21. Kapitel

10. Mai, Montag, abends

Pamela musste dringend nachdenken.

Sie parkte den Wagen in der Nordstadt direkt vor dem Haus, in dem Valerie mit ihren Eltern wohnte.

Leia war nach der Schule mit zu ihrer Freundin gegangen, um dort für den morgigen Chemietest zu lernen. Valeries Mutter arbeitete in einem Chemielabor, war ein Ass in Formeln und konnte den beiden dabei helfen.

Pamela hatte versprochen, ihre Tochter nach der Lern­einheit dort einzusammeln. Aber weil der Einkauf nach dem letzten Job so flott gegangen war, war sie zu früh.

Nicht erschrecken. Auto steht schon unten. Ich geh aber noch spazieren und meld mich, wenn ich zurück bin und du runterkommen kannst.

Sie schickte die Nachricht ab, sah an den Häkchen, dass Leia sie angeschaut hatte. Prompt kam ein Küsschen-Emoji zurück.

Kurz überlegte sie, zum Wald raufzufahren. Aber so einen idealen Parkplatz wie jetzt würde sie gleich vielleicht nicht noch einmal finden, und da sie sowieso laufen wollte, um ihren Kopf frei zu bekommen, stieg sie aus und ging los. In Richtung nahe gelegenem Schulenburger Wald. Ab in die Natur, wo niemand was von ihr wollte.

Endlich Ruhe im Karton. Der Tag war stressig gewesen. Bei ihren letzten beiden Montagsjobs waren die Wohnungsherrinnen und -herren zu Hause gewesen. Das hieß: Small Talk, irgendwie um sie herumputzen, noch mal Small Talk. Die meisten Leute waren komisch, was das anging. Sie hatten kein Problem damit, wenn jemand in ihrer Abwesenheit das Haus in Ordnung brachte und sie abends beim Heimkommen alles blitzsauber vorfanden. Aber wenn sie selbst zu Hause waren, wegen Urlaub oder einem Zipperlein, kamen sie plötzlich nicht mehr damit klar, dass eine Fremde ihren Dreck wegräumte. Sie wurden so leutselig gesprächig, boten Kaffee an (schon mal mit ’ner Kaffeetasse in der Hand ein Klo geputzt?) und huschten in dem vergeblichen Versuch, ihre Verlegenheit zu vertuschen, von Raum zu Raum, immer vor ihr weg.

Pamela mochte es lieber, wenn sie freie Bahn hatte und einfach ihr Ding machen konnte. Ganz in Ruhe nachdenken inklusive. Und vielleicht spielte bei ihrem Entschluss zu diesem Gang auch die Tatsache eine Rolle, dass sie auf dem Weg zum Wald am Gymnasium vorbeikommen würde, in dem Rosentattoo-Lehrerin Nicole Schlierenstein arbeitete. Pamela hatte die Erfahrung gemacht, dass sie besser nachdenken konnte, wenn sie die Orte aufsuchte, die sie in Gedanken beschäftigten.

Während sie die Bredenscheider Straße überquerte, die ins Zentrum führte, und den Berg hinauflief, versuchte sie, sich auf das zu konzentrieren, was sie schon den ganzen Tag im Hinterkopf beschäftigte. Etwas von dem, was Vogt gestern gesagt hatte, klopfte nämlich schon die ganze Zeit bei ihr an.

Gestern Abend hatte sie über das Gespräch mit dem Kommissar nicht weiter nachgedacht. Die Zeit mit Bernd war viel zu kurzweilig gewesen. Er war ein echter Unterhalter, konnte aber auch zuhören, war charmant, witzig und sich nicht zu schade, über sich selbst zu lachen. Genau ihr Fall.

Aber als sie dann später zu Hause im Bett lag und sich eigentlich noch in dem sexy Gefühl aalen wollte, von einem attraktiven Mann umworben zu werden, waren ihre Gedanken ganz ohne ihr Zutun wieder zu Lennard Vogt zurückgekehrt und zu dem, was sie zum Fall Neumann gesprochen hatten. Vorbei war es mit der Schwärmerei in Sachen Bernd Stangl gewesen.

Sie hatte wach gelegen. Aber anstatt sich in heißen Visionen vom nackten Aufeinanderprallen mit diesem breitschultrigen Kerl zu suhlen, hatte sie Worte zerpflückt.

Anfangs hatte sie ja gedacht, dass sie vom Kommissar nichts Neues erfahren habe – außer, dass ihm rausgerutscht war, dass ihre Vermutung in Sachen Winters Steuerhinterziehung stimmte. Aber dann hatten ihre Gedanken immer wieder an dieser einen Stelle ihres Gespräches gehakt: als Vogt beim Stichwort Lohnerhöhung durch Klappert aufgemerkt hatte.

Ja, ja, sie hatte gleich abgewiegelt. Schließlich hatte sie sich geschmeichelt gefühlt von der Vorstellung, dass ein Auftraggeber derart von ihrer Arbeit begeistert war, dass er gern mehr Geld für ihre Leistung zu zahlen bereit war.

Da hatte es ihr einfach nicht in den Kram gepasst, dass der Kommissar es in einem Licht erscheinen ließ, als sei das Geld eigentlich als eine Art Bestechung gedacht. Aber je länger sie darüber nachdachte, desto mehr geriet sie ins Schwanken, ob an seinem Verdacht nicht womöglich doch etwas dran sein konnte.

Zugegeben, eins fünfzig pro Stunde wären als Bestechung ziemlich jämmerlich. Aber irgendwie hatte die Situation mit Klappert schon etwas von Einschmeicheln gehabt. Sein dickes Lob. Der Vergleich mit seiner Frau. Und genau da war das Angebot gekommen.

Klapperts Frau. Hm.

Pamela lief, tief in Gedanken versunken, den Bürgersteig entlang.

Wie war das gewesen? Klappert hatte gesagt, dass seine Frau früher für die gleiche Arbeit länger gebraucht hatte. Und da hatte Pamela sich bei ihm erkundigt, wie es seiner Angetrauten denn gehe, weil sie doch so durcheinander gewesen war, als Pamela mit ihr telefoniert hatte.

Ja, genau. Das hatte sie erwähnt, dass Frau Klappert ganz aufgewühlt gewesen war. Die arme Frau hatte die Wochentage durcheinandergebracht, hatte davon gesprochen, dass dienstagabends immer eine Veranstaltung im Klub sei, an der ihr Mann teilnahm. Ganz regelmäßig. Irgendwie so hatte sie es ausgedrückt.

Klappert hatte sie gefragt, wie seine Frau reagiert habe, als Pamela sie auf diesen Fehler hingewiesen habe. Und als Pamela erwidert hatte, das habe sie gar nicht, hatte Klappert da nicht plötzlich erleichtert gewirkt? Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, glaubte aber, dass es so gewesen war.

Ganz sicher war das aber der Moment gewesen, in dem er plötzlich die eins fünfzig ins Spiel gebracht hatte.

Kurz blieb Pamela stehen.

Dann setzten ihre Füße sich wie von selbst wieder in Bewegung, diesmal schneller, als wollten sie den Gedanken nicht verlieren, der ihr gerade kam: Was, wenn Frau Klappert gar nicht verwirrt gewesen war? Sie war ganz sicher aufgeregt gewesen, ja. War ja kein Wunder, oder? Deswegen hatte Pamela automatisch vermutet, dass sie einfach die Wochentage durcheinandergebracht hatte. Aber was, wenn Frau Klappert tatsächlich den Dienstagabend gemeint hatte? Wenn sie der Meinung war, dass an diesem Abend in der Woche im Fotoklub eine Veranstaltung stattfand, an der ihr Mann regelmäßig teilnahm, die aber am Mordabend ausnahmsweise ausgefallen war?

Was, wenn Herr Klappert seiner Frau das genau so erzählt hatte? Weil er jeden Dienstagabend unterwegs war und … was genau anderes unternahm?

Aus einer Einfahrt bog eine Frau mit einem Golden Retriever, der Pamela freundlich anwedelte. Sie lächelte dem hübschen Hund zu. Fand es irgendwie passend, genau jetzt so eine Begegnung zu haben. Denn das war Markus Klappert doch auch: ein freundlicher Kerl, dem man nichts Böses zutraute.

Aber nur weil er zu ihr höflich und wertschätzend war, hieß das doch noch lange nicht, dass er jemand anderem, der ihn bis aufs Blut reizte, nicht doch etwas antun könnte.

Ahsen hatte jedenfalls neulich noch gesagt, dass es immer die netten, sympathischen Verdächtigen waren, die sich am Ende als Mörder herausstellten.

Hatte Kommissar Vogt also doch den richtigen Riecher, was Pamelas Lohnerhöhung anging? Warum wollte Klappert verhindern, dass sie seiner Frau die Wahrheit über die Dienstagabende erzählte? Und wohin verschwand Klappert jeden Dienstag, wenn seine Frau ihn im Fotoklub wähnte?

Es gab ja durchaus Männer, die regelmäßig einschlägige Etablissements besuchten. Jessi fiel ihr ein. Die Typen, die sich von Schneeflittchen & Dornhöschen den Hintern versohlen ließen, meldeten sich bei ihren Ehefrauen höchstwahrscheinlich auch nicht ordnungsgemäß ab.

Pamela spürte, wie ihr Mund sich ganz von selbst zu einem breiten Grinsen verzog.

Als sie den Kopf hob, hatte sie gerade das Gebäude des Gymnasiums erreicht. Vor dem Eingang sah sie den Hausmeister, den sie vor zwei Tagen, am Samstag, im Gespräch mit der jungen Lehrerin Nicole Schlierenstein beobachtet hatte. Er war damit beschäftigt, die überfüllten Beutel in den Mülleimern gegen neue zu wechseln.

Na, hoffentlich hatte der gute Mann auch noch anderes zu tun, als nur den Müll zu sortieren, den diese Pubertiere den lieben langen Tag produzierten.

Fast war Pamela schon vorbeigegangen, als ihr eine Idee kam.

Sie bog ab und tänzelte auf den Mann zu. »Entschuldigen Sie«, flötete sie.

Der Hausmeister hob den Kopf.

»Herr Schneider, stimmt’s?«

Er nickte, und ein kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Pamela dankte dem Himmel für ihr gutes Namensgedächtnis. So persönlich angesprochen zu werden weckte doch immer Vertrauen in den Menschen.

»Sie kennen doch hier alle Lehrkräfte, oder?«

»Denke schon.«

»Meine Tochter«, Pamela deutete vage in Richtung Parkplatz der Schulenburg, als säße das besagte Kind dort in einem Auto, »hat für ihre Lieblingslehrerin ein kleines Geschenk. Sie hat das ganze Wochenende dran gebastelt. Und dann hat sie heute Morgen vergessen, es mit in die Schule zu nehmen.«

»Ist keiner mehr da«, antwortete der Mann mit bedauerndem Schulterzucken. Er hatte gewaltige Augenbrauen, die aussahen, als seien sie abnehmbar, wie bei den Figuren in der Sesamstraße. Bestimmt waren die Zielscheibe für diverse Schülerwitze. Pamela jedenfalls fielen auf Anhieb zwei, drei ein, die prima passen würden, und sie musste blinzeln, um sich wieder auf ihr Vorhaben zu konzentrieren.

»Dachte ich mir«, seufzte sie. »Aber vielleicht können wir es ihr ja in den Briefkasten werfen. Meine Tochter meint, die Frau Schlierenstein wohnt hier ganz in der Nähe?«

Der Hausmeister knisterte mit einer neuen Mülltüte.

»Frau Schlierenstein? Nee, die wohnt in Sprockhövel.«

»Ach was!«

»Ja, Hohe Egge. Weiß ich zufällig, weil mein Schwager neulich das Haus mit dem begrünten Dach direkt gegenüber gekauft hat. Sie wohnt in dem Bruchsteinhaus ganz vorn.«

Pamela strahlte ihn an. »Das ist ja supernett von Ihnen! Da wird meine Tochter sich freuen, wenn sie ihr Geschenk doch noch loswird.«

Plötzlich wirkte er verunsichert. »Das wird doch in Ordnung sein, dass ich Ihnen das gesagt habe?«, brummte er und musterte sie.

»Wir klingeln nicht!«, versprach Pamela mit einem Augenzwinkern, um seine Bedenken zu zerstreuen. »Nur den Umschlag in den Briefkasten, und zack, sind wir wieder weg.«

»Na, das wird wohl klargehen«, meinte Herr Schneider zu seiner eigenen Beruhigung.

»Ja klar. Schönen Abend dann noch!« Pamela winkte und machte sich aus dem Staub, das letzte steile Stück zur Schulenburg hinauf.

Hohe Egge. Sprockhövel, Hohe Egge, wiederholte sie im Geiste. Da war was. Die Adresse kam ihr bekannt vor. Hatte sie da mal einen Job gehabt? Hm, nein, das wäre ihr sofort eingefallen. Vielleicht ein Kennenlerntreffen, und die Leute hatten sich dann für eine andere Reinigungsfirma entschieden? Ja, so was musste es gewesen sein. Auf jeden Fall würde ihr das noch einfallen.

Ob ihr Wissen um die Adresse ihr weiterhelfen würde, war allerdings fraglich. Sie würde hinfahren, sich mal ein bisschen umschauen. Vielleicht würde ihr irgendetwas auffallen. Manchmal waren es die Kleinigkeiten, die einen in einem Rätsel vorwärtsbrachten.

Sie marschierte über den Parkplatz, der heute nur spärlich besetzt war. Montag, Ruhetag. Das war bei fast allen Restaurants hier in der Gegend so.

Vielleicht würde sie Bernd vorschlagen, mal zusammen hier zu essen? Er hatte gestern Abend schon angedeutet, dass er sie gerne mal ausführen würde, wie er es nannte.

Pamela war schon lange nicht mehr hier gewesen. Wie sah es denn eigentlich mit den vegetarischen Gerichten aus? Sie steuerte den großen Glaskasten am Fuß der Treppe hinauf zum Restaurant an, in dem die Karte ausgestellt war.

Auf der anderen Seite des breiten Weges, dem Aufsteller mit der Speisekarte gegenüber, befand sich eine Infotafel mit den verschiedenen Wanderwegen durch den Wald. Die Tafel war schon in die Jahre gekommen und wurde von den Hattingern selbst nicht genutzt. Jetzt gerade stand jedoch ein Mann davor, der die verschlungenen Pfade genau studierte.

Überrascht bliebt Pamela kurz stehen. Um dann ungläubig kopfschüttelnd weiterzugehen.

»Guten Abend, Herr Hauptkommissar«, begrüßte sie ihn.

Vogt fuhr herum. Sein Sonnenbrand leuchtete immer noch. Aber schon eine Nuance ins Braune hinein.

»Frau Schlonski«, sagte er, ebenso überrascht wie sie.

»Wer von uns verfolgt denn jetzt wen?«, fragte Pamela und löste damit bei ihrem Gegenüber verblüfftes Schweigen aus. Sie winkte ab. »Ach, vergessen Sie’s. Wollen Sie auch ein bisschen laufen?«

»Dabei kann ich am besten denken«, bestätigte er.

»Was Sie nicht sagen. Geht mir auch so. Fuckeln Sie sich durch, oder soll ich Ihnen einen schönen Weg zeigen?«

Ritt sie eigentlich der Teufel? Sie hatte doch durch den Wald laufen wollen, um nachzudenken. Und jetzt lud sie diese staubtrockene Kripoflitzpiepe ein, sie zu begleiten? Na ja, obwohl … Samstagabend in der Kneipe hatten sie sogar mal miteinander gelacht. Als sie sich gegenseitig ein paar typische Ruhrgebiets- beziehungsweise Norddeutschenbegriffe an den Kopf geworfen hatten.

Pamela musterte ihn heimlich. Seine Chinos und das Hemd wirkten sehr dienstlich. Wahrscheinlich war er direkt nach Feierabend hergekommen.

Vogt warf einen letzten Blick auf die verblichene Infotafel und steckte dann die Hände in die Taschen seiner Hose.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Na, dann kommen Sie mal …« Pamela nickte in Richtung breitem Weg, der links an der Schulenburg vorbeiführte.

Doch Vogt blieb noch stehen. »Und natürlich nur, wenn Sie nicht versuchen, mich über die laufenden Ermittlungen zum Fall Neumann auszuhorchen«, setzte er hinzu.

Pamela schnaubte durch die Nase. »Jetzt geben Sie mal nicht so an. Übern Sonntag kann sich ja nicht so viel getan haben. Es sei denn, die Alibis vom Winter und von Markus Klappert sind geplatzt.«

Er schwieg. Sah sie düster an.

»Oh, nee, ne? Hab ich den Nagel auf den Kopf … und so weiter? Echt jetzt?«

»Ich werde dazu nichts …«

»Schon gut. Hab kapiert. Also, was ist? Kommen Sie mit?«

Mit immer noch brummiger Miene schloss er sich ihr an.

»Waren Sie schon mal drin?«, erkundigte sich Pamela, als sie an der Schulenburg vorbeigingen.

»Bisher nicht. Beeindruckendes Gebäude«, bemerkte er.

»Wurde so um 1900 rum gebaut«, erzählte Pamela. »Es gibt einen Barocksaal mit riesig hoher Decke. Für Hochzeiten und so. Aber von Heiraten haben wir wahrscheinlich beide erst mal die Schnauze voll, hm?«

Vogt lächelte unbehaglich.

Aha, noch ein Thema, über das er wohl lieber nicht reden wollte.

»Natürlich kann man auch essen gehen, ohne zu heiraten«, schlug sie einen eleganten Bogen. »In der ehemaligen Henrichshütte zum Beispiel, oder unten am Ruhrwehr in der ehemaligen Mühle, oder in der Burg Blankenstein, oder in der Wasserburg Haus Kemnade … Lustig, alles Restaurants, die irgendwie einen besonderen Bezug zur Stadt haben«, unterbrach sie sich selbst. »Muss daran liegen, dass ich so ein Hattinger Blag bin. Immer, wenn ich mit jemandem spreche, der nicht von hier kommt, muss ich mit allem Tollen angeben, was es hier gibt.«

»Sie haben immer hier gelebt?«, fragte Vogt ein wenig steif. Klar, er hatte ja jetzt noch keine drei Bier intus.

»Hier geboren. Immer hier gelebt. Wahrscheinlich werd ich auch hier in die Grube fahren«, bestätigte sie.

»Es ist schon eine besondere Region«, sagte er in dem gewagten Versuch von Small Talk. War doch echt nett von ihm, so was über ihre Heimat zu sagen. Mit wenigen Worten auf den Punkt gebracht.

»Besondere Region, besondere Geschichte, besondere Menschen. Wissen Sie, was ich am Ruhrgebiet so klasse finde? Es sind Städte, wo sich jede für sich doch echt von den anderen unterscheidet. Und trotzdem gehören sie alle irgendwie zusammen. Durch die Kohle, den Stahl, den Fußball. Es gibt hier ’ne Taubenklinik, wussten Sie das? Jaha, in Essen. Weil Tauben früher hier einfach dazugehört haben, genauso wie die Halden, die Schrebergärten und so. Man musste zusammenhalten, gemeinsam anpacken. Und nach dem Krieg natürlich doppelt, weil hier ja alles in Schutt und Asche lag. Wenn Sie gerne ins Kino und Theater gehen, haben Sie hier auch das Paradies. Der Laden in Ihrer eigenen Stadt spielt grad nichts Spannendes für Sie? Macht nix! Fahren Sie in die nächste, da gibt’s ja auch was. Und weit müssen Sie dafür nicht. Manchmal sind es nur ein paar Stationen mit der Straßenbahn, schwups: nächste Stadt. Für einmal durch Berlin sind Sie länger unterwegs. Aber hier ist alles nah, alles ratzfatz zu erreichen. Und obwohl Sie über eine Stadtgrenze raus sind, fühlt es sich trotzdem an wie zu Hause, weil hier alle so sprechen wie Sie …« Pamela unterbrach sich. »Also, na ja, wohl eher wie ich.«

Er lächelte tatsächlich.

»Sie lieben Ihre Heimat, das merkt man.«

»Wer denn nicht?« Sie sah ihn von der Seite an. Hier im lichten Schatten der Bäume wirkte sein Sonnenbrand nicht mehr so angsteinflößend, sondern beinahe wie gesunde Bräune. Sah zu dem dichten, dunklen Haar fast schon gut aus. Wenn er sich nur nicht so gerade halten würde, als hätte er einen Stock verschluckt. Dann hätte man das mit dem Oberschlaukommissar vielleicht zwischendurch mal vergessen können. »Vermissen Sie die Nordsee?«

Sie gingen weiter und weiter. Eine Weggabelung kam. Pamela wählte den linken.

Gerade kam ihr der Verdacht, dass er ihre Frage vielleicht nicht gehört hatte, als Vogt tief Luft holte.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich den Wind vermissen würde«, sagte er. »Am Deich langzugehen und so richtig durchgepustet zu werden. Diese Böen, die zusammen mit dem Geruch nach See und Tang vom Meer her kommen. Darüber habe ich nie nachgedacht, als ich noch in Bremerhaven gelebt habe. Es gehörte irgendwie einfach dazu. Genauso wie diese Weite. Kilometerweit sehen zu können. Übers Watt, in dem die Priele fließen. Oder auch landeinwärts über die Felder und Wiesen.«

Sie gingen schweigend weiter.

Das waren nur ein paar Sätze gewesen, aber Pamela war klar, dass das Wort Vermissen wahrscheinlich nicht ausreichte, wenn es um Vogt und die Nordsee ging. Es klang nämlich so, als habe er grässliches Heimweh.

»Wenn es ganz schlimm ist, sollten Sie mal am Kemnader See spazieren gehen«, schlug sie vor. »Setzen Sie sich auf eine der Bänke, und machen Sie die Augen zu. Wenn Sie Glück haben, kommt Wind auf. Was Sie da aber auf jeden Fall haben, ist Möwengeschrei. Die gibt es da rund ums Jahr.«

Er wandte den Kopf und sah sie überrascht an. So langsam begann sie, sich an den verwunderten Ausdruck auf seinem Gesicht zu gewöhnen, den sie immer mal wieder auslöste.

Diesmal mischte sich noch etwas anderes hinein. Etwas, das Pamela irgendwie packte und sie beinahe rührselig werden ließ.

Schnell setzte sie hinzu: »Würd ich an Ihrer Stelle in der nächsten Zeit aber nur machen, wenn es bewölkt ist. Nicht, dass Sie noch mal zu viel Sonne …«

Der Ausdruck verschwand. Dafür erschienen die Grübchen, die sie schon in der Kneipe überrascht hatten.

»Vielen Dank für den Hinweis«, sagte er schmunzelnd. »Diese Direktheit ist auch etwas, das die Menschen dieser Region ausmacht und womit ich mich erst … anfreunden musste.«

»Meine Eltern haben fast drei Jahrzehnte Urlaub in Norddeich gemacht. Und mein Vater sagte immer: ›Die Norddeutschen machen nicht viele Worte. Dafür meinen sie aber auch jedes davon‹«, erzählte Pamela. »Bei uns hier ist das auch so: Wir meinen auch alles genauso, wie wir es sagen. Nur, dass wir … na ja, mehr Worte in Benutzung haben.«

»Wie Möppel?«

Ha, das hatte er sich also gemerkt.

»Zum Beispiel. Aber es ist auch ein bisschen so ein Ding, wie man so insgesamt mit den Leuten umgeht. Wenn Sie in Ihren Fällen Leute befragen, haben Sie doch bestimmt schon gemerkt, dass die gern von sich aus reden, oder? So eine Frage nach der anderen, das liegt den Ruhrpöttlern nicht. Immer frei von der Leber weg.«

»Klingt, als könnten Sie mir ein paar gute Tipps geben.«

Huijuijui, machte der Kommissar am Ende sogar einen Scherz?

»Wissen Sie was? Schaden kann das ja nicht«, stimmte Pamela ihm zu. Und dann erzählte sie. Von den Menschen im Ruhrgebiet im Allgemeinen, von der Sauberzauber-Kundschaft im Besonderen, ihrer Mutter, Leias Freundinnen und dem Lehrerkollegium. Irgendwie schien es in ihrem Leben nur so zu wimmeln vor Beispielen, an denen ein Kriminalhauptkommissar den richtigen Umgang mit Ruhrpöttlern lernen konnte. Vogt hörte aufmerksam zu, stellte Fragen, lachte sogar ein paarmal. Schneller als erwartet kamen sie wieder am Parkplatz der Schulenburg an.

»Ach je, jetzt hab ich die ganze Zeit gequatscht und Sie damit abgelenkt«, sagte Pamela. »Wenn Sie das nächste Mal hier nachdenken wollen, werden Sie den Weg doch hoffentlich trotzdem finden?«

Er hob die Schultern. »Falls ich vermisst werde, wissen zumindest Sie, wo die Hundestaffel nach mir suchen muss.«

»Hey!«, machte Pamela und deutete mit dem Finger auf ihn. »Der war schon echt gut. Üben Sie weiter! Dann können Sie Nordlicht es irgendwann mit uns aufnehmen.«

Er hob die Brauen, konnte aber das leichte Zucken in den Mundwinkeln nicht verbergen.

»Ich muss da lang.« An der Straßenkreuzung hinunter in die Stadt deutete Pamela nach Norden hinunter.

»Wiedersehen.« Er nickte und setzte sich in Richtung Altstadt wieder in Bewegung.

»So wie es bisher gelaufen ist, wahrscheinlich ziemlich bald«, rief Pamela ihm nach.

Seine Antwort bestand nur aus einem Murmeln, und sie war sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Hatte er tatsächlich »Manchen Dingen kann man offenbar nicht ausweichen« gesagt? Herr Oberwitzkommissar entwickelte wohl so was wie Humor.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie sich jetzt sputen sollte. Bei Teenagern kamen Verspätungen nicht gut an. Natürlich nur, solange sie sie nicht selbst verursachten.

Also beschleunigte sie ihren Schritt.

Als sie an der Schule vorbeikam, fiel ihr wieder der Hausmeister Schneider ein, und ein schlechtes Gewissen regte sich leise in ihr.

Sie hatte Vogt nichts von Nicole Schierenstein erzählt und davon, dass sie jetzt sogar wusste, wo die Frau vom Fotoschnipsel zu finden war. Aber hatte er nicht gleich zu Beginn ihres zufälligen Treffens mehr als deutlich gemacht, dass er über den Neumann-Fall nicht sprechen wollte? Dass Pamela ihm auf den Kopf zugesagt hatte, dass die Alibis von den beiden Verdächtigen, Winter und Klappert, geplatzt waren, hatte ihn ja ziemlich gewurmt.

Trotzdem. Hätte sie nicht vielleicht doch ein Wort fallen lassen sollen und …

Abrupt blieb sie stehen.

Da war sie! Die Verbindung, wegen der ihr die Adresse so bekannt vorgekommen war. Es war kein Erstgespräch bei der Kundschaft gewesen, die sich dann doch für jemand anderen entschieden hatte. Als sie am Morgen nach dem Mord Markus Klappert im Klub getroffen und ihn danach gefragt hatte, ob Neumann in der Nähe des Klubs gewohnt hatte, hatte er es erwähnt.

Sie hatte es nur fast wieder vergessen, weil ihr die Info zu Neumanns Epilepsieerkrankung so schwerwiegend erschienen war.

Sprockhövel, Hohe Egge, hatte Markus Klappert gesagt.

Peter Neumann hatte in derselben Straße wie Nicole Schlierenstein gewohnt.