7. Kapitel

6. Mai, Donnerstag, morgens

Ein bisschen seltsam fühlte es sich schon an, wieder die Treppe zum Fotoklub hinaufzusteigen und die Wohnungstür aufzuschließen.

Wie immer stellte Pamela die Putzbox unter der Garderobe ab, neben der in einem großen Glasrahmen sämtliche Mitglieder des Klubs mit Porträt und Namen abgebildet waren. Ganz oben links: Peter Neumann, Erster Vorsitzender.

Pamela erwiderte kurz seinen ernsten Blick und lauschte dann in die Altbauwohnung hinein.

Da waren Stimmen zu hören. Klappert hatte also Wort gehalten und war hier. Nicht, dass sie ein Schisshase wäre, aber jetzt nicht allein hier zu sein ließ sie trotzdem erleichtert aufatmen.

Sie warf einen Blick zum Studio hinüber und war nicht überrascht, dort ein Flatterband mit der Aufschrift POLIZEI zu sehen, das in Kreuzform über den Rahmen gespannt war.

Dann schnappte sie sich ihren Eimer, Putzmittel samt zwei Tüchern und marschierte geradeaus durch die Eingangshalle zum Besprechungssaal, dessen hölzerne Schiebetür mannsbreit offen stand.

Durch den großen Raum erreichte man auch die Tür zum Büro des Klubvorsitzenden. Und in der stand Markus Klappert im Gespräch mit Thomas Ruh.

»Wenn das Studio dann noch nicht freigegeben ist, kann ich nächste Woche ja meine Bilder in einer Ecke vom Versammlungsraum machen«, sagte Letzterer gerade. »Ich teil mir einfach was ab, lass die Rollläden runter. Das geht schon.« Mit dem Rucksack auf dem Rücken und seiner Lap­toptasche an der Seite war er offenbar im Aufbruch begriffen.

Klappert bemerkte Pamela und hob die Hände. »Frau Schlonski«, begrüßte er sie. »Sie schickt der Himmel!«

»Ach, danke. Aber so weit würd ich nicht gehen«, antwortete Pamela. »Vor allem, weil Sie selbst doch gestern vorgeschlagen haben, dass ich heute die Arbeit nachholen kann.«

Die beiden Männer lachten. Wirkten erleichtert. Vielleicht hatten sie von ihr eine andere Gemütshaltung erwartet? Tatsächlich, da kam es schon: »Scheint, als hätten Sie den Schock verdaut?«, bemerkte Klappert vorsichtig.

Pamela wiegte den Kopf. »War schon komisch gerade, hier reinzukommen. Aber muss ja gemacht werden. Das Leben geht schließlich weiter. Also … für uns«, setzte sie hastig hinzu.

»Genau das habe ich gerade zu Thomas gesagt. Kennen Sie sich eigentlich? Das hier ist Thomas Ruh, eines unserer talentiertesten Mitglieder im Klub, ein wahrer Künstler …«

»Ach, Markus.« Ruh winkte ab. »Außerdem sind Frau Schlonski und ich uns regelmäßig begegnet, als sie noch donnerstags zum Reinigen herkam. Da bin ich ja meist morgens im Studio, direkt nach dem Zeitungsaustragen.«

»Hach, die Frührenter!«, seufzte Klappert mit gespieltem Neid. »Ich wünschte, ich wär auch schon so weit. Musste mir fürs Aufräumen hier einen Gleitzeittag freinehmen.« Dann hielt er inne und sah seinen Klubkollegen betroffen an.

»Bitte entschuldige, Thomas, das war jetzt wirklich taktlos«, sagte er betreten.

Pamela wusste gleich, was er meinte, denn Thomas Ruh hatte in einem Plausch bei ihren morgendlichen Zusammentreffen im Klub erwähnt, dass er nur knapp einen Hirntumor überlebt hatte und deswegen nicht mehr arbeiten konnte. Der Grund für sein Frührentnerdasein war also alles andere als beneidenswert.

Doch Ruh, den Pamela nur freundlich und respektvoll kannte, winkte nachsichtig ab und schmunzelte: »Du junger Hüpfer.«

»Na, jetzt kommen Sie mal«, meinte Pamela. Sie schätzte Markus Klappert auf Mitte fünfzig, sodass die beiden Männer nur etwa fünf Jahre trennen mochten. »Wir sind hier doch alle eine Altersklasse.«

Da sie selbst erst einundvierzig war, schrammte das nicht gerade knapp an der Wahrheit vorbei. Doch beide Männer grinsten geschmeichelt.

Klappert nahm den Faden wieder auf: »Wie gesagt, wir sprachen gerade darüber, wie merkwürdig es ist, dass das Leben auch nach solch einem grausigen Schlag einfach weitergeht. Aber wir haben alle unsere Aufgaben, ne? Der Klub muss weiterlaufen. Die nächste Ausstellung steht an. Die neuen Mitglieder müssen ordentlich begrüßt und eingeführt werden.« Er stutzte. »Ach, je! Die Polizei hat auch den Computer mitgenommen. Wer weiß, wie lange die den behalten. Jetzt kann ich die Mitgliederliste nicht aktualisieren und an die drei Neuen verschicken.« Er wandte sich an Ruh und deutete auf die Tasche an dessen Seite: »Leihst du mir deinen Laptop? Als der Klubrechner kaputt war, hast du Peter …« Er hielt kurz pietätvoll inne, » … ihm hast du deinen Laptop doch damals auch mal geliehen. Da müsste die Liste doch noch drauf sein, oder?«

Thomas Ruhs Gesicht verschloss sich.

»Tut mir leid, aber nein, das geht nicht.«

»Wieso nicht?« Klappert wirkte verdutzt.

»Es geht nicht, weil … ich den Laptop selbst brauche.«

»Aber es würde nicht lange dauern.«

»Außerdem habe ich die Mitgliederliste bestimmt gelöscht.«

»Du hast die Liste gelöscht? Warum das denn? Das ist doch nur eine Word-Datei. Die nimmt so gut wie keinen Platz weg.«

»Mensch, Markus, der Laptop soll nur für meine Fotos da sein.«

Pamela, die wie bei einem Tennismatch zwischen den beiden Freunden hin- und hergesehen hatte, fand, dass Ruh plötzlich irgendwie hilflos wirkte. Da konnte man ja nur für ihn hoffen, dass er keine Kinder hatte. Die hätten ihn in ihrer Pubertät ansonsten ganz sicher mit ellenlangen Argumentationsketten, die am Ende verrückterweise auch noch logisch klangen, nackig ausgezogen.

»Die neuen Mitglieder verstehen das doch bestimmt, wenn es ein paar Tage dauert«, mischte sie sich ein. »Weiß doch bald halb Hattingen, was hier passiert ist.«

Ruh sah sie nahezu dankbar an, und auch Klappert wandte den begehrlichen Blick von dessen Laptoptasche.

»Stimmt. Stand zwar noch nichts in der Zeitung, aber wir haben ja unsere Frau Makler-Sekretärin«, stimmte er ihr zu.

»Tja, dann mach ich mich mal auf den Weg.« Thomas Ruh hob die Hand und war schneller verschwunden, als Pamela Schmierseife hätte sagen können.

Klappert bedachte sie mit einem fragenden Blick.

»Ich wollte nur wissen: Ins Studio darf ja wohl noch keiner rein?«, fragte sie.

»Nein, da soll alles so bleiben, wie es ist. Die Tür ist versiegelt.«

»Und die Dunkelkammer? Ich meine, da standen doch gestern noch die ganzen Schalen und so. Kann ich da den Boden machen?«

»Die Entsorgung der Entwicklerflüssigkeiten hat Thomas schon erledigt. Sie können da walten wie immer. Ich habe in Ihrem Vertrag gesehen, dass Sie üblicherweise drei Stunden hier sind? Meine Frau war ganz beeindruckt, als ich ihr das sagte. Sie hat früher meistens länger gebraucht, obwohl wir da noch sehr viel weniger Mitglieder hatten.«

»Ach ja, Ihre Frau hat früher hier für Ordnung gesorgt, ne? Wie geht’s ihr denn? Sie war ja ziemlich durcheinander, als ich gestern angerufen habe«, erkundigte Pamela sich.

»Durcheinander?«

»Na ja, sie hat gleich die Wochentage durcheinandergeschmissen. Meinte, dass es doch wirklich gruselig wär, dass das mit dem Mord gestern passiert ist. Sie sagte, dienstagabends findet doch sonst immer eine Klubveranstaltung statt, bei der Sie auch immer dabei sind. Dabei ist hier dienstags doch gar nichts. Freier Abend, ne?«, erklärte Pamela.

Klappert schlug ein paarmal mit den Augenlidern, als habe sich ein Staubkorn hineinverirrt. Kein Wunder bei dem ganzen Pulverzeug hier.

»Das ist ja wirklich sonderbar«, sagte er langsam. »Ich meine, dass meine Frau das verwechselt hat. Was hat sie denn gesagt, als Sie ihr von dem üblicherweise freien Dienstagabend im Klub erzählt haben?«

Pamela schüttelte den Kopf. »Hab ich ja gar nicht. Ich dachte, sie ist so durcheinander, da muss ich ja nicht noch so schlaumeiermäßig daherkommen.«

»Das war ganz sicher besser so, sehr freundlich von Ihnen.«

»Ach was, ist doch selbstverständlich.«

»Am besten, Sie erwähnen es ihr gegenüber nicht noch mal. Es wäre ihr bestimmt sehr peinlich. Meine Frau ist in solchen Sachen sehr gewissenhaft.«

»Mach ich natürlich nicht. Wir sehen uns ja sowieso nie.«

Durch Klappert ging ein Ruck, und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

»Also, wie gesagt: Trotz der erhöhten Mitgliederzahlen und dadurch sicher mehr Schmutzaufkommen machen Sie Ihren Job hier immer tippitoppi, Kompliment!«

»Danke.« Pamela sonnte sich in dem netten Lob. So was kam selten genug vor.

»Was halten Sie von einer kleinen Lohnerhöhung?«, schlug der jetzt Erste Vorsitzende des Klubs vor.

Sie grinste. »Da fragen Sie? Wer sagt da schon Nein?«

»Eineurofünfzig mehr?«

»Super!«

»Gut, ich ändere das in Ihrem Vertrag und gebe Ihnen ein Exemplar, wenn wir uns das nächste Mal sehen.«

Pamela freute sich. Neumann war eher der sachliche Typ gewesen, der ihr einmal alles gezeigt, den Vertrag mit ihr ausgehandelt und sie dann irgendwie nicht weiter beachtet hatte. Klappert schien da eher der Menschenfreund zu sein. Einem kleinen Schwätzchen war er offenbar auch nicht abgeneigt, nett.

»Der Klub hatte in den letzten Jahren wirklich ganz schönen Zuwachs, wie?«, erkundigte sie sich. »Haben Sie den Verein nicht mitgegründet?«

Klappert leuchtete regelrecht auf und wippte auf den Fußballen.

»Hab ich. Vor fünfzehn Jahren. War meine Idee. Als die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, dachte ich: ›Was kannst du denn jetzt mal so anstellen?‹ Am Anfang waren wir nur zu siebt. Haben uns in unseren Wohnungen getroffen zur Bildbesprechung. Aber dann kamen immer mehr dazu. Irgendwann konnten wir uns das alles hier leisten. Hat sich rumgesprochen, wie gut wir sind und was wir unseren Mitgliedern zu bieten haben. Ich meine, all das Equipment, das Labor, das Studio, die beiden Beamer und die Leinwand. Dazu die vielen Angebote, Workshops, Ausstellungen.«

So nett der Klappert auch war, wenn er vor Stolz platzen würde, gäbe es eine riesige Sauerei, die sie würde aufwischen müssen, also fragte Pamela rasch: »Und Herr Neumann? Wie lange war der denn schon im Klub?«

Augenblicklich stellte ihr Gegenüber das Wippen ein. Niemand wippt auf den Fußballen, wenn er von einem frisch Ermordeten spricht.

»Peter, hm, der ist … war noch nicht so lange dabei. Keine Ahnung, wie lange genau … ein paar Jahre?«

»Mindestens drei, denn so lange arbeite ich hier, und er hat mich als Vorsitzender damals ja eingestellt.«

Klappert schnalzte mit der Zunge.

»Ach ja, ja, das kann sein.«

»Vielleicht hat er auch nach einer neuen Aufgabe gesucht, so wie Sie damals?«, mutmaßte sie. »War er eigentlich verheiratet?«

»Nein. Nicht mehr. Heutzutage hält ja nicht mal die Hälfte aller Ehen.«

»Wem sagen Sie das?«

»Oh, Entschuldigung.«

»Da nich für. Bei meinem Ex und mir war es für alle Beteiligten besser, wieder getrennte Wege zu gehen.« Pamela grinste ihn an. »Aber Herr Neumann wirkte auch ohne Familie nicht, als würde er sich langweilen. Der war ganz schön aktiv, oder? Was der alles hier im Klub gemacht hat! Der war ja wohl ständig hier. Wohnte er eigentlich auch hier in der Südstadt, irgendwo in der Nähe?«

»Nein, nein, in Niedersprockhövel. Hohe Egge. Auf dem Weg zur A 43 liegt die Siedlung so links hinter dem Wäldchen.«

»Ah ja! Hübsch da. So ländlich.«

»Hm, ja.«

»Aber doch ’ne ganze Strecke bis hierher. Weil er immer zu Fuß kam, wenn ich ihn hier mal gesehen hab, dachte ich, er wohnt in der Nähe«, sagte Pamela und fuhr mit dem Putztuch prüfend über einen der Tische. Feines Pulver, war ja klar.

»Peter durfte nicht fahren, wegen seiner Krankheit«, antwortete Klappert.

Pamela sah ihn fragend an.

Klappert wirkte plötzlich verlegen. »Eigentlich wollte er nicht, dass jemand das weiß. Hat nie selbst darüber gesprochen. Aber jetzt ist es mir irgendwie so rausgerutscht und …«

» … und jetzt stört es ihn ja auch nicht mehr«, vollendete Pamela. »Was war das denn für eine Krankheit?«

»Epilepsie. Wohl schon seit der Kindheit. Er hat es mir gegenüber mal ganz spontan erwähnt, weil wir eine Klubsause in der Disco machen wollten und er deswegen nicht mitgehen konnte. Kaum hatte er das gesagt, wollte er es am liebsten wieder zurücknehmen, glaube ich. Hat mich inständig gebeten, es bloß niemandem zu sagen. Als ob das etwas wäre, wofür man sich schämen muss. Was das Autofahren angeht, hat er immer gemeint, es sei besser für die CO2-Bilanz. Aber es gibt ja viele Leute, die aus unterschiedlichsten Gründen keinen Führerschein haben.«

»Oder ihn wieder abgeben mussten«, ergänzte Pamela und vollführte mit der Hand eine Geste, als führe sie ein Glas an den Mund.

Klappert lachte, wurde dann aber wieder ernst und wechselte das Thema: »Sagen Sie mal, Frau Schlonski, dummerweise werde ich im Büro wesentlich länger brauchen als gedacht. Wäre toll, wenn ich damit heute Morgen fertig würde. Meinen Sie, Sie könnten den Raum irgendwann diese Woche nachholen?«

Pamela überlegte.

»Heute und morgen sind komplett voll. Ich musste ja schon friemeln, damit ich die Zeit heute Morgen rausschlage. Samstag ist Tochterzeit, da unternehmen wir immer was. Aber Leia schläft gern länger. Samstag in aller Frühe?«

»In aller Frühe? Sind Sie sicher? Wollen Sie denn nicht auch ausschlafen?«

Auch das kam nicht oft vor, dass einer ihrer Auftraggeber sich darum Gedanken machte, was eine frühe Arbeitszeit für sie bedeuten mochte.

»Ich bin immer früh wach. Leia freut sich, wenn ich auf dem Heimweg Brötchen mitbringe.«

»Wunderbar. Dann also Samstag. Ich mach dann mal weiter. Akten sichten und so.« Klappert rieb sich die Hände.

»Klingt nach Spaß«, bemerkte Pamela trocken. Doch er war bereits im Büro verschwunden.

Die nächste Stunde hörte und sah Pamela von Klappert nichts. Sie ging ihrer üblichen Routine nach, ließ das Studio natürlich aus, putzte, räumte, wischte. Während sie die gewohnten Handgriffe ausführte, hatte ihr Kopf die Gelegenheit, sich mit anderem zu beschäftigen. Zum Beispiel mit den Informationen, die sie gerade von Klappert über den toten Neumann erfahren hatte.

Irgendwie ergab das Ganze Sinn, fand Pamela und hätte zu gerne Ahsen angerufen, um ihr von ihren Schlussfolgerungen zu erzählen. Doch die war gerade bei Richter Siebert und hatte dort ihr Handy stets auf lautlos gestellt. Pamela würde bis heute Nachmittag warten müssen, bis sie der Freundin alles erzählen konnte.

Der Geschirrspüler piepte. Aber bevor sie den ausräumte, musste sie selbst mal eine kurze Pause einlegen. Der Kaffee vom Frühstück wollte dringend wieder raus.

Als sie sich nach dieser erlösenden Tat gerade die Hände gewaschen hatte und sie am Handtuch abtrocknete, fiel draußen im Flur die schwere Wohnungstür zu. Das Geräusch von klappernden Absätzen durch die Eingangshalle war zu hören.

Nanu, Damenbesuch?

Natürlich gab es im Fotoklub auch Frauen. Aber mit Ausnahme der Studentin Dina mit ihrem Freund Max war Pamela zu ihren Arbeitszeiten hier noch keiner von denen begegnet.

Normalerweise hätte Pamela jetzt ihre Arbeit wieder aufgenommen und sich um die Besucherin keine weiteren Gedanken gemacht. Aber gestern hatte sie hier eine Leiche gefunden. Und deswegen war heute nichts normal.

Vorsichtig lehnte sie die Tür des Toilettenraums nur hinter sich an und schlich auf leisen Sneakersohlen über den Parkettboden zur Schiebetür des Besprechungssaals, die immer noch offen stand.

Sie lauschte, hörte leise Stimmen. Vorsichtig lunzte sie hinein. Niemand zu sehen. Die Frau musste schnurgerade ins Büro marschiert sein.

Das Putztuch, das in ihrem Hosenbund steckte, fest umklammernd, huschte Pamela an der Wand des Besprechungssaals entlang bis zur Tür, die ebenfalls nur angelehnt war.

»Das muss ja ein unglaublicher Schock gewesen sein. Hast du ihn gesehen?«, fragte eine Frauenstimme.

»Nein. Ich bin zwar von einer Beamtin angerufen worden, konnte aber erst herkommen, als er schon … nicht mehr da war. Weiß auch nicht, ob ich das hätte sehen wollen. Der Kommissar hat mit mir gesprochen, wollte ein paar Sachen wissen. Peters Familienverhältnisse und so was«, erwiderte Klappert.

»Ja, sicher, du weißt ja über uns alle bestens Bescheid. Da hätten sie ja niemand Geeigneteren finden können«, sagte die Frau. In ihrer Stimme schwang ein gurrender Unterton. Sie flirtete. Eindeutig. »Und jetzt wühlst du dich durch die Unterlagen? Kommst du durch?«

»Nicht die Bohne. Es ist das reinste Chaos, so wie ich befürchtet habe. Peter konnte noch nie Ordnung halten. Und jetzt schau dir das hier an. Die ganzen Abrechnungen, keine einzige abgehakt oder mit Datum versehen. Ich kann jetzt die Kontoauszüge durchforsten und es nachholen. In der Hoffnung, dass zumindest alles erledigt ist. Mit den Beitragszahlungen der Mitglieder sieht es genauso aus.«

»Wenn du Hilfe brauchst …? Ich bin wirklich gut in solchen Sachen, mit Ordnung und so …«

Das melodische Klingeln des Telefons unterbrach sie.

»Entschuldige …«

»Sicher.«

»Fotoklub Linsenkunst Hattingen, Vorsitzender Klappert am Apparat?«

Stille.

»Ah ja, guten Tag Herr Dr. Domberg. Natürlich weiß ich, wer Sie sind. Die Stillleben-Ausstellung ist schließlich von nationaler Bedeutung, und unser Klub … – Nein, das tut mir leid. Es hat leider … – Ja, das Gerücht ist leider wahr, Herr Dr. Domberg. Herr Peter Neumann ist verstorben. – Nein, Genaues kann ich leider nicht … – Ach so, ja, wenn Sie deswegen anrufen. Sicher, das kann ich organisieren. Ist die Ausstellung denn schon abgehängt? – Ah so. Und er wollte es heute abholen? – Nein, kein Problem. Ich mache das selbst. Habe mir heute freigenommen. Ich komme persönlich. Werden Sie da sein? – Bestens. Gut, das machen wir so. – Bis heute Nachmittag also. Beste Grüße.«

Der Apparat gab ein Piepgeräusch von sich, als Klappert ihn auf die Station zurückstellte.

»Domberg?«, echote die weibliche Stimme im Büro.

»Ja. Er hat auch schon gerüchteweise davon gehört. Aber deswegen hat er nicht angerufen. Die Stillleben-Ausstellung ist seit letztem Wochenende beendet und wurde bereits abgehängt. Peter wollte heute sein Bild abholen … Tja, das muss jetzt jemand anderer übernehmen.«

Beide schwiegen einen Moment.

Pamela hätte zu gern einen Blick riskiert, um zu erfahren, was da drin vorging. Sahen sie sich an? Warum sagten sie nichts?

»Tragisch«, gab Klappert dann mit einer Betonung von sich, die übertrieben und deswegen wenig glaubhaft klang.

Pamela horchte auf. Dieser Tonfall passte gar nicht zu dem Mann, der gerade so freundlich ihre Arbeit gelobt und eine Lohnerhöhung angeboten hatte.

»Da hast du recht«, stimmte die Frauenstimme ebenso zu. »Da hat er es endlich geschafft und mit einem seiner Bilder bei einer landesweit beachteten Ausstellung den ersten Platz belegt. Und dann so was.«

So was, dachte Pamela, bedeutete hier: mausetot.

»Ich könnte das Bild abholen?«, schlug die Frau vor. »Du hast doch genug um die Ohren. Das ist ja ’ne ganz schöne Strecke. Da bist du den ganzen restlichen Tag unterwegs.«

»Lieb von dir, aber ich fahre auf jeden Fall selbst.«

»Verdient hast du es. Dann lernst du Dr. Domberg doch noch persönlich kennen«, stellte sie fest.

»Hm?«

»Na, das wollte Peter doch auf Teufel komm raus vermeiden. Den Kontakt zum Leiter eines der führenden Fotografie-Museen sollte exklusive ihm gehören. Tz …«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete Klappert, plötzlich ein wenig hölzern.

Pamela spitzte die Ohren noch ein wenig mehr.

»Ach, Markus. Darüber haben wir doch schon mal gesprochen und waren da ganz einer Meinung. Den anderen war das vielleicht nicht so klar, wie Peter sie manipuliert und nach und nach auf ihre Seite gezogen hat. Nachdem er dich regelrecht vom Vorsitzendenstuhl geschubst hatte, wollte er dich doch immer am liebsten überall raushalten, hat genau gemerkt, dass du ihm im Grunde haushoch überlegen bist, künstlerisch und menschlich. Ich kann gut verstehen, dass du ihn wieder loswerden wolltest. Er war doch einfach unerträglich. Von daher brauchst du über diese neue Entwicklung wirklich nicht traurig zu sein.«

Wieder Stille.

Doch diesmal glaubte Pamela, es im Büro regelrecht knistern zu hören.

»Willst du damit irgendetwas andeuten?«, fragte Klappert schließlich tonlos.

Die Frau sog erschrocken die Luft ein. »Andeuten? Was meinst du? Natürlich will ich nichts …«

»Das will ich auch hoffen. Natürlich weine ich Peter keine Träne nach. Aber du denkst doch nicht ernsthaft, ich wäre so weit gegangen, ihn wegen Mobbing gegen mich … Ich war den ganzen Abend friedlich mit Hilde zu Hause. Und außerdem: Hier im Klub gibt es bestimmt den einen oder anderen, der mehr Grund gehabt hätte, Peter ins Nirwana zu wünschen. Gero zum Beispiel. Aber ich …«

»Um Himmels willen, Markus! Das hab ich doch gar nicht sagen wollen.« Die Frau klang ehrlich bestürzt.

Vielleicht beruhigte das auch Klappert, denn er setzte seine Tirade nicht fort, was Pamela hinter dem Türspalt sehr bedauerte.

»Wieso Gero?«, fragte seine Gesprächspartnerin nach einer kurzen Pause. »Ich weiß, Peter und er waren mal eine Weile ganz dicke miteinander. Aber das ist doch schon länger nicht mehr so. Ich hatte eher den Eindruck, dass Gero ihn eher gemieden hat in den letzten Monaten. Wie kommst du also darauf, dass Gero was mit dieser Sache zu tun haben könnte?«

Stille.

»Ach, das ist mir nur so rausgerutscht«, brummte Klappert dann. »Blanker Unsinn. Du, ich muss hier wirklich ranhauen. Wenn du also sonst weiter nichts hast?«

»Nein, sonst ist nichts. Ich wollte nur sehen, wie es dir geht«, antwortete die Frau leise.

»Gut. Es geht mir gut. Nur wartet hier wahnsinnig viel Arbeit auf mich.«

»Ich versteh schon. Dann werde ich mal …«

Pamela zuckte zusammen und hastete geräuschlos zur Schiebetür hinüber. Gerade noch rechtzeitig konnte sie durch die Toilettentür schlüpfen und sie hinter sich bis auf einen kleinen Spalt schließen. Da erschienen bereits die Klapperabsätze in der Eingangshalle.

Sie hielten neben der WC-Tür kurz inne, und Pamela hielt die Luft an. Was, wenn die Fremde nun beschlösse, einen Abstecher aufs stille Örtchen zu machen und sie hier im Dunklen entdeckte?

Doch die Frau ging weiter, am Türspalt vorbei. Ehe sie die Wohnungstür aufzog und hinausging, konnte Pamela noch eine ultrakurze Cocacola-rote Frisur über einer flatternden schwarzen Bluse ausmachen.

Sie wartete eine Minute, dann huschte sie hinaus und in die Teeküche, wo sie sich eifrig ans Ausräumen des Geschirrs aus der Spülmaschine machte.

Nachdem sie auch die Toilettenräume gesäubert hatte, packte sie die benutzten Lappen in die Putzbox und betrachtete dabei ausgiebig den Rahmen mit den Klubmitgliedern.

Es gab mehrere kurzhaarige Frauen unter den rund hundert Leuten. Doch nur eine trug diese unverwechselbare Frisur und dazu eine flippige Bluse. Ganz klar, das war sie. Unter dem Porträt stand: Gundula Schneid, Kassenwartin, Naturfotografie.

Pamela schätzte Gundula auf etwa fünfzig. Sie wirkte jünger, weil sie sich nach der gängigen Mode schminkte und lässige Klamotten trug, und grinste verschmitzt in die Kamera.

Weiter ließ Pamela ihren Blick über die Gesichter und die Zeilen darunter wandern – auf der Suche nach einem ungewöhnlichen Vornamen. Und da war er: Gero Winter, Studioporträts. Kein anderer Gero weit und breit. Das musste er sein.

Pamela beugte sich vor und betrachtete ihn genauer.

Im Gegensatz zu Frau Schneid sah Gero Winter äußerst unscheinbar aus. Sein Alter war schwer zu schätzen. Vielleicht war er wie Pamela Anfang vierzig oder ein wenig älter. Blass, schmalgesichtig und mit irgendwie stumpfem Ausdruck wirkte er nicht besonders sympathisch.

Welchen Grund könnte dieser Mann gehabt haben, Neumann um die Ecke zu bringen, so wie Klappert angedeutet hatte?

Ein leises Räuspern ließ Pamela hochfahren.

»Nur die Ruhe. Ich bin es«, sagte Klappert, der in der Schiebetür stand und sie interessiert ansah. Pamela hatte seine Schritte nicht gehört. Wie lange beobachtete er sie schon?

»Puh, ein bisschen sitzt mir die ganze Sache doch in den Knochen«, lachte Pamela nervös, zückte noch einmal ein Putztuch aus der Box und wischte sorgfältig einen imaginären Fleck von der Scheibe des Rahmens vor ihr, genau über Gero Winters Gesicht.

»Ich geh dann mal.«

»Schönen Tag Ihnen. Und vergessen Sie nicht, die Extra­stunden aufzuschreiben.«

»Wird gemacht.« Pamela winkte ihm mit dem Putztuch zu, griff nach ihrer Box und dem Schrubber und machte, dass sie rauskam.

In ihrem Auto, das sie in einer Parklücke abgestellt hatte, saß sie ein paar Minuten still einfach da und grübelte.

Dann griff sie nach ihrem Handy und der Karte, die in dessen Kunstlederhülle steckte.

»Kriminaldezernat, Apparat Vogt.«

»Herr Hauptkommissar? Sie sind das selbst? Hier ist Pamela Schlonski.«

Kurze Pause. Dann: »Guten Tag, Frau Schlonski. Ja, ich bin’s.«

Er fragte nicht mal, was sie wollte. Wahrscheinlich ging er zu Recht davon aus, dass alle, die ihn anriefen, schon automatisch zu reden beginnen würden.

»Hören Sie mal, ich war grad im Fotoklub, die Arbeit von gestern nachholen. Und da hab ich zufällig was erfahren. Wussten Sie schon, dass der Neumann Epilepsie hatte? Und zwar so schlimm, dass er nicht Auto fahren durfte. Eine Freundin meiner Tochter hat Epilepsie, armes Ding. Als sie noch jünger war, so’n kleiner Stöpsel, war das ganz schön schlimm. Diese Anfälle, die Krämpfe und so. Damals hab ich einiges drüber gelesen. Ich dachte, wenn ich mal mit den Blagen auf dem Spielplatz bin, und es geht los, da muss ich doch wissen, was zu tun ist. Jedenfalls gibt es da diese Form von der Erkrankung, bei der die Leute kein Licht vertragen. Also, schon Licht an sich. Aber kein plötzliches Licht, so grelles, wie das Geflacker in der Disco zum Beispiel. Oder eben … Blitzlichter. Da hab ich mich gefragt, ob man daran wohl auch sterben kann.«

Stille in der Leitung.

»Hallo?«

»Ja. Ja, ich bin noch da. Frau Schlonski, Sie sollten sich wirklich nicht in die Ermittlungsarbeit einmischen. Immerhin handelt es sich um ein Tötungsdelikt. Das kann gefährlich werden«, erklang dann die sonore Stimme.

»Is mir klar. Aber wenn ich es doch aufschnappe? Ich dachte, es wäre interessant für Sie. Genauso wie das Gespräch, das ich mitgehört habe. Da ging es drum, dass sowohl der Vorsitzende Markus Klappert als auch ein anderes Klubmitglied, Gero Winter, unheimlichen Brast auf den Neumann gehabt haben müssen. Warum, weiß ich nicht, aber …«

»Frau Schlonski.« Diesmal klang die Stimme nicht mehr überrumpelt, sondern sehr ernst. Beinahe streng.

»Ja?«

»Vielleicht habe ich mich nicht richtig ausgedrückt? Sie mischen sich in polizeiliche Ermittlungsarbeit ein. Etwas, wovon Sie, wie der Großteil der Bevölkerung, keinerlei Ahnung haben. Deswegen sage ich es Ihnen jetzt ganz deutlich: Halten Sie sich da raus!«

Der Kerl war ja noch unerträglicher, als sie bei ihren ersten beiden Begegnungen vermutet hatte.

Pamela schnaubte.

»Wie Sie meinen. Schönen Tag noch, Herr Hauptkommissar!« Dann legte sie auf, ohne auf eine Erwiderung ihres Grußes zu warten.

Mit vor Empörung zitternden Fingern drehte sie den Schlüssel im Zündschloss, und ihr kleiner Wagen sprang an. Sie hatte doch nur helfen wollen. Aber dann eben nicht. Dieser Oberschlaukommissar Von-der-Küste konnte sie mal.