Der Fotoklub kam Pamela mittlerweile vor wie ihr zweites Zuhause. Sie stellte die Putzbox ab und hängte ihre leichte Jacke an die Garderobe.
Diesmal ging sie erst durch alle Räume, um nicht wieder eine böse Überraschung zu erleben. Niemand da.
Das Polizeiflatterband versperrte immer noch die Tür zum Studio. Weil sie ja im Büro auch erst am Samstag noch ein Großreinemachen veranstaltet hatte, würde sie heute im gesamten Klub bestimmt eine Stunde weniger brauchen.
Bevor sie die Tücher und das Putzmittel aus der Box kramte, betrachtete Pamela ganz genau das Plakat mit den aktiven Klubmitgliedern. Also zumindest denen, die noch unter den Lebenden weilten. Jemand hatte unter das Bild von Peter Neumann eine kleine schwarze Schleife auf den Rahmen geheftet. Sie wirkte auf den ersten Blick wie eine mutierte Stubenfliege und verdeckte jetzt den Titel Erster Vorsitzender.
Daneben lächelte der gute Klappert in die Linse. Sie war wirklich froh, dass er durch diese dienstägliche Foto-Nachhilfe wieder ein Alibi hatte. Irgendwie hätte es ihr leidgetan, wenn er in Handschellen abgeführt worden wäre.
Bei Winter hielt sie sich ein wenig länger auf. Was für ein unsympathischer Kerl. Aber wenn sie Ahsen glauben durfte, sprach gerade diese Antipathie dagegen, dass er der Täter war. Zumindest hatte der Kommissar nicht geleugnet, als sie gemutmaßt hatte, dass sein Alibi geplatzt sei.
Nach Winter nahm sie alle Frauen scharf ins Visier. Aber sie konnte bei keiner auch nur entfernte Ähnlichkeiten mit Nicole Schlierenstein entdecken.
Da fiel ihr etwas ein, und sie marschierte hinüber ins Büro. Hatte Klappert nicht gesagt, dass es neue Anmeldungen gab, die er noch in die digital geführte Liste einfügen musste?
Wo waren die Papierbögen dazu?
Sie brauchte nicht lange zu suchen: Im Ablagekorb fand sie die Zettel unter einem kleinen Stapel Rechnungen, die mit einer Büroklammer zusammengeheftet und mit einem Fragezeichen-Post-it versehen worden waren.
Doch als sie die Anmeldebögen sorgfältig durchsah, fand sie auch dort keinerlei Verbindung zu der jungen Lehrerin.
Nein, ihr Gefühl hatte sie von Anfang an in die richtige Richtung geführt: Der Fotoklub war nicht die Verbindung zwischen Nicole Schlierenstein und Peter Neumann. Die Verbindung war die Straße, in der sie beide zu Hause waren.
Aber wie sollte sie herausfinden, welche Art von nachbarschaftlichem Verhältnis die beiden miteinander geteilt hatten? Einfach hinfahren und fragen kam natürlich nicht infrage.
Nachdenklich legte Pamela die Anmeldungen wieder in den Korb zurück und drapierte die Rechnungen so darüber, wie sie vorher auch gelegen hatten. Da summte ihr Handy, das sie sich in die Rücktasche ihrer Jeans gesteckt hatte. Sie fingerte es heraus und sah aufs Display.
»Hallo, Bernd«, begrüßte sie ihre neue Bekanntschaft.
»Servus! Ich stör doch nicht?«
»Ich bin auf der Arbeit, aber hier ist grad keiner. Also hab ich kurz Zeit«, teilte sie ihm mit.
»Super! Also, ich bin auch im Büro, mache nur grad eine kleine Pause und dachte so bei mir: Jetzt rufst du mal die Pamela an und fragst sie, ob sie am Samstagabend schon was vor hat.«
Sie grinste. »Hat sie nicht.«
Sein kleiner Triumphschrei brachte sie dann endgültig zum Lachen.
»Leider hab ich erst etwas später Zeit. Da läuft so ein Workshop, an dem ich teilnehmen muss, bei meinem neuen Vorgesetzten.« Er senkte die Stimme. »Ich hab ja die Befürchtung, dass er ein schrecklicher Fachidiot ist, aber man soll die Hoffnung ja nicht aufgeben. Ich könnte also erst so um acht?«
»Perfekt!«
»Wollen wir schick essen gehen?«
Sie überlegte kurz. »Hm, samstags ist immer Mutter-Tochter-Tag. Da gönnen wir uns immer was Leckeres. Also kein guter Tag fürs Auswärtsessen. Aber wie wäre es mit einem gemütlichen Abend in der Eckigen Kneipe?«
»Bin dabei!«
»Dann bis Samstag.«
»I froi mi!«
Sie schmunzelte noch, während sie das Handy wieder in der Jeanstasche verstaute.
Als sie sich zur Tür wandte, fiel ihr Blick auf ein Bild, das in einem teuer wirkenden Rahmen am Aktenschrank lehnte.
Das war bei ihrer kurzen Visite zur Büroreinigung am Samstag noch nicht dort gewesen, da war sie sicher. Interessiert trat sie näher und betrachtete es genau.
Auf einem auf Hochglanz polierten, jedoch uralt wirkenden Holztisch mit Astlöchern und wunderschöner Maserung lagen neben einer in einer Messinghalterung brennenden Kerze ein aufgeschlagenes Buch und darauf eine Drahtgestellbrille.
Sonst nichts.
Und trotzdem wirkte das Bild in seiner Ganzheit vollkommen.
Unten am Rahmen klebte ein kleines Schild, auf dem zu lesen war:
Gleich zurück
Peter Neumann
1. Preis
Das war also das Foto, von dem Klappert und Gundula Schneid gesprochen hatten und das Klappert von der Ausstellung in Pusemuckel abgeholt hatte.
Hm. Pamela hatte sich nie eingebildet, etwas von Kunst zu verstehen. Aber sie musste sagen: Dieses Bild hatte wirklich etwas.
Seufzend richtete sie sich wieder auf. Aber was nutzte der erste Preis dem Fotografen, wenn er jetzt irgendwo in der Gerichtsmedizin in einem Eisschrank lag? Und was nutzte ihr die Erkenntnis, dass Neumann und Nicole Schlierenstein in derselben Straße wohnten, wenn sie keinen blassen Schimmer hatte, was die beiden so miteinander zu tun gehabt hatten?
Während Pamela sich langsam in ihrem üblichen Rhythmus vorwärtsarbeitete, Teeküche, Spülmaschine, Oberflächen, wuchs in ihr nach und nach ein Entschluss. Dieser Entschluss wurde zu einem Plan. Und den, das war ja wohl klar, musste sie dringend mit ihren Freunden besprechen.
»Ich bin so aufgeregt, ich mach mir gleich in die Hose«, flüsterte Ahsen.
»Solange wir nicht einfach da reinmarschieren, kann doch nichts passieren«, versicherte Totti ein wenig großspurig.
»Aber genau das habe ich doch vor«, erinnerte Pamela ihn.
Ahsen wimmerte.
Es war Mittwochnachmittag, kurz nach fünf. Sie saßen zu dritt in Tottis heiligem Opel Manta, den er ebenso wie seine Lieblingsmusik und sein Outfit aus den Neunzigern ins neue Jahrtausend gerettet hatte.
Dieses butterblumengelbe Auto war wahrscheinlich nicht die geeignetste Wahl, um jemanden unauffällig zu beschatten. Aber Totti hatte behauptet, Pamelas Wagen sei zu klein für sie alle drei. Und Ahsen besaß keinen eigenen fahrbaren Untersatz, sondern nutzte für notwendige Fahrten eines der Taxis des Familienbetriebs Özdil & Söhne, mit dem ihr Schwiegervater, Tarik und seine Brüder im Stadtgebiet das Monopol innehatten.
»Bist du sicher, dass diese Nicole Schlierenstein nicht doch Mitglied im Fotoklub ist?«, hakte Totti noch einmal nach.
»Ja, genau, kann doch sein. Du könntest einfach den Klappert fragen, und wir müssen hier nicht Kopf und Kragen riskieren«, schlug Ahsen vor, die auf dem Rücksitz immer kleiner zu werden schien.
Pamela schüttelte den Kopf. »Leute, ich hab euch doch gesagt: Heute Morgen hab ich so lange auf das Plakat im Klubflur geglotzt, dass mir schon die Tränen kamen. Sie ist da nicht drauf. Und neu angemeldet ist sie auch nicht. Die Verbindung zu Neumann ist die Straße hier. Sie wohnt da.« Sie deutete auf das Bruchsteinhaus, das erste in der schmalen Siedlungsstraße. »Und Neumann hat da gewohnt.« Es war ein kleines Haus auf der anderen Seite ein wenig die Straße hinunter. »Ich hab heute Morgen extra noch in die Klubliste geguckt wegen der Hausnummer.«
Sie sahen zwischen den beiden Häusern hin und her.
»In Sichtweite«, erklärte Totti dann mit Kennermiene.
Pamela nickte. »Die beiden müssen sich gekannt haben.« Sie vertraute einfach auf ihr Bauchgefühl.
»Aber du kannst doch jetzt nicht einfach da rein und sie danach fragen«, wandte Ahsen ängstlich ein.
»Das tu ich doch auch nicht«, beruhigte Pamela sie. »Dafür haben wir doch den Plan.«
»Und wenn sie dir das nicht abnimmt?«, fragte Totti, jetzt auch besorgt. »Ich sach ma so, was wir uns da ausgedacht haben, das ist doch irgendwie … unwahrscheinlich.«
»Quatsch! Das kommt nur drauf an, wie überzeugend man ist. Und ich kann sehr überzeugend sein!«
»Stimmt«, sagte Ahsen und kicherte nervös. »Weißt du noch, wie du den Job in der Kanzlei an Land gezogen hast? Die wussten hinterher gar nicht mehr, wieso sie uns nicht schon längst engagiert haben.«
»Siehste.«
»Aber wenn sie dir das nicht abnimmt?«, wiederholte Totti.
»Passt mal auf.« Pamela zog ihr Handy aus der Tasche und öffnete die Kontakte. »Hier. Die Nummer vom Kommissar. Falls ich in … hm, einer Stunde nicht wieder hier bin …«
»Eine Stunde?«, quietschte Ahsen. »Da kann die dich schon längst zerstückelt und in Müllsäcken zum Wald rausgeschleppt haben.«
»Aber fünf Minuten wären jetzt auch zu kurz«, meinte Pamela leicht resigniert. Ahsen mochte die weltbeste Fernsehkrimiexpertin sein, aber in der Praxis fehlte ihr der Schmiss.
Totti drehte sich auf dem Fahrersitz zu ihnen. »Der Wald! Das ist die Lösung!«, platzte er heraus. »Der Garten ist doch total verwildert und geht ja quasi in den Wald über. Ahsen und ich schleichen uns von hinten ran. So nah es geht ans Haus. Und du guckst einfach, dass ihr euch irgendwie an ’nem Fenster oder Terrassentür oder so aufhaltet, sodass wir dich die ganze Zeit sehen können. Falls sie auf dich losgeht, sind wir zur Stelle, und ich kann notfalls Alarm schlagen. Gib mal her!« Er wischte über sein eigenes Smartphone und speicherte die Nummer des Hauptkommissars ab.
»Und wenn sie uns im Garten sieht und mit dem Messer auf uns …«
»Ahsen!«, unterbrach Pamela die Freundin. »Denk an unseren Deal bei Winter. Der hat doch auch geklappt, obwohl du vorher so Muffe hattest.«
»Aber nur ganz knapp«, erwiderte Ahsen mit blitzenden schwarzen Augen.
»Manchmal muss man im Leben über seinen Schatten springen«, versuchte Pamela es mit einer Herausforderung.
»Du hast gut reden. Deine Leia ist schon vierzehn, die ist sowieso bald flügge und kann notfalls ohne dich zurechtkommen. Aber meine Kinder sind noch so klein«, wandte Ahsen ein.
»Hey, dir wird nichts passieren. Ich bin doch bei dir«, mischte Totti sich ein. Pamela und Ahsen sahen kurz ihn und dann sich gegenseitig an.
»Eigentlich müsste ich ja wissen, wie das geht. Bei den ganzen Krimis, die ich immer gucke«, lenkte Ahsen ein.
Pamela drehte sich um und drückte ihrer Freundin, die zwischen den Vordersitzen hing, einen Schmatzer auf die Wange. »Na also! Dann los, ihr zwei! Schickt mir eine Nachricht, wenn ihr ein gutes Versteck im Garten gefunden habt.«
Totti stieg aus, klappte den Sitz vor und half Ahsen hinaus.
Ahsen ließ daraufhin seine Hand nicht los. Ob aus Angst vor dem eigenen Tun oder in Anbetracht einer gut durchdachten Tarnung konnte Pamela nicht erkennen. Sie sah den beiden nach, der kleinen, sexy runden Ahsen mit ihrem schwarzen Wallehaar und dem großen, schlaksigen Totti, die wie ein ungleiches, aber frisch verliebtes Paar die Straße hinuntergingen und schließlich im angrenzenden Waldstück verschwanden.
Sie selbst sah immer wieder unauffällig zum Bruchsteinhaus hinüber. Ein kurzer Blick aufs Klingelschild hatte vorhin ergeben, dass Nicole Schlierenstein in der Erdgeschosswohnung wohnte. Doch obwohl keine Gardinen vor den zwei Fenstern hingen, war dort nichts zu sehen. Keine Gestalt, die von peinigenden Schuldgefühlen getrieben auf und ab lief. Und schon gar kein junges Liebespaar, das sich wild knutschend die Klamotten vom Leib riss.
Nach ein paar Minuten wurde Pamela unruhig. Während sie im Kopf immer wieder die Sätze wiederholte, die sie zusammen mit Totti und Ahsen als Gesprächseinleitung ausgedacht hatte, sah sie in immer kürzeren Abständen auf ihr Handy.
Schließlich verkündete ein leises Zwitschern den Eingang einer Nachricht.
Totti schickte das Daumenhoch-Emoji.
Pamela räusperte sich und stieg aus. Ihre Beine fühlten sich seltsam steif an, und sie hüpfte beim Gehen ein paarmal energisch, um die Muskeln zu lockern.
Am Haus angekommen, drückte sie sofort auf den Klingelknopf neben dem Namen N. Schlierenstein, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Innerlich zählte sie bis sieben, dann wurde die Tür geöffnet.
Die junge Lehrerin aus Eisdiele und Wald stand vor ihr.
Sie trug denselben Sommerrock wie am Samstag, eine bunte Bluse und nur eine Spur Make-up mit rosa schimmerndem Lippenstift.
Sie sah tatsächlich aus wie eine wunderhübsche Frischverliebte. Mit einer Ausnahme: In der Hand hielt sie ein gewaltiges Messer. Erfreulicherweise jedoch nicht bedrohlich nach vorn gerichtet, sondern einfach so locker in der Hand, als habe sie gerade etwas damit vorgehabt und nach dem Klingeln einfach vergessen, es irgendwo abzulegen.
»Hallo?«, sagte sie, mit diesem Fragezeichen am Ende, das auf höfliche Art wissen wollte, was Pamela auf ihrer Türschwelle zu suchen hatte.
»Hallo. Ich bin Pamela«, sagte die, und erst mal nichts weiter. Das Messer hatte sie aus dem Takt gebracht. Sie musste sich kurz sammeln, um sich an die richtigen Worte zu erinnern. Dabei hatte sie gerade im Auto noch gedacht, sie könnte die Sätze so auswendig wie früher in der Schule dieses dämliche Gedicht von Schiller.
»Pamela?«, wiederholte Nicole Schlierenstein.
»Ja. Du bist doch Nicole?«
»Ähm … ja, aber …?«
»Ich bin Milans Patentante«, setzte Pamela hinzu. »Er hat doch bestimmt mal von mir erzählt?«
Nicole Schlierenstein erblasste so sehr, dass sich ihre Sommersprossen wie kleine Dreckspritzer von ihrer zarten Haut abhoben.
»Ich … wer? Milan? Nein. Nein, hat er nicht.« Diese Verwirrung war gewollt und erwünscht. Nur wenn Nicole Schlierenstein so durcheinander war, dass sie keinen klaren Gedanken vor den anderen bekam, würde sie auf die Geschichte reinfallen.
»Nicht?« Pamela gab sich enttäuscht. Vielleicht auch ein bisschen traurig. »Hm, na ja, vielleicht war es ihm etwas peinlich, dass wir so ein enges Vertrauensverhältnis haben. Ich meine, ich könnte ja seine Mutter sein. Obwohl …« Sie sah Nicole Schlierenstein intensiv an, und deren Farbe wechselte von fahler Blässe zu schamhaftem Rot.
»Keine Angst, ich weiß Bescheid.« Pamela tätschelte den nackten Unterarm. »Aber vielleicht sollten wir lieber in die Wohnung …?« Nicken zur offen stehenden Wohnungstür.
»Oh, ähm … ja, sicher …«
Nicole ging voraus, und Pamela schloss die Haustür hinter sich. Mit geübtem Auge sah sie sich in der kleinen Wohnung um. Alles war sehr aufgeräumt und sauber. Kein Staubfitzelchen auf den Oberflächen, keine unnötigen Stehrümmchen, lediglich ein Stapel Klassenhefte lag ordentlich gestapelt auf einem Sideboard. Hier gäbe es für sie nichts zu tun.
Pamela nahm sofort Kurs auf das breite Fenster, das samt Tür zu der kleinen Terrasse und dem wirklich wilden Garten hinausging. Ihr Blick huschte kurz über die Büsche und Bäume, doch Ahsen und Totti waren nicht zu sehen. Stattdessen wurde ihre Aufmerksamkeit von einer hübsch gedeckten Kaffeetafel auf der Terrasse angezogen. Vier Teller, Tassen, eine einstöckige Porzellanetagere mit einer prächtigen Torte, die aus der Bäckerei ihres Onkels stammte – dafür hatte Pamela ein Auge.
Aha, für die Buttercreme war also dieses Monstermesser bestimmt, das Nicole immer noch in der Hand hielt. Hier stand offenbar ein lustiges Treffen kurz bevor. Verflixt. Gut gelaunte Kaffeegäste, die plappernd in die Wohnung schwirrten, konnte sie jetzt gar nicht gebrauchen. Wenn sie unterbrochen würden, wäre alles zu spät, dieses Gespräch konnte sie nicht auf einen anderen Zeitpunkt verschieben. Denn natürlich würde Nicole gleich Milan nach seiner Patentante Pamela fragen, und die beiden würden aus allen Wolken fallen.
Also beschloss Pamela, ihren Plan den Umständen anzupassen. Der Plan, der vorgesehen hatte, dass sie ihr Opfer erst ein wenig einspinnen wollte, mit freundlichen Worten und vertrauenerweckenden Gesten.
»Milans Glück liegt mir wirklich sehr am Herzen«, fiel sie daher mit der Tür ins Haus. Doch als sie Luft holte, um fortzufahren, kam Nicole ihr zuvor. Vom ersten Schrecken schien sie sich erholt zu haben und wirkte plötzlich viel selbstsicherer als gerade an der Tür.
»Pamela!«, sagte sie und streckte kurz die messerfreie Hand aus, als wolle auch sie Pamela berühren, traue sich im letzten Augenblick aber nicht, diese intime Geste auszuführen. »Es ist alles in Ordnung mit Milan und mir. Wahrscheinlich weißt du es noch nicht?«
»Was denn?«
»Er hat es seinen Eltern gesagt.« Die Worte purzelten so schnell aus Nicoles rosa geschminktem Mund, dass klar war: Es war auch für sie noch eine neue Sache. »Gestern Abend. Und … tja, es gab natürlich nicht gerade großen Jubel, aber sie haben doch verstanden, dass er und ich … dass wir … es wirklich ernst meinen. Wir wollen uns gleich treffen. Sie kommen zusammen her. Sie wollen mich kennenlernen, natürlich. Aber wir wollen auch darüber reden, wie wir mit der Situation umgehen sollen.«
Jetzt war es an Pamela, etwas verdattert zu wiederholen:
»Mit der Situation?«
»Ja, Milan ist zwar schon volljährig, aber trotzdem muss ich mit einer Anklage rechnen, wenn unsere Beziehung bekannt wird. Wegen Missbrauchs der Machtposition mit Schutzbefohlenen. Ich versteh mich mit der Rektorin gut, aber sie kann bei so einer Sachlage gar nicht anders, als mich der Schule zu verweisen. Natürlich kann ich um Versetzung bitten, aber das dauert seine Zeit. Über all das wollen wir reden. Und egal, für welchen Weg wir uns entscheiden, es ist so unglaublich erleichternd, zumindest vor unseren wichtigsten Menschen nicht mehr lügen zu müssen. Deswegen bist du doch hier, oder? Weil du weißt, wie sehr Milan darunter gelitten hat.«
Pamela nickte heftig und möglichst überzeugend. »Ganz genau! Genau deswegen bin ich hier! Und ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass ihr das auf die Reihe gekriegt habt! So eine Belastung. Kurz vor den Prüfungen«, fabulierte sie ins Blaue hinein. »Mir fällt echt ein Stein vom Herzen.
Nicole sah sie mit weichem Blick an, der davon sprach, dass sie sich gar keine bessere Patentante für ihren jungen Liebsten hätte wünschen können. Pamela fühlte sich fast ein wenig geschmeichelt. Aber die Zeit drängte. Sie musste das Gespräch auf Neumann bringen.
»Nur eine Frage habe ich noch. Eure heimlichen Treffen …«
»Ach herrje!«, seufzte Nicole und fuhr sich mit dem Handrücken der Hand, die immer noch das Messer hielt, über die Stirn. »Was hätten wir auch tun sollen? Du weißt ja sicher, dass Milan … also …«, ein wenig verlegen suchte sie nach Worten, »er hat sich quasi mit dem ersten Tag in mich verliebt, als ich in die Schule kam. So was passiert gar nicht mal selten. Deswegen habe ich natürlich nicht reagiert. Ich meine, er war nicht mal volljährig. Aber dann lernt man sich ja doch näher kennen. Leistungskurs. Exkursionen. Und was ich für eine der üblichen Schülerschwärmereien gehalten hatte, wurde irgendwie … tiefer, war beständig. Milan wurde achtzehn, dann neunzehn. Er machte nie eine von diesen dummen Geschichten, die verknallte Postpubertäre so draufhaben. Er ist so anders als die anderen. Reifer, klug, erwachsen. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, wenn man so oft miteinander zu tun hat. Und dann kam diese einwöchige Exkursion vor den Weihnachtsferien …« Hier brach sie wieder ab und errötete erneut. Süß irgendwie. Wie alt mochte sie sein? Gerade Anfang dreißig? »Davon weißt du wahrscheinlich?«
»Na klar«, log Pamela nachsichtig lächelnd. »Aber um noch mal auf eure heimlichen Treffen zu kommen …«
»Was hätten wir denn tun sollen? Wir konnten einfach nicht anders.« In Nicoles Miene erschien der Anflug von der Verzweiflung, die sie wahrscheinlich empfunden hatte, als ihr klar wurde, dass sie einen Schüler liebte. »Aber genauso war mir bald klar, dass es so nicht weitergehen konnte … Und … Und da habe ich die Beziehung wieder beendet.«
Dieser Schatten auf ihrem Gesicht. Pamela war sicher: Da war noch etwas anderes. Etwas, das sie noch auf eine andere Art quälte. Sie schielte auf den Kuchentisch auf der Terrasse. Sicher hatte sie nicht mehr viel Zeit. Na, los doch!
»Du bist eine kluge Frau«, sagte sie. »Dir muss doch vorher klar gewesen sein, dass ihr nicht Händchen haltend über den Schulhof werdet gehen können. Bestimmt hast du doch vorher schon etliche Male darüber nachgedacht, wie so eine Beziehung aussehen würde. Trotzdem hast du dich darauf eingelassen. Und dann nach kurzer Zeit ausgeknipst? Das verstehe ich nicht.«
Mit einem Mal verschloss sich die Miene vor ihr. »Wie meinst du das?«, fragte Nicole mit gepresster Stimme. »Natürlich wollte ich Milan den ganzen Kummer ersparen. Diese Heimlichkeiten vor seinen Eltern, vor seinen Freunden.«
»Gab es da nicht noch einen anderen Grund?«, hakte Pamela vorsichtig nach.
Nicole sah sie an. In ihren Augen schwammen Tränen. Dieser Tag musste es für sie echt in sich haben. »Ein anderer Grund? Ich … ich weiß wirklich nicht …«
Wie die junge Lehrerin händeringend vor ihr stand, war Pamela mit einem Mal hundertprozentig sicher: Sie war keine Mörderin. Nicole war eine Frau, die von ganzem Herzen liebte und die nur deswegen gehandelt hatte, weil sie den, für den sie so viel empfand, schützen wollte.
Pamela ließ Plan Plan sein und sagte: »Nicole, ich muss dir was sagen: Ich bin zwar Pamela. Aber Milan hat keine Patentante mit diesem Namen.«
Die junge Frau starrte sie an. Langsam hob sie die Hand und deutete auf Pamela. Dass sie dabei immer noch das Messer in der Hand hielt, gab dem Ganzen einen filmreifen Anstrich. Aber sie selbst schien es gar nicht zu bemerken.
»Du bist nicht Milans Patentante?«
»Nein. Ehrlich gesagt kenne ich ihn gar nicht. Ich bin nicht wegen ihm hier, sondern wegen einer ganz anderen Sache … Sagt dir der Name Peter Neumann etwas?«
Nicoles Gesicht verlor erneut alle Farbe. Sie wurde leichenblass.