28. Kapitel

13. Mai, Donnerstag, abends

Noch am selben Tag fand abends in einer der Wohnungen gegenüber des Friedhofs Hattingen Holthausen eine kleine Sause statt.

Marlies und Ahsen saßen auf dem einladenden Sofa und schwenkten ihre Proseccogläser. Leia saß mit untergeschlagenen Beinen davor und experimentierte auf dem Couchtisch mit verschiedenen Fruchtsäften, die Totti mitgebracht hatte. Der hatte es sich auf dem Flickenteppich vor der weit offen stehenden Balkontür gemütlich gemacht. Pamela, die gerade mit einem Teller voller Knabbereien aus der Küche kam, ließ ihren Blick über ihre Liebsten schweifen, tiefe Zufriedenheit im Herzen.

»Kriegst du jetzt eigentlich irgendeinen Orden oder so was?«, wollte Ahsen wissen, während Pamela den Teller abstellte und somit den Couchtisch in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses rückte.

»Quatsch«, sagte sie. »Wieso das denn? Kommissar Vogt war an der Aufklärung doch genauso beteiligt wie ich.«

»Ich finde aber, er hätte dir zumindest das Du anbieten können«, meinte Marlies. » So’n schicker Kerl.«

Totti horchte auf.

Doch Pamela winkte ab. »Im Leben nicht, Mama!« Und sie griffen alle nach den Snacks.

Totti deutete mit einem Möhrenstick auf Pamela. »Und der Mörder, dieser Thomas Ruh, der hat dann also gleich gestanden?«

Pamela ließ sich vor dem Korbsessel auf dem Kunstfell nieder. »Das war echt ein Ding. Ich sitz da so im Büro vom Hauptkommissar, und wir nehmen meine Aussage auf, Tina hat gleich alles mitgetippt, da kommt dieser andere Kommissar, dieser Thilo Schmidt, rein … also, Mama, das ist mal ein Schnuckelchen. Jedenfalls, der hat erzählt, dass Ruh gleich alles ausgespuckt hat. War nämlich genauso, wie wir gedacht hatten: Neumann hat auf dem Laptop, den er sich von Ruh ausgeliehen hatte, dieses Bild entdeckt. Und weil das so genial war, hat er die Idee geklaut und es fast genauso nachgestellt, mit dem Licht und dem Buch und der Brille und so. Und als er dann bei dieser Ausstellung den ersten Platz gemacht hat und das Bild überall rumgezeigt wurde, da hat den Ruh wohl fast der Schlag getroffen. Ich meine, das war für ihn was ganz Besonderes, das perfekte Bild quasi, an dem er jahrelang rumgebastelt hatte.«

»Warum hat er das denn nicht bei dieser Ausstellung zum Wettbewerb eingereicht?«, wollte Marlies wissen. »Das wär ja was gewesen, zwei gleiche Bilder.«

Pamela dachte an den stillen, zurückhaltenden Thomas Ruh. Wie er ihr von seinem Hobby erzählt hatte, für das er so brannte, das zu seinem Lebensinhalt geworden war.

»Vielleicht wusste er nichts von der Ausschreibung. Oder er hat sich am Ende doch nicht getraut. Der ist nicht so der Typ, der sich auf die Brust trommelt.«

Marlies nickte, als habe sie sich das schon gedacht.

»Das hab ich Pamela immer gesagt«, wandte sie sich an die anderen. »›Nur keine falsche Bescheidenheit!‹, hab ich immer gesagt. Wenn du etwas kannst, dann zeig es auch. Haste nix von, wenn du das hinterm Rücken hältst. Und jetzt guckt ma, da seht ihr es wieder!«

»Echt, Omma? Das hat Mama von dir? Weil, das sagt sie zu mir auch immer«, meldete sich Leia und sog an dem Strohhalm, der in das gelbgrüne Gemisch in ihrem Glas getaucht war, das wesentlich besser zu schmecken schien, als es aussah. »Dass ich mir immer bewusst sein soll, was ich kann, und mich nicht schämen soll, es auch zu zeigen.« Sie hielt kurz inne. Überlegte. »Also, ohne dabei so mächtig auf die Kacke zu hauen, klaro.«

»Klaro«, antworteten alle im Chor.

Pamela musterte ihre Tochter genauer. Mit dem Häufchen Elend, das sie gestern beim Nachhausekommen in der Küche vorgefunden hatte, hatte Leia jetzt nichts mehr gemein. Im Gegenteil, sie sah sogar sehr zufrieden aus.

»Gibt es eigentlich was Neues von PrettySandy?«, erkundigte sie sich behutsam.

»Pretty Wer?«, wollte Ahsen sofort wissen.

»Eine siebzehnjährige Buchbloggerin auf Instagram, die …«, begann Pamela zu erklären, doch Leia unterbrach sie: »Die hat meinen bisher besten Post geklaut!« Und sturzbachartig ergoss sich die ganze Geschichte auf die kleine Versammlung.

»Kriminell«, meinte Totti mit Kennermiene, als sie geendet hatte.

»Ich würd da am liebsten hinfahren und der einen ordentlichen Tritt in ihren pretty Allerwertesten verpassen!«, knurrte Ahsen.

Pamela hätte beide küssen können. Die unverstellte Entrüstung und wärmende Solidarität taten Leia bestimmt gut.

Nur Marlies blickte ein wenig säuerlich drein.

»Ich versteh nur Bahnhof«, gab sie zu.

Leia öffnete schon den Mund, um die Vorgänge haarklein zu erläutern, doch Pamela fand, es wäre der Unterhaltung förderlicher, alles auf einen verständlichen Nenner zu bringen: »Das musst du dir so vorstellen, als wär Karin Klöckner bei dir eingebrochen und hätte das Rezept für die neue Geschmacksrichtung deiner Baisertorte geklaut. Und auf dem nächsten Muttertagstreffen der AWO ist sie vor dir im Saal und gibt die Torte als ihre Erfindung aus.«

»Das soll sie mal wagen!«, rief Marlies kampfbereit.

Karin Klöckner, Matriarchin der wohlhabendsten Landwirtsfamilie vor Ort, bemühte sich schon seit Jahren nach Kräften, die ewige Gewinnerin des Kuchenwettbewerbs Marlies Ewing von ihrem Thron zu stoßen. Bisher hatte Marlies sie mit immer neuen, spektakulären Kreationen austricksen können, spürte aber oft den heißen Atem des Neides im Nacken.

»Ich sach ma so«, mischte Totti sich ein und biss krachend in einen Streifen Paprika. »Die Frauen bei der AWO würden dir wahrscheinlich glauben, weil sie wissen, wie gut du backen kannst. Aber wenn das jetzt lauter Fremde wären, die dich gar nicht persönlich kennen. Fremde, die von dir noch nie was gehört haben, aber mit der Klöckner schon seit Jahren per Du sind. Dann würdest du ganz schön dumm dastehen, und die Schreckschraube würde mit dem Rezeptklau einfach so durchkommen.«

»Das wollen wir doch mal …«, schnaufte Marlies. Doch dann fiel ihr ein, dass es sich bei diesem Szenario um ein Fantasieprodukt handelte, dass aber ihre Enkeltochter etwas ganz Ähnliches soeben tatsächlich erlebt hatte. Sie wandte sich Leia zu. »Das darfst du nicht auf dir sitzen lassen, Schätzken! Wehr dich, zeig’s der!«

»Hab ich schon gemacht«, sagte Leia grinsend. Sie machte eine Kunstpause, in der alle sie gespannt ansahen. Dann zuckte sie mit den schmalen Schultern. »Als Mama heute Mittag erzählt hat, wie mutig sie war, ich meine: nur mit einem Schrubber gegen einen echten Mörder, Wahnsinn, oder? Also, da dachte ich: Wenn Mama so irre mutig ist, dann kann ich das auch. Wir haben schließlich die gleichen Gene. Und Ommas hab ich auch. Und du lässt dir auch nix gefallen, Omma, oder?«

»Sag schon, was hast du gemacht?«, drängte Pamela sie.

»Nix Besonderes. Ich hab nur in die Story meinen Beitrag gestellt und per Hashtag das Buch markiert, das ich darin besprochen habe. Dann hab ich dazugeschrieben, dass es offenbar eine pretty Bloggerin mit elftausend Followern nötig hat, mir kleinem Licht meine Posts zu klauen … Mehr brauchte ich gar nicht zu machen.«

Ahsen applaudierte. Totti reckte den Daumen hoch. Marlies machte: »Hä?«

Pamela fasste für sie zusammen: »Du hängst an die Pinnwand von Ahmeds Supermarkt ’n fetten Zettel, auf dem steht: Eine Klöckelnde Nervkuh hat es offenbar nötig, das Rezept für meine neue Torte zu klauen und als ihres auszugeben. Wer will, kann in mein Rezeptbuch gucken, da steht es mit Datum drin. Im Prinzip hat sie diese PrettySandy also angezeigt. Jetzt wissen alle, dass die Leias geistiges Eigentum gestohlen hat.«

»Meine Enkelin!«, tönte Marlies, zog Leia zu sich heran und umarmte sie fest. Leia grinste breit.

Pamela dachte in etwa etwas ganz Ähnliches, nämlich: Meine Tochter! Aber sie sagte: »Und? Hast du schon Reaktionen bekommen?«

»Fast zweihundert neue Follower in den letzten vier Stunden!«, jubelte Leia aus Marlies’ Umarmung heraus. »Was aber noch viel besser ist: PrettySandy hat gerade einen echten Shitstorm laufen. Viele finden es total unter aller … na ja, sie finden es voll doof, was sie gemacht hat.«

Marlies tätschelte Leias Rücken und ließ sie dann wieder los. »Das hat die aber auch verdient!«, schnaubte sie.

Pamela stimmte ihrer Mutter durchaus zu, erwiderte aber: »Trotzdem sollte Leia sich statt auf Schadenfreude lieber auf die tollen neuen Follower konzentrieren, und natürlich auf die, die ihr sowieso schon gefolgt und immer treu geblieben sind.«

»Jaaaaaa«, maulte Leia gedehnt. »Mach ich. Ab Morgen, okay? Heute Abend freu ich mich einfach drüber, dass PrettySandy so richtig Stress hat.«

»Auf PrettySandys Megastress!«, rief Ahsen und hob ihr Proseccoglas.

Alle stießen an und tranken.

»Ich muss aber auch ehrlich sagen, dass ich froh bin, dass die Sache mit dieser Mordermittlung jetzt vorbei ist«, meinte Pamelas beste Freundin dann. »War schon anstrengend, neben dem Job, den Kindern und Haushalt und so.«

»Und gefährlich war es auch«, setzte Totti hinzu.

Pamela sagte nichts dazu. Sie wusste, dass ihre Lieben recht hatten. Und doch war da ein leises Bedauern in ihr. So als habe sie nun mit der Aufklärung der Tat etwas verloren, das sie gerade erst zu schätzen gelernt hatte.

Aber das war natürlich Unsinn.