Pamela schloss die schwere eichene Tür auf und ging hinein.
Die große Eingangshalle des Fotoklubs lag menschenleer vor ihr. Nur die auf den Fotos an den Wänden festgehaltenen Gesichter blickten leblos zu ihr her. Trotzdem schienen die Räume auf eine merkwürdig angespannte Weise zu atmen. Leise, heimlich, wie zum Sprung bereit. Ihre Arme überzogen sich mit einer feinen Gänsehaut.
Sie stellte die Putzbox unter der Garderobe ab, wo bereits eine einzelne Jacke hing. Eine lässige Outdoormarke, bequem und praktisch.
Ein paar Putztücher mit den Zipfeln in die Jeanstasche geklemmt, den Schrubber in der einen Hand, begab Pamela sich auf ihre übliche Rundtour.
Weil sie gestern erst hier gewesen war, gab es in der Teeküche nicht viel zu tun. Nur ein paar Tassen, die es von dem Tablett nicht in die Spülmaschine geschafft hatten. Pamela räumte sie ein und ging weiter.
Am Studio hing nach wie vor das Flatterband.
Die Tür zur Dunkelkammer war geschlossen. Sie klopfte und öffnete dann, als keine Antwort kam.
Hier sah alles ordentlich aus. Der stechende Geruch sagte ihr jedoch, dass das Labor vor Kurzem benutzt worden war.
Nicole Schlierenstein fiel ihr ein. Wie musste es sich angefühlt haben, hier hereinzukommen und all die Fotos zu sehen?
Pamela schloss die Tür wieder.
Dann holte sie tief Luft. Die Räume schienen mit ihr einzuatmen. Sie schob die doppelflügelige Tür zum Besprechungssaal ein Stückchen auf.
Der große Raum lag im Dunkeln. Schon von der Straße aus hatte sie gesehen, dass die Rollläden heruntergelassen waren.
Die einzige Lichtquelle stammte von einer einzelnen Kerze, die auf einem der Tische links in der Ecke brannte, der mit einem schwarzen Tuch bedeckt war.
»Jetzt haben Sie mich aber erschreckt«, sagte Thomas Ruh.
Er war gerade dabei gewesen, ein Kamerastativ auf den Tisch mit der Kerze auszurichten.
»Oh, tut mir leid«, entschuldigte Pamela sich. »Ich hab nicht daran gedacht, dass Sie donnerstags immer hier sind.«
Er lächelte nachsichtig.
»Macht doch nichts. Aber was tun Sie hier? Wäre nicht gestern Ihr Tag zum Reinigen gewesen?«
Sie winkte ab. »Ach, Herr Klappert ist da nicht so pingelig. Er meinte, ich kann kommen, wann es mir passt. Hauptsache, am Wochenende, wenn es hier hoch hergeht, ist alles sauber.«
Ruh nickte. »Ja, der Markus. Der lässt allen seine Freiräume.«
Pamela trat näher und warf einen Blick auf die kleine Inszenierung, die Ruh neben der Kerze drapiert hatte: eine Schale mit überreifem Obst, das bereits diverse braune Stellen aufwies, und eine Vase mit einem welken Blumenstrauß, der schon bessere Tage gesehen hatte.
»Uh, wie morbid«, machte sie anerkennend.
»Gefällt es Ihnen?«, wollte er ungewohnt lebhaft wissen.
»Ist mal was anderes.«
Ruh nickte zustimmend. »Ich hätte gern ein paar Fliegen, die auf der Birne herumkrabbeln. Oder eine Motte, die an der schäbigen Rose da hängt. Aber leider ist mir bisher nicht eingefallen, wie ich die Tierchen dazu überreden soll.«
Pamela lachte mit ihm zusammen. »Ein Spinnennetz wäre auch schön«, bemerkte sie.
Er legte den Kopf schief und betrachtete die Sachen auf dem Tisch. »Sie haben recht. Es würde eine Verbindung schaffen zwischen der Obstschale und dem Strauß.«
»Die Idee können Sie gern klauen. Aber die Umsetzung ist Ihre Sache.«
Er sah sie eine Sekunde zu lang an.
Pamela tat so, als sei ihr nichts aufgefallen. »Der Hammer, wie viel Licht so eine einzelne Kerze machen kann, oder?«, sagte sie und deutete mit dem Kopf darauf.
Ruh wiegte den Kopf. »Für unsere Augen schon. Für eine Kamera sieht es noch mal anders aus. Natürlich muss die Belichtungszeit angepasst werden. Alles muss genau stimmen. Die Kerze muss gleichmäßig brennen. Die Öffnungszeit der Linse muss auf die Millisekunde genau stimmen. Nur dann erreicht man diese perfekte Stimmung.«
Pamela betrachtete das Ensemble auf dem Tisch. »Eine tolle Idee, nur mit Kerzenlicht zu fotografieren«, sagte sie. »Dagegen stinken diese ganzen Bilder mit Blitzlicht doch total ab. Herr Neumann hat das ja auch rausgehabt, ne? Das Bild von ihm, das auf dieser Ausstellung gewonnen hat, war doch auch nur mit einer einzigen Kerze beleuchtet, oder? Ich hab’s im Büro gesehen«, setzte sie hinzu, als Ruh sie überrascht ansah. »Also, das jedenfalls find ich wirklich klasse. Ist eine echte Kunst, mit nichts weiter als einem Buch, einer Brille und einer Kerze eine richtige Geschichte zu erzählen.«
Thomas Ruh wandte sich ab und gab vor, den runzeligen Apfel in der Schale ein paar Millimeter zu verrücken.
»Sie kennen das Bild doch auch, oder?«, hakte Pamela nach. »Finden Sie es nicht gut? Ich bin ja nur Laiin, aber Sie sind doch der Fachmann in Kerzenlicht. Ist doch ein Superbild, das von Herrn Neumann, ne?«
Ruh brummte etwas, das mit viel gutem Willen als Zustimmung hätte gedeutet werden können.
»Wenn ich das fragen darf«, wagte Pamela sich weiter vor. »Hat er eigentlich diese Kerzenbilder wegen der Kunst gemacht, so wie Sie? Oder eher wegen seiner Krankheit? Weil er keine Blitzlichter benutzen durfte?«
»Ach, das ist doch Unsinn!«, zischte Ruh, plötzlich ungehalten. »Peter hatte zig andere Möglichkeiten. Als ich ihn kennenlernte, hat er im Studio mit indirekter Beleuchtung gearbeitet. Für seine Bilder funktionierte das ausgezeichnet. Außerdem hat er auch viel draußen fotografiert. In der Tier- und Naturfotografie brauchte er doch auch keine Blitze, die ihm das Hirn ausschalten würden. Die Beleuchtung allein durch Kerzen wurde bei ihm erst Thema, als er meine Bilder gesehen hatte.«
Die Worte hingen für ein paar Sekunden in der Luft zwischen ihnen.
»Sie wussten also, dass Herr Neumann unter einer bestimmten Form der Epilepsie litt?«, fragte Pamela. »Wegen der er weder Auto fahren noch bei seinem Hobby Blitzlichter einsetzen durfte?«
Ruh blinzelte irritiert. »Ich … ähm …«
»Ich frag nur, weil Herr Klappert neulich erwähnt hat, dass Herr Neumann nicht wollte, dass es jemand weiß. Ist ihm Herrn Klappert gegenüber wohl mal rausgerutscht. Aber wenn man hier so ruhig vor sich hin pusselt«, sie wedelte mit der freien Hand in Richtung Stillleben, »vergessen die anderen manchmal bestimmt, dass man mithören kann, was die so sprechen, oder?«
Ruhs Ausdruck wechselte von verwirrt zu misstrauisch. »Was wollen Sie damit sagen?«
Pamela zuckte mit den Schultern. »Als wir uns neulich mal unterhalten haben, über Hobbys, für die man so richtig brennt, wissen Sie noch?« Er nickte zögernd. »Danach hab ich mir einfach mal vorgestellt, ich würde auch so rasend gern fotografieren. So mit allem Drum und Dran, schnipp und schnapp. Superkamera. Spitzenlaptop, auf dem ich die ganze Bildbearbeitung mache und so. Ach ja, der Laptop …« Sie hielt kurz inne. »Echt knifflig, wenn sich den jemand ausleihen würde, weil er einfach eine simple Mitgliederliste ergänzen will oder so was. Schließlich könnte es passieren, dass derjenige mehr macht, als ein Word-Dokument anzulegen. Vielleicht scrollt er sich auch durch meine Bilddateien und schaut sich an, was ich da im stillen Kämmerlein so für tolle Fotos gemacht habe. Und entdeckt dabei ein Bild, dem er als Kenner gleich ansieht, dass es enormes Potenzial hat. Vielleicht sogar so viel Potenzial, um bei einer bundesweiten Ausstellung den ersten Platz zu machen.«
Pamela legte eine Pause ein.
Ruh stand einfach nur da und starrte sie an.
»Wie würde ich mich fühlen, wenn derjenige das Bild stiehlt?«, überlegte Pamela laut. »Nicht das Original des Bildes – so dumm wäre bestimmt niemand –, aber die Idee! Die geniale Idee, die es dann nur noch umzusetzen galt. Was würde das mit mir machen, wenn derjenige mit diesem Bild den Erfolg einheimsen würde, der doch mir zustände? Schließlich könnte ich es nicht beweisen. Ich könnte nicht beweisen, dass mein wunderbares Bild einfach kopiert worden ist. Denn das Urheberrecht steht auf der Seite dessen, der als Erster veröffentlicht, oder?«
Thomas Ruh keuchte auf. »Wie können Sie das alles wissen?«
Pamela hob die Brauen. »Der Vorteil des Berufes der Reinigungskraft ist der: Man ist überall, bekommt alles mit, und trotzdem ist man für die Leute so gut wie unsichtbar.«
Ruh nickte zu ihren Worten, beinahe anerkennend. Doch ihr entging nicht, dass er nach dem Stativ griff und scheinbar gedankenverloren an einer Schraube drehte. Das Stativ sah ziemlich stabil aus, bestimmt wog es mehr als der Schrubber, den Pamela immer noch in der Hand hielt.
»Woher wussten Sie, dass Neumann an diesem Dienstagabend im Klub sein würde?«, erkundigte Pamela sich.
»Es war Zufall«, antwortete Ruh bereitwillig. »Ich kam vom Arzt. Wissen Sie, man ist nicht sicher, ob da nicht vielleicht wieder etwas wächst.« Er griff sich an den Kopf, kurz oberhalb der rechten Schläfe. Von ihren früheren Begegnungen wusste Pamela, dass dort durch sein lichtes Haar die alte Narbe schimmerte. »Und da sah ich Peter über die Straße gehen und im Klub verschwinden. Zuerst hab ich mich gewundert. Ich dachte: ›Nanu. Was will er denn an einem Dienstagabend im Klub? Und dann so rausgeputzt. Da ist doch keine Veranstaltung und nichts.‹ Aber dann kam mir der Gedanke, dass ich die Gelegenheit doch nutzen könnte. Endlich könnte ich ihn zur Rede stellen. Also bin ich ihm gefolgt.«
»Da hatten Sie also noch gar nicht vor, Neumann umzubringen?«, fragte Pamela. Sie hörte selbst, dass ihre Stimme wacklig klang. Doch das schien Ruh nicht aufzufallen.
Überraschend ruhig antwortete er: »Nein, da noch nicht. Aber dann kam ich in den Klub. Peter war in der Dunkelkammer. Im Studio hatte er etwas aufgebaut. Der kleine Requisitentisch mit einem Weindekanter, zwei Kristallgläsern, einer Blumenvase. Und einer Kerze. Für ein Foto war es ein läppischer Aufbau, absolut nichtssagend. Und da wurde mir wieder klar, wie wenig er als Fotograf draufhatte. Jemand, der so stümperhaft vorging, hatte es einfach nicht verdient, für ein Bild so viel Beachtung zu erhalten, dessen Genialität er niemals selbst hätte entwickeln können. Aber sein Ego war ja sooo groß! Er war der Held, nicht wahr? Der gefeierte Fotostar! Der grandiose Künstler! Mit dem Stempel des ersten Platzes einer der großen Ausstellungen auf der Betrügerstirn.« Er patschte sich mit der einen flachen Hand vor die Stirn, während die andere das Stativ vom Boden hob. Oh ja, schien schwer zu sein. »In dem Moment wurde mir klar, was für ein Dummkopf ich gewesen war. Hatte ich wirklich geglaubt, Peter würde einlenken und öffentlich bekennen, wer der Urheber dieses Bildes wirklich war? Natürlich würde er das nicht! Dazu war er viel zu selbstverliebt.«
»Und … und dann?«, krächzte Pamela.
Ruh sah sie beinahe verwundert an. »Das konnte ich ihm doch nicht durchgehen lassen! Als ich so dastand, sah ich in der Ecke die diversen Stative und Blitzlichter, die Max und Dina ein paar Tage vorher für ihr letztes Kostümshooting benutzt hatten. Eigentlich hätten sie sie wegräumen sollen. Aber … na ja, die jungen Leute, immer irgendwas anderes im Kopf …« Er lächelte auf diese Weise, die Pamela so gut von ihm kannte: nachsichtig, freundlich. Doch dann erschien ein merkwürdiges Glimmen in seinen Augen. »Und da kam mir plötzlich diese Idee. Genial, oder?«
Wie er sie ansah! Da war sie wieder, die Gänsehaut. Es lief ihr eiskalt den Rücken herunter.
»Sie haben sich eines der Stative gegriffen und sich in einer dunklen Ecke versteckt. Als Herr Neumann wieder ins Studio kam, haben Sie ihn niedergeschlagen, an den Stuhl gefesselt und dann einem echten Blitzlichtgewitter ausgesetzt«, vollendete Pamela tonlos.
»Oh ja.« Ruh nickte eifrig und sah zu dem Stativ in seiner Hand. »Wusste vorher gar nicht, was man mit so einer Ausrüstung noch so alles machen kann.«
»Offenbar eine gute Investition«, stimmte Pamela ihm zu und machte einen kleinen Schritt zurück.
Ruh registrierte es. Er tat seinerseits drei oder vier große zur Seite und versperrte ihr so den Weg zur Tür.
»Es tut mir wirklich leid. Ihnen muss doch klar sein, dass ich Sie jetzt nicht einfach gehen lassen kann?«, sagte er bedauernd.
Pamela öffnete bereits den Mund, um etwas zu erwidern, als er viel schneller, als sie ihm zugetraut hätte, vorstürzte und mit dem Stativ ausholte. Sie parierte den kräftigen Schlag mit dem Schrubber.
»Zugriff!«, rief sie, während sie einen neuerlichen Hieb geschickt abfing, der genau auf ihren Kopf zielte. Zu dem Wort hatte Ahsen ihr geraten.
Die Bürotür und die Schiebetür wurden gleichzeitig aufgerissen, und ein halbes Dutzend Männer und Frauen stürzten heraus. Gleichzeitig flammte die Deckenbeleuchtung auf. Zwei der Beamten packten den wild um sich schlagenden Ruh und hatten ihn rasch überwältigt. Einen Arm auf den Rücken gedreht, das massive Stativ am Boden, warf Ruh Pamela einen wilden Blick zu, der nichts mit dem freundlichen, liebenswerten Hobbyfotografen zu tun hatte, als den sie ihn kannte.
»Ich war im Recht!«, keuchte er völlig außer sich. »Er hatte es nicht anders verdient!«
Hauptkommissar Lennard Vogt nickte seinen Kollegen zu, und sie führten Ruh ab.
Tina Bruns, die neben Vogt stand, strahlte Pamela an. »So was von klasse! Sehr, sehr gut gemacht! Der Chef war ja erst nicht so für den Plan. Verständlich, war ja auch durchaus nicht ungefährlich. Aber Sie haben das toll gemacht, haben dem Täter ja ein komplettes Geständnis entlockt. Zugegeben, das können wir vor Gericht nicht verwenden. Aber der tätliche Angriff auf Sie ist nicht zu leugnen und wird seine Zunge bestimmt lockern. Ich würd sagen, wir haben ihn, oder?« Sie schaute zu ihrem Vorgesetzten auf.
Auch Pamela blickte zu Vogt. Meinte sie das nur, oder sah er im Neonlicht ein wenig blass aus um die Nase?
»War spannend«, gab er widerwillig zu.
Pamela unterdrückte ein Grinsen und wusste bereits jetzt, was ihre Mutter zu dieser Reaktion sagen würde: So sind eben die Norddeutschen, die machen nicht viele Worte.
»Und jetzt?«, wollte sie wissen. »Ich hab mich vorsichtshalber den Tag bei meinen Kunden abgemeldet. Ahsen übernimmt einen Teil, und den anderen hol ich morgen nach.«
»Sie kommen mit uns«, entschied Vogt. »Wir müssen Ihre Aussage aufnehmen.«
Gemeinsam gingen sie also durch den Besprechungssaal zum Ausgang. Vogts gut aussehender Kollege, der gestern auch in Nicole Schlierensteins Wohnung gewesen war, hob sich die Putzbox unter den Arm und wollte auch den Schrubber übernehmen.
»Danke. Aber den trag ich selbst«, entschied Pamela. »Wenn das gute Stück nicht gewesen wäre, hätt ich jetzt eine ziemliche Beule am Kopf.«
Sie glaubte, den Hauptkommissar leicht zusammenzucken zu sehen.
»Gestern Abend haben Sie doch von einer Verwarnung gesprochen«, erinnerte sie ihn. »Irgendwas, was Sie auf später verschieben wollten. Möchten Sie vielleicht jetzt …?«
Kriminalhauptkommissar Vogt steckte die Hände in die Taschen seines zerknitterten Blousons.
»Das hat Zeit«, sagte er.