»Woher weißt du von Peter Neumann?«, flüsterte Nicole erschüttert. »Wer bist du überhaupt?«
»Ich heiße wirklich Pamela. Pamela Schlonski. Ich bin die Reinigungskraft im Fotoklub Linsenkunst in Hattingen. Und ich hab Neumann gefunden, an dem Morgen, nachdem er umgebracht worden ist.«
Nicole holte tief Luft und kniff kurz die Augen fest zusammen. Dann riss sie sie wieder auf, und darin stand nichts als blanke Panik.
»Ich hab damit nichts zu tun!«, verteidigte sie sich und fuchtelte dabei wild mit dem Messer herum. »Das musst du mir glauben, ehrlich. Ich hab ihn nicht mal angerührt. Ich wollte doch nur mit ihm sprechen, ihm alles erklären. Das Ganze musste doch ein Ende haben. Und!« Sie hob die Hand mit dem Messer in die Höhe. »Und ich hätte ihm gesagt, dass ich notfalls zur Polizei gehen werde, wenn er nicht aufhört. Das alles war doch vollkommen absurd. Das musste er doch einsehen. Aber als ich ankam, da …« Sie schluckte. »Da war er schon tot.«
In diesem Augenblick wurde die angelehnte Terrassentür so heftig aufgestoßen, dass sie mit einem gewaltigen Krach gegen den Beistelltisch schlug, der dort neben einem hübschen Ohrensessel stand. Der Tisch fiel um, und die darauf stehende Blumenvase mitsamt dem kleinen bunten Strauß fiel zu Boden.
»Hände hoch! Wir sind bewaffnet!«, brüllte Totti und zielte mit einer Waffe auf Nicole Schlierenstein.
Die kreischte auf und riss die Hände hoch.
»Messer weg!«, donnerte Ahsen mit einer Stimme, die außer ihren springlebendigen Kindern nicht oft jemand zu hören bekam. Mit wild entschlossenem Blick hielt sie einen dicken Ast in die Höhe.
Das Messer polterte aus Nicoles Händen zu Boden.
»Stopp!«, rief Pamela, ebenfalls mit erhobenen Händen. »Es ist alles in Ordnung!«
»Aber das Messer!«, knurrte Totti, wenig überzeugt.
»Sie wollte dich umbringen!«, zischte Ahsen angriffslustig.
»Quatsch! Das ist ’n Tortenmesser. Für die Buttercreme da draußen!« Auf ihren Wink hin sahen alle durch das große Fenster neben der Tür auf die gedeckte Kaffeetafel. »Wir haben uns nur unterhalten. Es ist alles okay. Nicole war das nicht mit dem Neumann.«
Es dauerte eine, zwei, drei Sekunden, bis die Botschaft bei ihren Freunden angekommen war. Dann ließ Totti die Waffe sinken. Ahsen senkte den armdicken Stock. Nicole atmete mit einem fiependen Geräusch aus.
»Du kannst … ähm …« Pamela griff nach einem Arm der jungen Frau und gab ihr zu verstehen, dass sie sie runternehmen konnte. Selbst atmete sie ein paarmal tief durch. Ein fröhliches Lächeln sollte ja auch bei Anspannung helfen.
»Tja, da sind wir also«, sagte sie dann munter und deutete auf ihre Leibgarde. »Das sind meine besten Freunde, Ahsen und Totti. Nimm es ihnen nicht krumm, dass sie hier so reingestürmt sind. Das Messer und so …«
Nicole wagte immer noch kaum, sich zu rühren. Sie starrte auf die Waffe in Tottis Hand.
»Ach so, ähm …« Ein wenig verlegen hielt er sie in die Luft, und nun war deutlich zu erkennen, dass es sich um eine Wasserpistole handelte. »Verkauf ich in meinem Kiosk. Sieht aus wie echt, oder? Die kommen gut an bei heißem Wetter.«
»Boah, wir dachten echt, hier passiert gleich der zweite Mord!«, platzte Ahsen heraus und lehnte den Ast an den Lesesessel. Erst dann kam sie näher.
»Hallo.«
Nicole nahm langsam die dargebotene Hand.
»Hallo.«
»Ich wink mal nur«, sagte Totti und tat es. »Besser, ich komm nicht weiter rein. Ich bin da draußen in irgendwas reingetreten.« Er zeigte seine eine Schuhsohle her, unter der tatsächlich ein ekliger Brei zu erkennen war. Deswegen stellte er nur vorsichtig die Schuhspitze auf den Dielenboden.
Dann entstand eine kurze Pause.
»Wieso …?«, begann Nicole dann.
Gleichzeitig fragte Ahsen: »Und du bist …?«
Und Pamela sagte: »Gut, dass ihr …«
Sie sahen sich an.
»Du zuerst!«, sagten sie wie aus einem Mund. Lachten auf, verstummten wieder.
Alle sahen Nicole an.
»Wieso kreuzt ihr zu dritt hier auf?«, wollte die mit immer noch zittriger Stimme wissen.
Ahsen und Totti blickten zu Pamela.
»Na ja, ich sach ma so: Der Fall interessiert uns eben«, meinte die.
»Aber wie kommt ihr denn auf mich?«, verlangte Nicole zu erfahren.
»Wir sind so was wie ein Expertenteam«, konnte Ahsen sich nicht verkneifen. Nachdem sie draußen im Auto Aufregungsinkontinenz angekündigt und im Gartengebüsch alle restlichen Nerven gelassen hatte, hatte der bewaffnete Sturm der Gefahrenzone sie offenbar mit Adrenalin geflutet, das sie nun größenwahnsinnig werden ließ. Nicole blinzelte verwirrt.
Pamela ignorierte Ahsens Einwurf und fuhr fort: »Ich hab doch den Neumann gefunden. Und bevor ich ihn da im Studio entdeckt habe, war ich in der Dunkelkammer. Da hab ich einen Fotoschnipsel aufgehoben und eingesteckt. Ich wusste da ja noch nicht, dass der wichtig sein könnte. Jedenfalls, auf diesem zerrissenen halben Foto, da waren eure Beine drauf, deine und die von Milan. Die Polizei war später sehr interessiert an dem halben Bild, hatte aber keine Ahnung, wem die Beine auf dem Foto gehören.«
»Und so wie die Beine aussehen, konnte man sich vorstellen, was da gerade obenrum so passiert«, kommentierte Ahsen, die ihre übliche große Klappe wiedergefunden hatte.
Nicole schluckte und biss sich auf die Unterlippe.
»Diese grauenvollen Fotos«, flüsterte sie. »Er muss mir ständig hinterhergeschlichen sein. Hat an allen möglichen Orten Aufnahmen von mir gemacht, ohne dass ich es wusste.«
»Auf dem abgerissenen Bild waren nur eure Beine drauf. Und du hattest einen Rock an. Dein Tattoo war deutlich zu erkennen, die aufblühende Rose«, erklärte Pamela weiter. »Und die hab ich ganz zufällig letzten Samstag in der Eisdiele gesehen … Ich wusste, dass du die Frau vom Foto sein musst, und bin dir in den Schulenburger Wald gefolgt. Entschuldige, tut mir echt leid. Das war nicht so nett.«
Nicole sah sie nachdenklich an. »Hätte ich an deiner Stelle wahrscheinlich auch getan. Offenbar bist du schon ganz schön in diesen Fall verstrickt.«
»Na ja, aber nach dieser Geschichte mit Neumann kommt es mir plötzlich echt schräg vor. Er hat dich richtig gestalkt, ne?«, wollte Pamela wissen.
Nicole nickte. »Ich wohne hier seit drei Jahren. Am Anfang dachte ich noch, er ist einfach ein netter Nachbar. Aber dann wurde er aufdringlich, wollte sich mit mir verabreden. Ich habe ihm klar zu verstehen gegeben, dass er bei mir nicht landen kann. Aber er hat einfach nicht aufgehört. Immer, wenn ich aus dem Haus bin, fühlte ich mich irgendwie beobachtet. Die Wohnung ist so schön, und ich war so happy, sie zu bekommen. Aber trotzdem habe ich vor zwei Monaten angefangen, mich nach etwas Neuem umzuschauen, weil ich mich wegen dieser Sache einfach nicht mehr wohlgefühlt habe. Und da bekam ich plötzlich per Mail diese Fotos …«
Sie brach ab und ballte die Hände zu Fäusten.
»Milan und du?«, mutmaßte Pamela.
Nicole nickte erneut.
»So ein Mistkerl!«, entfuhr es Totti und geriet prompt auf dem einen Bein aus dem Gleichgewicht.
»Wollte er Geld?«, fragte Ahsen, die wie gebannt an Nicoles Lippen hing.
»Nein. Er wollte, dass ich mich mit ihm … treffe …«
Kurzes Schweigen.
»Aber das kam natürlich nicht infrage«, entschied Pamela. »Womit hat er dir gedroht, wenn du nicht mitspielst?«
Die Lehrerin schluckte. »Andernfalls würde er die Bilder meiner Schule zuspielen. Und das würde mich meinen Job kosten. Wahrscheinlich auch mehr als das. Ganz davon abgesehen, was es für Milan bedeutet hätte.«
»Was hat er dazu gesagt?«, fragte Pamela.
»Milan? Oh, Gott, er weiß nichts davon. So emotional und impulsiv, wie er ist, wäre er wahrscheinlich bei Neumann aufgekreuzt und hätte ihn zur Rede gestellt. Nein, ich hab ihm nichts davon gesagt. Aber als Neumann keine Ruhe gab, dachte ich, es wäre besser, wenn ich die Beziehung beende. Dass Neumann vielleicht dann aufhört. Milan konnte das nicht verstehen. Er war vollkommen am Boden, es hat mir das Herz gebrochen.« Nicoles Augen schimmerten verdächtig.
»Milan ist impulsiv?«, wiederholte Pamela vorsichtig. »Was, wenn er doch irgendwie rausbekommen hat, dass Neumann dich zu erpressen versucht hat?«
Nicole schüttelte den Kopf. »Er wusste bestimmt nichts davon. Und er hat auch ganz sicher nichts mit dem Mord zu tun!«, setzte sie energisch hinzu. »Den Abend für das Gespräch habe ich Neumann deswegen vorgeschlagen, weil Milan auf Exkursion mit dem NaBu unterwegs war. In Hessen. Sie waren über Nacht weg.«
Pamela fiel ein Stein vom Herzen. »Und du?«
Nicole senkte den Kopf. »Ich war an dem Abend im Klub. Hatte das Treffen ja selbst vorgeschlagen. Aber ich wollte einen neutralen Ort, ein Café oder so was. Neumann sagte, im Fotoklub sei an dem Abend jede Menge los, und wir könnten uns trotzdem ungestört in seinem Büro unterhalten.«
»Tz, da hat er dich ganz schön reingelegt«, meinte Totti. »Dienstagabends ist da im Klub komplett tote Hose.«
»Ja, das habe ich dann auch gemerkt. Es war niemand da.« Nicole schwieg einen Moment, offenbar in die Erinnerung an diesen Abend versunken. »Ich war zu spät. Milan hatte angerufen, und mir war keine Ausrede eingefallen, um das Telefonat abzukürzen. Er hat gemerkt, dass ich nervös war, und wollte irgendwie gar nicht auflegen. Aber als ich dann am Klub ankam, waren die Haustür und die Tür in die Etage nur angelehnt. Das hatte Neumann erwähnt. Hatte gemeint, ich brauche einfach nur hochkommen. Und dann in diesem riesigen Flur mit den Bildern an den Wänden, da stand die Tür zum Labor offen. Das rote Licht war an und schien in den Flur. ›Herr Neumann?‹, hab ich gerufen. Aber es hat keiner geantwortet. Deswegen bin ich zuerst in die Dunkelkammer.« Sie hob die Hände und verbarg das Gesicht darin. »Da waren so viele Fotos. Dutzende. Alle an den Leinen aufgereiht. Von mir allein. Als wollte er mir irgendwie zeigen, was für tolle Aufnahmen er gemacht hat. Aber auch etliche von Milan und mir. Ich hätte schreien können. Bin wieder rausgestolpert aus dem Raum. Dann hab ich, glaube ich, noch mal nach Herrn Neumann gerufen. Aber wieder keine Antwort. Und weil die Tür auch nur angelehnt war, bin ich dann rüber ins Studio gegangen …« Ein leises Schluchzen entfuhr ihr. »Und da saß er. In diesem Stuhl. Ich … ich wusste sofort, dass er tot war. Seine Augen …« Sie brach endgültig ab.
Pamela wusste genau, was sie meinte.
»Und dann?«, wollte Ahsen gebannt wissen.
Nicole hob die Hände. »Ich wollte einfach nur wegrennen, wollte nur raus da. Aber dann dachte ich: ›Wenn jemand die Fotos sieht!‹ Und da bin ich wieder in die Dunkelkammer und hab, so schnell ich konnte, alle Fotos von der Leine gerissen. Mir war so übel. Ich dachte, ich muss mich übergeben. Bin rausgestürzt, ins Auto und weg.« Verzweifelt sah sie ihre drei ungebetenen Gäste an. »Was hätte ich machen sollen? Wenn ich die Polizei gerufen hätte, wäre doch meine Beziehung zu Milan rausgekommen. Genau das, was wir doch verhindern wollten.«
Ahsen seufzte. »Als wir gerade so alle auf einmal losgeredet haben, wollte ich eigentlich fragen, ob du es auch wirklich nicht gewesen bist. Aber nach dieser Geschichte jetzt … also, ich glaub dir!«
Pamela sah ihre Freundin an. So war das also mit den festgeschriebenen Regeln in Kriminalfällen, in denen laut Ahsen grundsätzlich diejenigen den Mord begangen hatten, die man selbst sympathisch fand? Hm.
»Und was hast du gerade sagen wollen?«, wandte Ahsen sich an sie, den ironischen Blick offenbar fehlinterpretierend.
Pamela blinzelte.
»Oh, ich glaube, ich wollte nur sagen: Gut, dass ihr nicht die Polizei gerufen habt!«
Ahsens Lächeln verschwand. Sie blickte zu Totti. Der wiederum verzog verlegen den Mund.
»Ich sach ma so …«, brummte er.
»Nee, ne? Verdammt!« Rasch wandte Pamela sich an Nicole: »Mann, das tut mir jetzt leid.«
»Was denn?«, wollte die wissen.
In dem Moment huschten am Terrassenfenster zwei Gestalten vorbei, und gleichzeitig klingelte es an der Tür.
»Polizei!«, rief jemand. »Geben Sie sich zu erkennen!«
Totti, der als Nächster an der Tür stand, riss die Arme in die Höhe. Ahsen schlüpfte blitzschnell in die Deckung eines dicht belaubten Ficus benjamina, und Nicole sank mit plötzlich weichen Knien auf einen Stuhl am nahen Tisch.
»Hauptkommissar Vogt?«, rief Pamela, die eine der beiden Gestalten in der Terrassentür an der aufrechten Haltung und dem dunklen Haar bereits erkannt hatte. »Alles in Ordnung bei uns. War ein Fehlalarm. Ich bin’s, Pamela Schlonski!«