»Ich fass es immer noch nicht! Ich meine, stell dir vor, du wärst heute mal früher zur Arbeit gegangen. Vielleicht wärst du dann dem Mörder direkt in die Arme gelaufen!« Ahsen schüttelte sich und nahm einen weiteren Möhrenschnitz. Leia quietschte wohlig schaudernd auf, während Marlies sich die Hand vor den Mund schlug und Totti ein nervöses Husten mit einem Schluck Cola runterspülte. Sie saßen in Pamelas Küche und beratschlagten sich: Ihre beste Freundin, ihre klatschbegeisterte Mutter, ihre aufgedrehte Teenietochter und ihr bester Freund seit Kindertagen. Totti war nach Feierabend aus seiner Bude in der Nordstadt sofort hergeeilt. Der Leichenfund im Fotoklub hatte sich nämlich bis in seinen florierenden Kiosk herumgesprochen – und Totti hatte gleich zwei und zwei zusammengezählt, als es hieß, dass die Putzfrau den Toten entdeckt habe. Da hatte er sich mit eigenen Augen und Ohren von der Geschichte überzeugen wollen.
»Quatsch«, sagte Pamela jetzt und tauchte einen Paprikastreifen tief in den Aioli-Dip. »Der Neumann war längst tot. Bestimmt schon seit gestern Abend. Ich hab doch gesagt, der Wein und das Blut und so waren schon getrocknet.«
»Dann erst recht«, meinte Totti jetzt und nickte Ahsen eifrig zu. »Ich hab mal gelesen, dass die Täter gern am nächsten Tag an den Tatort zurückkommen.«
»Stimmt!« Ahsen deutete mit dem Finger auf ihn. »Das ist bei Inspektor Barnaby auch ganz oft so.«
»Und der neue Hauptkommissar, dieser Vogt, wie ist der so?«, wollte Marlies wissen.
Pamela blinzelte irritiert. Nach einundvierzig Jahren müsste sie eigentlich wissen, wie sehr es ihre Mutter nach solchen Details verlangte – trotzdem versetzte deren Hang zu unter der Hand weitergegebenem Insiderwissen sie auch heute noch in Erstaunen.
»Der Vogt? Na ja, wie so ein Polizist eben.«
»Kind!«, empörte Marlies sich. »Komm schon! Sieht der wirklich so gut aus? Carolas Schwiegertochter ist doch in der Wache und hat erzählt, dass der neue Chef der Kripo wegen seiner Frau aus Bremerhaven hierhergezogen ist. Ist wohl ein echtes Nordlicht. Und sie meint, er wär heftig attraktiv.«
Totti setzte sich auf dem Küchenstuhl ein wenig aufrechter hin. Manchmal erinnerte er Pamela noch heute an den Teenager mit den roten Locken, mit dem sie damals die ersten Küsse ausprobiert hatte. Sein vertrauter Blick aus braunen Augen ruhte ein wenig beunruhigt auf ihrem Gesicht. Pamela schüttelte energisch den Kopf.
»Überhaupt nicht. Gut, er ist groß und schlank, und wahrscheinlich sportlich. Aber der zieht vielleicht einen Flunsch. Wie sieben Tage Regenwetter. Und dann immer diese kurz angebundene Art.« Dass er sie mit seinen überraschend grünen Augen mehrmals so seltsam gemustert hatte, ließ sie beiseite.
»So sind die aus dem Norden eben. Kurz und knackig. Aber die meinen das nicht so.« Marlies, die seit zwanzig Jahren Urlaub in Norddeich machte und somit als Expertin in Sachen Norddeutschland galt, nahm noch einen Schluck Kaffee. Schwarz. Es war schon nach acht. Wenn sie das nächste Mal über Einschlafprobleme jammerte, würde Pamela ihr mal den Marsch blasen.
»Und was ist jetzt mit der Arbeit im Klub?« Wenigstens Ahsen wusste, worauf es wirklich ankam. »Hast du schon jemanden erreicht, den du fragen kannst, wann du da weitermachen kannst?«
»Pff«, machte Pamela. »Ich denke eher, ich muss noch mal von vorn anfangen. Die Polizei hat da überall dieses Pulver verteilt.«
»Für die Fingerabdrücke?«, warf Leia ein, gespannt wie ein Flitzebogen.
»Das heißt ›wegen der Fingerabdrücke‹«, korrigierte Pamela sie. Ihr war wichtig, dass ihr Kind richtig sprach – wenn Leia schon den halben Tag über ihr Handy gebeugt zubrachte. »Aber ja, stimmt. Deswegen.« Sie wandte sich an Ahsen. »Ich hab vorhin den Klappert erreicht. Das ist der Zweite Vorsitzende vom Klub«, erklärte sie den anderen. »Früher war er der Erste Vorsitzende, hat den Klub damals gegründet, vor fünfzehn Jahren oder so. Bevor ich anfing, hat seine Frau da geputzt. Angeblich ohne Bezahlung.«
Sie sah alle in der Runde mit hochgezogenen Brauen an.
Ihre Mutter schnaufte: »Ha.«
»Jedenfalls hab ich seine Nummer für den Notfall …«
»Na, wenn das jetzt kein Notfall ist!«, kommentierte Totti.
»Er meinte, morgen früh würde gehen. Ich hab schon alles umgelegt. Die Hagenkamps sind doch in Urlaub, da krieg ich das hin.«
»Morgen Vormittag? Ach, da kann ich dir leider nicht helfen. Ich muss zum Elternsprechtag.« Ahsen zwinkerte mit den beneidenswert dichten schwarzen Wimpern und bemühte sich vergeblich, ihre Erleichterung zu verbergen. So gern sie im Fernsehen Mord und Totschlag verfolgte, so ungern wollte sie offenbar im echten Leben damit konfrontiert werden.
»Dann komm ich mit!«, bot Totti schnell an. »Ich mach die Bude einfach für ein paar Stunden zu. Dann kriegen die Blagen vom Gymi mal morgens keine Schaumkussbrötchen. Schadet denen bestimmt nicht. Der ganze Süßkram immer. Ich kann zwar nicht so gut putzen wie du, aber wenn du mir zeigst, was ich tun soll, krieg ich das bestimmt hin. Hauptsache, du bist nicht allein da.«
»Das ist superlieb von dir«, Pamela legte eine Hand auf seine, und Totti strahlte sie an. »Aber ich werd nicht allein sein. Der Klappert ist auch da. Muss wohl ein paar Unterlagen für die Polizei raussuchen und einfach im Büro nach dem Rechten schauen. Der wird ganz schön was zu tun haben, so wie es da immer aussieht. Also alles prima.«
»Oh. Okay. Na ja, dann …« Ihr bester Freund sah beinahe ein bisschen enttäuscht aus.
»Wie war der Klappert denn so drauf?«, wollte ihre Mutter wissen. »Geknickt, odda?«
Pamela wiegte den Kopf. »Ja, klar. Was auch sonst. Ich meine, ein echter Mord in einem Raum, in dem die Fotoklubleute sich ständig aufhalten, um ihre Bilder zu machen. Das ist doch echt spooky.« Alle im Kreis nickten heftig. Leia zeigte ihre Gänsehaut am Arm vor. »Frau Klappert war auch völlig durch den Wind. Ich hatte zuerst sie an der Strippe, und sie hat gemeint, dass sie einfach nur happy ist, dass sie den Laden nicht mehr putzt. Sie meinte, sie hätte wahrscheinlich einen Herzanfall bekommen, oder so was.«
»Hätte ich auch!«, sagten Marlies und Totti gleichzeitig.
»Sie war so durcheinander, dass sie die ganzen Wochentage durcheinandergebracht hat«, fuhr Pamela fort. »Hat davon gesprochen, dass doch dienstags normalerweise der Abend mit der Bildbesprechung ist, wo ganz viele Klubmitglieder teilnehmen. Und dass es doch ein Riesenzufall ist, dass ausgerechnet da, wo diese Versammlung einmal ausfällt, gleich ein Mord passiert. Dabei ist dienstagabends im Klub nie irgendwas. Weiß ich zufällig.«
»Die arme Frau. Wenn ich mir vorstelle, bei Tarik im Taxiunternehmen würde einer der Fahrer umgebracht … ich wüsste nicht mehr, ob ich Männlein oder Weiblein bin, von Wochentagen mal ganz zu schweigen«, beteuerte Ahsen.
Marlies war offenbar der Meinung, dass sie nach all der Aufregung mal zum gemütlichen Teil übergehen sollten.
»So, wer will jetzt noch was Richtiges zum Knabbern?«, trompetete sie und zog aus ihrem Jutebeutel eine Chipstüte. Alle stürzten sich darauf, als hätten sie nicht in der letzten halben Stunde munter Möhren, Gurke und Paprika in sich hineingestopft.
Pamela überließ die anderen ihrem Geschmacksverstärkerrausch und ging hinüber ins Bad, um endlich ihre Arbeitsklamotten gegen den Freizeitdress einzutauschen. Als sie auf der Toilette saß und die Jeans abstreifte, knisterte etwas in der Tasche. Sie griff hinein und zog einen Papierschnipsel heraus.
Einen Moment lang starrte sie verwirrt darauf. Doch dann fiel es ihr wieder ein. Diesen Teil eines zerrissenen Fotos, den sie in der Dunkelkammer aufgehoben hatte, um ihn zu entsorgen, hatte sie über den Ereignissen des Tages glatt vergessen. Sie hielt ihn ins Licht. Zwei Paar Beine. Das eine gehörte eindeutig einer Frau, die zu einem kurzen Rock hohe Schuhe trug und sich offenbar an die andere Person, Pamela vermutete einen Mann, lehnte. Das zweite Beinpaar in langer Hose sagte nicht viel aus. Aber die Frau trug am rechten Knöchel ein Tattoo. Pamela dreht den Fetzen hin und her. Das war eine Rose, eine gerade erblühende Blüte. Und dieser Papierschnipsel war wohl Grund genug, um jetzt doch noch nicht in ihre Jogginghose zu schlüpfen.
»Guckt mal!« Als sie wieder in der Küche auftauchte, hielt sie den Papierschnipsel in die Höhe. Alle beugten sich vor, um besser sehen zu können. »Das hatte ich ganz vergessen. Hab ich aufgelesen, bevor ich den Neumann gefunden hab. Mehr war von dem Foto nicht da, nur das Stückchen hier. Aber ich hab euch ja erzählt, dass im Labor das Rotlicht noch an war.«
»Wer ist das?«, wollte Marlies wissen.
»Omma! Das weiß Mama doch nicht!«, erwiderte Leia ganz richtig. »Aber, Mama, das musst du unbedingt zur Polizei bringen. Das ist bestimmt wichtig!«
Pamela sah sich im Kreis ihrer Lieben um. Alle nickten.
»Aber es ist Viertel nach acht. Der Kommissar wird bestimmt nicht mehr da sein«, gab sie zu bedenken.
»Bring ihm das doch schnell nach Hause«, schlug ihre Mutter vor. Die Köpfe in der Runde wandten sich ihr zu. Sie zuckte mit den Achseln. »Das weiß doch halb Hattingen, dass der in dem kleinen, schnuckeligen Häuschen an der Stadtmauer wohnt. Gleich neben Aditi und Sahin vom Gewürzladen.«
Nun sahen alle Pamela an.
»Aber ich kann doch jetzt nicht …«, begann sie zögernd.
»Das ist bestimmt wichtig!«, wiederholte Leia mit Nachdruck.
»Je mehr Zeit vergeht, desto eher kann der Mörder seine Spuren verwischen«, fügte die TV-Krimiexpertin Ahsen hinzu.
»Wahrscheinlich können die mit deiner Hilfe einen weiteren Mord verhindern«, meinte Totti, als handele es sich bei ihr um eine Art Superwoman, die nur ihren Umhang auffalten und losfliegen müsste, um die Welt zu retten.
»Ist noch nicht neun. Da geht das noch«, verkündete Marlies den Leitspruch ihrer Kindheit.
Pamela stand vor dem Küchentisch, und alle sahen sie an. Erwartungsvolle Stille breitete sich aus.
»Na gut«, sagte sie. »Dann fahr ich da schnell hin. Hoffentlich erwisch ich den Kommissar nicht im Pyjama.«