine über den Weg liefen.

Was wäre aber, wenn die Polizei immer noch im Dunkeln tappte, was die Identität dieser Fotoknöchel anging?

War es nicht ihre bürgerliche Pflicht, diesem vom Schicksal gesandten Hinweis nachzugehen und herauszufinden, wer genau die Frau da drüben war?

In diesem Augenblick piepte zwei Tische weiter ein Handy. Die Frau, die Pamela gerade noch unauffällig im Auge gehabt hatte, sah aufs Display.

Meinte Pamela das nur, oder wechselte sie ein wenig die Gesichtsfarbe?

Die Fremde entschuldigte sich bei ihrem Gegenüber und nahm das Handy auf.

»Kein Problem. Ich wollte auch mal kurz …«, hörte Pamela die andere sagen, die daraufhin ihr eigenes Smartphone konsultierte.

Die Rosenfrau las die eingegangene Nachricht und gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Doch Pamela konnte von hier aus an den leicht geblähten Nasenflügeln erkennen, wie sehr sie sich dafür beherrschen musste.

Rosenfrau wartete ab, bis ihre Freundin ihre eigenen Nachrichten gecheckt hatte, und leerte währenddessen mit kleinen eiligen Schlucken ihre Tasse.

»Ähm … hör mal, ich muss leider doch schon los«, sagte sie dann mit zerknirschter Miene. Pamela sperrte die Ohren auf.

»Och, jetzt schon? Wir wollten uns doch noch wegen des Elternsprechtags bereden, was wir den Hofmanns wegen ihrem verzogenen Blag sagen.«

»Können wir das verschieben, bitte? Mir ist gerade eingefallen, dass ich die Korrekturbögen für den Bio-Test der Elfer in der Schule habe liegen lassen. Und die Korrekturen will ich heute unbedingt fertig kriegen.«

Die andere guckte enttäuscht, zuckte dann aber mit den Schultern. »Na gut … vielleicht können wir ja heute Abend telefonieren?«

»Ja klar. Machen wir.«

Rosenfrau hielt nach Elisa Ausschau.

»Das übernehm ich schon«, sagte ihre Bekannte. »Du hast beim letzten Mal bezahlt.«

»Super, danke.« Frau Rosenknospe angelte nach ihrer Handtasche.

Was tat man, wenn alles Überlegen auf die Schnelle zu keinem Ergebnis geführt hatte? Richtig: Man handelte!

Pamela kratzte rasch den letzten Rest Eis samt Kiwi von ihrem Teller, schob ihn sich in den Mund und zog ihr Portemonnaie heraus.

Sie wählte einen Zwanziger. Legte dann einen Zehner drauf.

Leia bedachte sie mit einem irritierten Blick.

»Fürs Eis mit zwei Euro Trinkgeld für Elisa. Den Rest trägst du in den Buchladen.« Da hatte Leia nämlich gerade noch mit einem neuen Jugendthriller geliebäugelt, den sie leider nicht als Rezensionsexemplar vom Verlag bekommen hatte, weil sie mit ihren nur vierhundert Followern ein zu kleines Blogger-Fischlein war.

Die Augen ihrer Tochter wurden groß. »Echt jetzt?«

Zwei Tische weiter verabschiedete sich die Rosenfrau gerade mit einem Wangenkuss von der anderen.

»Echt! Unter einer Bedingung: Du wartest im Buchladen auf mich, bis ich wiederkomme oder dich anrufe, klar? Kann vielleicht etwas dauern, ich weiß noch nicht.«

Leia konnte ihr Glück kaum fassen: Zwangswarten in einer gut sortierten Buchhandlung! Ein Traum wurde wahr. Aber sie wäre nicht Pamelas Tochter gewesen, wenn sie auch das verlockendste Angebot so einfach hingenommen hätte.

»Wo willst du denn hin?«

»Erzähl ich dir vielleicht später.« Pamela zwinkerte ihr zu, schnappte sich ihre eigene Tasche und eilte dann die Fußgängerstraße hinunter, dem kastanienbraunen Pagenkopf hinterher.


Die Schlagworte Elternsprechtag, Korrekturbögen und Bio-Test der Elfer ließen Pamela vermuten, wohin sie jetzt unterwegs war. Und tatsächlich: Die Rosenfrau ging in flottem Tempo die Hauptstraße der Fußgängerzone hinunter, bog am alten Rathaus ab, überquerte an der Kirche den bei den Touristen so beliebten Platz, der von lauter schnuckeligen buckeligen Fachwerkhäusern umgeben war, tauchte in die kleine Gasse auf der anderen Seite ein und strebte so der südlichen Grenze der Altstadt entgegen.

Sobald sie die Fußgängerzone verlassen hatten und der Straße hinauf zur Schulenburg folgten, hielt Pamela einen größeren Abstand als gerade noch zwischen den vielen anderen Shopping-Begeisterten. Trotzdem war es nicht schwer, ihr Ziel im Auge zu behalten. Frau Rosenknospe lief den Berg hinauf, ohne nach links oder rechts zu sehen.

Als sie sich dem Gymnasium näherten, holte Pamela mit mittlerweile schmerzenden Waden ein bisschen auf. Wer wusste schon, wo und wie schnell die Lehrerin in der Schule verschwinden würde. Und so trennten sie nur noch knapp zwanzig Meter voneinander, als Rosenfrau plötzlich stehen blieb.

Pamela ging nur ein paar Schritte weiter und widmete sich dann dem Schnürband ihres Turnschuhs, mit dem natürlich alles in Ordnung war.

Was hatte die da vorn denn? Wollte sie telefonieren?

Aber dann sah Pamela, dass Rosenfrau ihrerseits jemanden beobachtete: Um ein paar Müllcontainer herum war gerade ein Mann um die sechzig in grauem Hausmeisterkittel in Sicht gekommen, der konzentriert den Boden fegte. Noch wandte er ihnen den Rücken zu.

Rosenfrau sah zur anderen Straßenseite hinüber, als überlege sie, ob sie schnell wechseln solle, doch in diesem Moment hob der Mann den Kopf und sah sie.

»Tag, Frau Schlierenstein!«, grüßte er sie ein wenig überrascht. »Was machen Sie denn an ’nem Samstag hier?«

Rosenfrau Schlierenstein legte die wenigen Meter zu ihm zurück. Und während Pamela ihr ebenfalls langsam folgte und dabei mit gesenktem Kopf in ihrer Handtasche kramte, hörte sie: »Ich bin längst nicht so fleißig wie Sie, Herr Schneider. Nur ein Spaziergang.«

»Ah ja. Gute Idee. Hier kann man ja auch schön laufen, ne? Im Wald isses heute auch angenehmer als unten am Fluß. An der Ruhr sind wieder die ganzen Bekloppten unterwegs, und das, wo die Sonne so pellt.«

»Genau mein Gedanke«, erwiderte die junge Lehrerin.

Nur nicht der wahre Grund, aus dem du hergekommen bist!, dachte Pamela. Aber Frau Schlierenstein hatte offenbar nicht vor, in die Schule zu gehen und irgendwelche vergessenen Korrekturbögen zu holen. Die Ausrede ihrer Kollegin gegenüber hatte Pamela ihr sowieso nicht abgenommen. Und jetzt war sie umso gespannter, was die Frau mit dem Rosentattoo wirklich vorhatte.

Nach einem kurzen Schwatz mit dem Hausmeister über das Wetter und die ewige Unordnung rund um die Mülltonnen, der wohl nur schwer beizukommen war, verabschiedete Frau Schlierenstein sich und bog nach rechts zur Schulenburg ab.

Pamela ließ ihr ein bisschen Vorsprung, ehe sie ihr folgte.

Herr Schneider fegte fluchend um die Tonnen rum und bemerkte sie gar nicht.

Pamelas Hände kribbelten vor Spannung. Ganz sicher hatte der überstürzte Aufbruch in der Eisdiele etwas mit der eingegangenen Nachricht zu tun. Aber wohin hatte der- oder diejenige die Rosenfrau beordert?

Der Gedanke, sie könne womöglich im Restaurant verabredet sein, das in dem herrschaftlichen Gebäude untergebracht war, ließ Pamela dann doch wieder einen Gang schneller einlegen – denn damit wäre ihr Beschattungsopfer erst mal außer Sicht. Doch ihre Sorge war unbegründet. Als sie den großen Parkplatz vor der Schulenburg erreichte, sah sie gerade noch, wie Frau Schlierenstein rechts neben dem Gebäude den schmaleren Weg in den Wald hinein wählte.

Pamela eilte über den Parkplatz, wich der Trainingsgruppe einer der örtlichen Hundeschulen aus und folgte dem schmalen Pfad unter die Laubbäume.

Der Hausmeister hatte recht gehabt: Hier war es angenehm kühl. Das Dumme war nur: Es war auch menschenleer.

Offenbar hatte ganz Hattingen entschieden, heute einen Tag in der Stadt, am Fluss oder See oder im Freibad einzulegen.

Pamela sah noch einmal zum Parkplatz zurück und überlegte kurz, wie praktisch es jetzt wäre, sich einen der Hunde ausleihen zu können. Dieser kleine braune da drüben zum Beispiel. Oder Xaverl, ja, Xaverl wäre jetzt die perfekte Begleitung für eine Beschattung in dieser Umgebung. Wer mit einem Hund in den Wald ging, fiel definitiv nicht auf. Aber eine Frau allein, in Sommerrock und Riemchensandalen, passte hier nicht her. Genauso wenig – sie sah an sich herunter – wie eine in leuchtend gelbem Trägershirt über Caprihosen und weißen Sportschuhen, samt Handtasche über der Schulter.

Sie musste vorsichtig sein, damit Frau Schlierenstein sie nicht bemerkte. Im Grund musste eine Art Tarnung her. Ja, eine Tarnung, die ihr jetziges Outfit einschloss.

Sie war eine Touristin! Ja, genau! Sie war eine Touristin, die von dem tollen Waldrestaurant oberhalb der Stadt gehört hatte und die sich jetzt vor dem Essen noch ein bisschen die Beine vertreten wollte.

Pamela kramte rasch in ihrer Tasche, förderte die Sonnenbrille zutage und setzte sie auf. Dann reckte sie sich, sah sich interessiert um und schlenderte möglichst entspannt, wie Touristen es nun mal so taten, in den Wald hinein. Sie selbst hätte sich die Ortsfremde sofort abgenommen.

Als ihr eine Frau in ihrem Alter samt Golden Retriever begegnete, probierte sie ihre Tarnung aus.

»Entschuldigung, wo kommt man denn da hin?«, sprach sie die Fremde in praktischen Shorts und Trekkingschuhen an.

»Zum Bismarckturm«, erklärte die. »Aber ehrlich gesagt gibt’s da nicht viel zu sehen. Man kann nicht rauf oder so. Ist mit ’nem Gitter immer abgesperrt, wegen der Jugendlichen. War mal ein beliebter Treffpunkt für die und für Liebespaare.«

»Klingt super, schau ich mir gern an. Ist nur ein bisschen einsam hier, oder?«

»Ja, heut ist nicht viel los. Aber ich bin gerade noch einer anderen Frau begegnet.«

»Na, dann sind wir ja nicht allein«, entgegnete Pamela.

Sie winkten sich lächelnd zu, und Pamela setzte ihren Weg fort.

Treffpunkt für Liebespaare. Hm. Stimmte. Mike und sie hatten da auch mal Knutschhalt gemacht. Aber nur einmal. Das musste ganz am Anfang gewesen sein. Mike war wirklich nicht so der Typ, der gerne im Wald spazieren ging.

Als sie sich dem Turm näherte, bog sie auf einem noch schmaleren Pfad nach links in den Wald ab. Ihre Tarnung funktionierte zwar, aber trotzdem war es besser, wenn Frau Schlierenstein sie erst gar nicht bemerkte. Pamela konnte ja schlecht als Touristin getarnt irgendwo in Sicht- oder Hörweite stehen bleiben, wenn die Rosenfrau sich mit wem auch immer traf.

Denn dass es hier um ein heimliches Treffen ging, davon war Pamela inzwischen überzeugt. Die Frage war nur: Mit wem? Sie tippte auf die Hosenbeine vom Foto und war mächtig gespannt, wer darin stecken würde.

Also schlug sie sich so leise wie möglich durchs Unterholz und kam schließlich in einem dichten Gebüsch an, das dem Turm unmittelbar gegenüberlag. Hinter dem breiten Stamm einer Buche verborgen, wagte sie einen raschen Blick.

Tatsächlich. Frau Schlierenstein-Rose-am-schicken-Knöchel stand dort am Turm und schien auf jemanden zu warten. Zumindest überprüfte sie gerade ihr Smartphone und sah den Weg zur Schulenburg hinunter.

Ein paar Minuten vergingen. Frau Schlierenstein wartete im Schatten des Bismarckturms, von dem aus man über ganz Hattingen und das Ruhrtal sehen konnte, Pamela wartete in ihrem Versteck hinter dem Baum.

Dann tat sich endlich was.

Aus der anderen Richtung näherte sich jemand. Als er näher kam, erkannte Pamela, dass es ein junger Mann war. Um genau zu sein, ein sehr junger Mann.

Er hatte die Hände in die Taschen seiner Jeans gebohrt und schlenderte ziemlich cool den Weg entlang. Es war einer von diesen Typen, denen Mädchen scharenweise hinterherrannten: wilde schwarze Locken zu dunklen Augen, Gang einer Raubkatze, gut definierter Körper unter eng anliegenden Klamotten.

Pamelas Beschattungsziel trat aus dem Schatten des Turms.

»Ach, hallo, Frau Schlierenstein«, sagte der Glutäugige. »Was machen Sie denn hier? Haben Sie etwa irgendwas in der Schule vergessen? Die Klausurbögen für unsere Stufe vielleicht?«

Als er auf sie zukam, sah Pamela, dass er zwar noch sehr jung war, aber auch ziemlich groß. Er überragte sein Gegenüber fast um einen Kopf.

»Milan«, sagte Frau Schlierenstein. »Was soll das?«

Pamela linste um den Baum herum. Die beiden standen etwa einen Meter auseinander und sahen sich an.

»Was soll was?«, entgegnete er. »Ich mach mir wirklich Sorgen um die Klausuren. Ob ich die packe. Ob ich nicht besser alles hinschmeißen sollte.«

»Was redest du denn da?«, fuhr sie ihn an. »Die Klausuren sind durch. Du musst nur noch die mündlichen Prüfungen schaffen. Was doch ein Leichtes für dich ist, als einer der Besten in der Stufe. Du kannst doch jetzt nicht alles hinschmeißen!«

»Sagt mir wer? Meine Biolehrerin? Die Vertrauenspädagogin unserer Schule? Vielen Dank, Frau Schlierenstein!«

»Milan, hör doch auf damit!«

»Wieso? Wieso soll ich damit aufhören? Und warum soll ich brav das Abi durchziehen, wenn doch sowieso nichts mehr einen Sinn hat?«, brauste Milan auf.

»Das ist … das ist doch Unsinn«, antwortete seine Lehrerin.

Pamela fand den Gedanken seltsam, dass Frau Schlierenstein Milans Lehrerin war – aber so hatte er es doch gerade selbst gesagt, oder? »Du bist noch so jung. Das ganze Leben …«

» … liegt vor mir, ja, ich weiß, bla, bla, bla«, unterbrach er sie brüsk. »Und was ist, wenn mir das scheißegal ist, Frau Lehrerin? Was ist, wenn ich gar keinen Sinn darin sehe, zu lernen und zu büffeln und die besten Ergebnisse und den geilsten Studienplatz überhaupt zu bekommen? Das ist doch nicht der Sinn des Lebens! Der Sinn des Lebens ist doch was ganz anderes! Das ist doch … das ist …« Er brach ab, und plötzlich schien seine Wut in sich zusammenzufallen. Seine Schultern sanken herab. Er ließ den Kopf hängen.

Pamela auf ihrem geheimen Posten sperrte Augen und Ohren auf.

»Nicole«, sagte Milan dann leise. Wie jetzt? Nicole? Nicht mehr Frau Schlierenstein und Frau Lehrerin und so? »Ich hab es wirklich versucht, glaub mir. Ich hab versucht, nicht an dich zu denken, mich nicht nach dir zu sehnen. Hab wirklich versucht, mir einzureden, dass du recht hast, dass es besser so ist. Aber … ich kann mich einfach nicht selbst belügen.«

Wow, so war das also. Von wegen Schüler und Lehrerin.

Jetzt streckte Milan die Hand aus und berührte Nicole Schlierensteins Schulter. »Bitte. Bitte sag mir, dass es dir auch so geht. Dass du es auch nicht schaffst, über uns hinwegzukommen. Sag mir, dass du mich immer noch …«

Sie hob rasch die Hand und legte sie an seine Lippen, als wolle sie ihn am Weiterreden hindern.

Ein paar Sekunden standen sie so da. Dann warfen sie gleichzeitig die Arme umeinander und küssten sich so leidenschaftlich, dass es auch hier im Wald um ein paar Grad wärmer wurde.

Pamela zog sich hinter ihren Baum zurück und hoffte nur, dass es nicht vollkommen mit den beiden durchgehen würde. Manche Leute kannten da ja keine Hemmungen. Sie selbst hatte mal …, oh nee, jetzt bloß nicht daran denken! Das war doch zwanzig Jahre her!

Krampfhaft versuchte Pamela, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Wie ging noch der Text von dem Popsong dieses Sommers, den Leia ständig trällerte?

Sie musste sich nicht lange bemühen. Nach ein paar Minuten hörte sie, wie Milan und Nicole wieder miteinander redeten, leise, aber immerhin sprachen sie, statt wie wild zu knutschen.

Auch wenn Pamela inzwischen Kohlohren bekommen hatte, konnte sie nur ein paar Satzfetzen verstehen: »hast recht mit …« und »muss einen Weg geben« und »genau überlegen«.

Als sie aus ihrem Versteck hervorblinzelte, sah sie, wie Nicole Rosentattoo-Schlierenstein und Milan Abiturient-Schwerverknallt Hand in Hand den Weg entlanggingen, den Milan gekommen war, in den Wald hinein.

Pamela stand still in ihrem Versteck, und in ihrem Kopf schlugen die Gedanken Purzelbäume. Hier also hatte sie das Beinpaar, das auf dem Fotoschnipsel zu sehen war, den sie in der Dunkelkammer gefunden hatte. Aber wie waren ausgerechnet diese Beine in den Fotoklub gekommen? Wo war der Bezug zu Neumann?

Ihr Vertrauen in ihr fotografisches Gedächtnis war groß. Und so war sie sicher, dass sie Nicole Schlierensteins Gesicht nicht von dem Plakat in der Eingangshalle des Fotoklubs kannte. Sie war kein Mitglied im Klub. Auch Milan nicht. Aber wie waren ihre Beine dann auf das Bild in der Dunkelkammer dort geraten?

Sie wartete noch, bis das ungewöhnliche Liebespaar nicht mehr zu sehen war, dann kämpfte sie sich aus dem Gebüsch und klopfte ihre Caprihose von ein paar Blättern und Ästchen frei.

Als sie aufblickte, sah sie sich einem alten Mann mit Dackel gegenüber, der soeben die Stufen zum Turm heraufgekeucht war. Mann und Dackel starrten sie beide verwundert an.

»Wenn die Natur ruft, muss man folgen, oder?«, sagte Pamela zu ihnen. Und dann machte sie, dass sie wegkam.