6. Kapitel

5. Mai, Mittwoch, abends

Es dauerte ein paar Minuten, ehe die Tür geöffnet wurde. Vor ihr stand Kriminalhauptkommissar Vogt, zwar nicht im Pyjama, aber in schlabbrig sitzender Jogginghose, verwaschenem T-Shirt und mit vom Duschen noch feuchten Haaren. In diesem Home-Outfit sah er so überraschend privat aus, dass Pamela kurz stutzte, ehe sie sich auf das konzentrieren konnte, weswegen sie hergekommen war.

»Da bin ich noch mal!«, verkündete sie und setzte ein strahlendes Lächeln auf. Die Hoffnung, dass es prompt erwidert würde, verpuffte augenblicklich wieder. Kommissar Vogt starrte sie ratlos an.

»Pamela Schlonski, die Reinigungskraft aus dem Fotoklub«, erinnerte sie ihn.

Er blinzelte und fuhr sich durch das verstrubbelte Haar.

»Natürlich«, sagte er und räusperte sich. »Ich hatte Sie nur nicht … Kann ich Ihnen helfen?«

Kann ich Ihnen helfen? war die höfliche Form von: Du störst! Hau ab!

Pamela dimmte ihr Lächeln herunter und hielt ihm eine Klarsichthülle hin, in der sich der Fotoschnipsel befand.

Ahsen hatte darauf bestanden, das Beweisstück, wie sie es nannte, derart zu präsentieren, und Leia hatte großzügig eine Hülle aus einem Schulordner gespendet.

»Das hab ich heute Morgen in der Dunkelkammer gefunden.«

Der Kommissar blickte auf die Klarsichthülle, dann sie an, dann nach rechts und links den kopfsteingepflasterten Fußweg an der Stadtmauer entlang, der an dieser Stelle nicht breiter als knappe zwei Meter war.

Hielt der Kommissar nach einer versteckten Kamera Ausschau, weil er sich auf den Arm genommen fühlte? Oder … Halt, nein! Er dachte doch nicht, dass irgendjemand Pamela heimlich gefolgt war, sie als eine mögliche Mordzeugin beschattete? Eine feine Gänsehaut überzog prompt ihre Unterarme.

Vogts Angebot »Kommen Sie doch rein!« folgte sie daher so schnell, dass er überrumpelt einen großen Schritt zurück tun musste, und schloss die Tür hinter sich.

Drinnen übernahm ihr Reinigungskraft-Autopilot, und sie sah sich um. In dem schmalen Flur mit der niedrigen Decke war an der rustikal verputzten Wand eine Hängegarderobe angebracht, an der ein seriöser Trenchcoat, eine knallrote Outdoorjacke und der knittrige Blouson von heute Morgen hingen. Keine Damenjacke, Handtasche, Seidenschal. Auch neben dem schmalen Schuhschrank unter der Garderobe standen nur jeweils ein Paar Sport- und seriöse Herrenschuhe, beides mindestens Größe 46. Hatte Marlies nicht gesagt, der neue Hauptkommissar sei verheiratet?

Geradeaus vor ihnen führte eine schmale, fachwerkhaustypisch steile Eichenholztreppe mit hübsch gedrechseltem Geländer hinauf in den ersten Stock.

Neben der Treppe erweiterte sich der Flur etwas. Dort vermutete Pamela instinktiv die Küche, denn es roch leicht nach … Tiefkühlpizza?

Direkt rechts vor ihnen stand eine Tür offen, und Kommissar Vogt wies darauf.

»Bitte.«

»Danke.« Pamela ging hinein, schöne Tür, sicher alt, aber gut in Schuss, und war beinahe überrascht, einen behaglichen, im Shabby-Chic-Look eingerichteten Raum vorzufinden. Die Steinfliesen des Flures wechselten auf der Schwelle zu breiten Holzdielen, auf denen ein blassbunter Teppich unter einem gläsernen Couchtisch lag. Zwei bequeme Sofas standen übereck und boten den Blick auf das gut gefüllte Bücherregal, das die gesamte linke Wand einnahm – die einzige, in der sich weder Fenster noch Tür befand. Obwohl um diese Uhrzeit jetzt im Juli durch die Holzsprossenfenster noch Tageslicht hereinfiel, brannte die Leselampe in der Zimmerecke neben dem einen Sofa, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Ein Krimibestseller, wie Pamela nebenbei bemerkte, den sie auch in Leias Zimmer bereits hatte herumliegen sehen.

»Sehr gemütlich«, kommentierte sie.

Der Kommissar bedachte zuerst sie und dann sein eigenes Wohnzimmer mit einem irritierten Blick. Daher hielt sie ihm rasch wieder die Klarsichthülle entgegen. Diesmal nahm er sie entgegen und betrachtete mit gerunzelter Stirn den Teil des zerrissenen Fotos darin.

Augenblicklich schaltete er auf dienstlich. Das konnte Pamela daran erkennen, wie er sich sehr gerade aufrichtete und die Augen verengte.

»Warum haben Sie mir das heute Morgen nicht gegeben?«, wollte er tatsächlich ein wenig streng wissen.

»Weil ich nicht daran gedacht habe. Ich hatte gerade eine Leiche gefunden«, antwortete sie mit feiner Spitze in der Stimme. »Den Fetzen da hatte ich vorher aufgehoben und eingesteckt, weil ich ihn in den Müll tun wollte. Und da hab ich ihn später einfach vergessen.«

Kommissar Vogt strich die durchsichtige Plastikhülle über dem halbierten Foto glatt und betrachtete es genau.

Pamela stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte mit auf das Papierstück.

»Sieht nach ’nem Liebespaar aus, wenn Sie mich fragen. So wie sich die Rockbeine an die Hosenbeine randrücken. Der Schnipsel lag unter einem Stuhl, und ich hab mich noch gewundert, wieso jemand so ein Foto erst zerreißt, es dann aber nicht ordentlich wegschmeißt. Passt aber irgendwie zu den nicht entsorgten Entwicklungsflüssigkeiten, finden Sie nicht? Da hat es jemand wohl zu eilig gehabt, um noch mal gründlich in alle Ecken zu gucken, ob er was übersehen hat.«

Der Kommissar bedachte sie mit einem seiner forschenden Blicke.

Also, wenn er Verdächtige nicht durch ein geschicktes Verhör zum Sprechen bringen könnte, denn Reden schien ja nicht sein Ding zu sein, dann konnte er sie ganz sicher zu einem Geständnis niederstarren.

»Gibt es noch etwas anderes, das Ihnen heute Morgen im Fotoklub aufgefallen ist und das Sie dann vergessen haben zu erwähnen?«

»Nein.« Pamela überlegte kurz. »Obwohl …«

»Hm?«

»Ich wüsste schon gern, woran der Neumann … der Herr Neumann gestorben ist. War in dem Wein, der da verschüttet war, Gift oder so was?«

Wie kühl so richtig grüne Augen wirken konnten.

»Selbstverständlich darf ich Ihnen keine Auskunft über Details der Ermittlung mitteilen«, antwortete er sehr steif, und Pamela war verblüfft, als er beinahe ärgerlich hinzusetzte: »Aber tatsächlich wissen wir noch nichts über die Todesursache.«

»Ist bestimmt noch zu früh, wie? Im Tatort geht das immer so hopplahopp.« Pamela schnipste mit den Fingern. »Aber wahrscheinlich dauert das im wahren Leben einfach viel länger. Ich meine, da war ja auch kein Gerichtsmediziner im Klub heute Morgen, so wie das im Fernsehen immer ist. Da wird bestimmt viel verfälscht, ne? Nicht so wie im echten Leben, meine ich. Oder?«

Der Kommissar nickte nur.

»Sehen Sie. Dachte ich mir. Tja, ich hoffe, es war in Ordnung, dass ich einfach vorbeigekommen bin? Ich wollte erst eigentlich nicht, aber dann dachte ich: Wer weiß, vielleicht ist es unglaublich wichtig und hat bis morgen früh gar keine Zeit.«

»Woher wussten Sie, wo Sie mich finden würden?«

»Och, das …« Was hatte ihre Mutter noch gesagt? »Das weiß halb Hattingen.«

»Tatsächlich?«

»Ja, wir kaufen alle im Gewürzladen von Aditi und Sahin ein. Ihre Nachbarn.« Sie deutete mit dem Daumen Richtung Flur, auf dessen anderer Seite das schiefe Häuschen des Ehepaars Bulfati lag. »Wirklich hübsche Häuser hier an der Stadtmauer. Dass die alle so krumm und bucklig sind, find ich gerade schön. War bestimmt nicht leicht, das hier zu ergattern, hm? Ist größer als die anderen, die ich hier so kenne.«

»Hm, ja. Vielleicht ein bisschen zu groß«, sagte er und setzte hinzu: »Für mich allein, meine ich. Seit meine Frau nicht mehr hier wohnt.«

Er erstarrte für einen kurzen Moment und wirkte plötzlich verstört.

Oje, etwa ein Frischgetrennter? Das würde erklären, wieso er ein bisschen abwesend wirkte. Dafür hatte Pamela vollstes Verständnis. Auch nach zehn Jahren konnte sie sich noch gut an das Gefühl erinnern, das sie damals den ganzen Tag beherrscht hatte, als ihre Ehe mit Mike zu Bruch ging.

»Putzen Sie denn selbst?«, fragte sie den Polizisten.

»Bitte?«

Trennung hin oder her. Wieso machte er bei jedem zweiten ihrer Sätze ein Gesicht, als glaube er, seinen Ohren nicht trauen zu können?

»Sauber machen. Erledigen Sie das selbst? Neben Ihrem Job, meine ich. Schließlich haben Sie bestimmt jede Menge zu tun mit den ganzen Verbrechen und so. Ich habe gerade was frei. Einmal die Woche drei Stunden oder zweimal die Woche zwei.«

»Vielen Dank, sehr freundlich von Ihnen, aber nein.«

»Okay. Wenn Sie es sich anders überlegen, Sie haben ja meine Adresse.«

Pamela hielt es für das Beste, dieses sonderbare Gespräch zu beenden, und ging wieder hinaus in den Flur.

Kommissar Vogt folgte ihr.

An der Haustür lieferten sie sich ein kurzes Tänzchen ohne Anfassen, weil er ihr höflich die Tür öffnen wollte, der Flur für sie beide nebeneinander aber deutlich zu schmal war. Schließlich klinkte Pamela selbst auf.

Erleichtert trat sie hinaus, direkt auf den Fußweg an der Stadtmauer, und sah sich noch einmal zu Vogt um. Der schlanke Mann war eindeutig zu groß für die kleinrahmige Tür, in der er stand. Vielleicht machte er deswegen einen irgendwie verlorenen Eindruck.

»Schönen Abend noch«, wünschte sie ihm.

»Ihnen auch, Frau Schlonski.«

Er war bereits dabei, die Tür zu schließen.

»Ach, Ihre Blumen, die hier an der Hauswand«, sagte sie daher schnell, denn das war ihr beim Ankommen gleich aufgefallen. Kommissar Vogt hielt inne und sah sie fragend an. »Die sollten mal wieder gegossen werden.«