8. Kapitel

6. Mai, Donnerstag, vormittags

Er hatte es einfach gesagt.

Und seit das passiert war, musste er ständig daran denken.

Obwohl niemand seiner Kollegen, auch nicht die netten, nicht mal Thilo, und schon gar nicht seine Eltern in Bremerhaven, etwas von der Trennung wussten, hatte er es vor dieser fremden Frau einfach so ausgeplaudert. Er hatte nicht gezögert oder groß darüber nachgedacht. Es war ihm ganz selbstverständlich über die Lippen gekommen. Und sie hatte, abgesehen von einem kurzen Zögern und verständnisvollen Nicken, nicht darauf reagiert – außer mit der wahrscheinlich beruflich bedingten Schlussfolgerung, dass er eventuell eine Reinigungskraft brauchte.

Dieser Moment war besonders absurd gewesen. Denn er hatte den spontanen Drang empfunden, sich zu rechtfertigen. Er hätte ihr, einer vollkommen Unbekannten, am liebsten versichert, dass er keiner von diesen unsäglichen Kerlen war, die im 21. Jahrhundert immer noch meinten, es sei Frauensache, das Haus sauber zu halten. Er hatte ebenso oft die Böden gesaugt und gewischt, die Spülmaschine ausgeräumt, die Wäsche in den Trockner getan und anschließend sortiert wie Sandra. Nein, seine mangelnde Beteiligung an den häuslichen Pflichten war bestimmt kein Grund zur Klage gewesen.

Na gut, vielleicht hatte er diese Dinge in den letzten Tagen etwas schleifen lassen. In den letzten vier Wochen, um genau zu sein. Seit Sandra in die kleine Ferienwohnung in der Nähe ihres Kosmetiksalons gezogen war, vorübergehend, bis sie eine passende Wohnung gefunden hätte.

Ja, gut, mochte sein, dass er seitdem etwas nachlässig geworden war. Aber konnte diese Pamela Schlonski das tatsächlich wahrgenommen haben? Er erinnerte sich an ihre messerscharfe Beobachtung des Tatorts im Fotostudio. Hatte sie etwa in seinem Zuhause hinter dem Sofa Staubmäuse entdeckt? Mit Adlerauge die ultrafeine Schicht zwischen den Büchern auf dem Billy-Regal wahrgenommen?

Lennard schüttelte den Kopf, als wolle er eine aufdringliche Fliege vertreiben. Er sollte aufhören, sich über diesen kleinen Ausrutscher Gedanken zu machen, dass er einfach so mit etwas derart Privatem herausgeplatzt war. Viel wichtiger war doch, dass Frau Schlonski in ihrem Wunsch gebremst wurde, hier die Miss Marple zu geben.

Solche Leute kannte er. In Bremerhaven musste er einmal einen Rentner daran hindern, den gesuchten Wohnungsräuber, der ihn um sein Erspartes gebracht hatte, via Flugblätter samt selbst gemaltem Phantombild zu suchen.

Aber das hier war irgendwie anders.

Epilepsie. Hm.

Was für eine Idee, ihn deswegen aus dem Nichts heraus anzurufen. Aber so waren die Leute hier im Ruhrgebiet, das sie selbst liebevoll Ruhrpott nannten. Sie nahmen einfach kein Blatt vor den Mund. Wenn sie meinten, etwas zu sagen zu haben, kannten sie keine Hemmungen. Als Laiin nahm Pamela Schlonski natürlich auch die wilden Spekulationen anderer Fotoklubmitglieder so ernst, dass sie dachte, diese seien ihm bei seiner Ermittlungsarbeit eine Hilfe.

Lennard seufzte.

»Ich sollte beizeiten meinen Versetzungsantrag zurück in den Norden einreichen. Was soll ich hier, zwischen all diesen Menschen, mit denen ich wirklich so gar nichts gemeinsam habe?«, murmelte er.

Es klopfte an seine angelehnte Tür, und sie wurde beinahe zeitgleich geöffnet. Das war hier so gang und gäbe.

Thilo streckte den Kopf herein.

»Lennard. Ich dachte, du telefonierst.« Er kam herein, einen großen Umschlag in der Hand.

»Nein, ich … ach, nicht so wichtig.«

»Ich spreche auch immer mit mir selbst, wenn ich in einem Fall nicht weiterkomme«, erwiderte Thilo grinsend. »Aber weißt du, was noch mehr hilft als Selbstgespräche? Mit einem Kollegen zu reden. Hier, ich bin bei der Poststelle vorbeigegangen.«

Lennard erkannte den Stempel der Staatsanwaltschaft.

»Warum schicken die das nicht per …?«

»Serverprobleme.«

»Ach herrje.«

»Ja. Es sind Dutzende Boten unterwegs. Man kommt sich vor wie vor der Erfindung der Faxgeräte.«

Lennard öffnete den Umschlag und zog den Bericht der Gerichtsmedizin heraus, dem ein Schreiben der Staatsanwältin beilag.

Er überflog es.

»Und? Du wirst ja ganz käsig.« Thilo sah ihn besorgt an. »Doch Gift?«

»Nein.« Lennard musste schlucken, weil sein Hals schlagartig trocken geworden war. »Epilepsie.«

»Daran kann man sterben?«

»Offenbar. PSE. Photosensitive Epilepsie. Störung des reticulo-thalamo-corticalen Projektionssystems. Der Anfall wurde durch die Blitzlichter ausgelöst und offenbar so lange gesteuert, bis der spontane Herzstillstand eintrat.«

»Man lernt nie aus.«

»Hm.«

»Hast du den Bericht der KTU schon angesehen? Werner von der SpuSi meinte, dass sie unglaublich viel eingesammelt haben. Aber was Verwertbares ist wohl trotzdem bisher nicht dabei, wie?«

»Den Eindruck habe ich auch.« Lennard warf einen Blick auf seinen Bildschirm, auf dem der vorläufige Bericht noch geöffnet war. »Sehr viele fremde DNS, Haare, Hautschuppen am Hemd. Aber das scheint durch den Sturz und das Herumwälzen am Boden nach dem Schlag auf den Kopf passiert zu sein. Das Stativ, mit dem der Schlag ausgeführt wurde, ist sorgfältig abgewischt worden. Am Gaffaband, mit dem das Opfer gefesselt war, sind keine Spuren – also hat der Täter oder die Täterin Handschuhe getragen. Außer ein paar Fasern des schwarzen Samts vom Tischtuch ist nichts unter den Fingernägeln des Opfers zu finden. Wer immer Peter Neumann an den Stuhl gefesselt hat, muss äußerst vorsichtig vorgegangen sein.«

»Und er oder sie muss einen ordentlichen Brast auf Neumann gehabt haben. So sorgfältig, wie das Gaffatape gewickelt war«, setzte Thilo hinzu.

Brast. Dieses Wort hatte Pamela Schlonski gestern Morgen auch gewählt.

Lennard blinzelte den Gedanken an die Reinigungskraft weg und konzentrierte sich auf den Kern dieser Aussage.

Thilo hatte erst vor Kurzem eine Profiler-Fortbildung gemacht. Die emotionale Lage derjenigen, die ein Verbrechen begingen, spielte dabei eine große Rolle. Aber längst nicht alle Menschen reagierten auf ähnliche Gefühle gleich. Manchmal war ihre Reaktion sogar absolut konträr.

Lennard stand vom Schreibtisch auf und trat an das White­board.

Momentan war darauf nichts Erhellendes zu sehen.

Peter Neumann als Opfer in der Mitte. Um ihn herum mögliche private und berufliche Bezüge. Bisher waren alle Pfeile zwischen dem Opfer und den anderen Personen blau, also neutral.

»Lass mal dein neu erworbenes Wissen spielen!«, forderte Lennard seinen Kollegen auf. »Was sagt dir der Hergang der Tat über den Täter oder die Täterin?«

Thilo betrachtete das Foto, das Neumann auf dem Lehnstuhl zeigte. Dann wandte er sich den Bildern am unteren Rand des Whiteboards zu. Die Blitzlichter. Der umgestürzte Beistelltisch. Das samtene Tischtuch. Die zerbrochenen Gläser samt Weinflasche.

»Nichts, was du nicht auch schon vermuten wirst«, antwortete er dann. »Am Flaschenhals, dem Korkenzieher, der Vase finden sich Neumanns Fingerabdrücke. Er selbst hat diese Sachen vorbereitet. Möglicherweise für ein Date oder einfach nur für ein Foto. Aber da der Wein die teuerste Marke aus seinem eigenen Sortiment war, würde ich mal auf eine Verabredung tippen. Auf einem Foto von den gefüllten Weingläsern würde man schließlich nicht sehen, dass die Flasche fünfzig Euro kostet. Die Tat an sich scheint stark emotional gesteuert zu sein. Vielleicht war auch Romantik im Spiel. Der teure Wein, die rote Rose.«

»Also suchen wir nach einer Frau?«, fasste Lennard zusammen.

Thilo zögerte deutlich.

»Möglich«, sagte er dann.

Lennard warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Das ist es, was jeder automatisch annehmen würde, nicht? Aber das Offensichtliche ist längst nicht immer die Wahrheit: Ein Mann ist umgekommen. Wahrscheinlich war ein Date im Spiel. Also suchen wir nach einer Frau. Genau das ist es, was jeder reflexartig denkt«, erklärte Thilo achselzuckend.

War da ein winziger Anflug Verlegenheit in seinem markanten Gesicht? Doch als Lennard ihn erneut musterte, drehte Thilo sich weg und betrachtete die lange Namensliste, die an die eine Seite des Boards gepinnt war.

Lennard dachte an Tina Bruns, die keinen Hehl daraus machte, dass für sie das Mann-Frau-Ding, wie sie es mal genannt hatte, nicht infrage kam. Meinte Thilo etwa, dass sie in Sachen Date ebenso die Augen nach einem Mann aufhalten sollten? Aber Neumann war doch mit einer Frau verheiratet gewesen. Hm, andererseits gab es ja auch viele, die an beiden Ufern fischten. Und wieso auch nicht? Ja, gar nicht so dumm dieser Gedanke. Schlagartig kam Lennard sich furchtbar konservativ vor. Wieso war er nicht selbst auf diese Idee gekommen?

»Soll ich den Plan zur Befragung der Klubmitglieder aufstellen?«, schlug Thilo vor, ohne weiter auf seinen Hinweis einzugehen. Aus irgendeinem Grund schien ihm das Thema unangenehm zu sein, obwohl er doch so ein offener, lockerer Typ war und mit Tina öfter kleine Scherze über ihre Flir­tereien mit anderen Frauen machte.

»Gern. Wir brauchen alle Adressen und einen Entwurf, wie wir sie am effektivsten aufsuchen können. Priorität haben diejenigen, die laut Aussage des Zweiten Vorsitzenden mehr mit Neumann zu tun gehabt haben.«

Thilo nickte. »Da sitzt Tina bereits dran. Möchtest du die Priorisierten selbst befragen? Dann such ich mir mit Tina ein paar der anderen raus.«

Lennard nickte.

Thilo war schon fast zur Tür hinaus, als Lennard sich noch einmal räusperte.

Wahrscheinlich gab es im Dezernat keinen anderen, der so einen feinen Hinweis verstanden hätte, doch Thilo hielt inne.

»Setz auf jeden Fall Markus Klappert auf meine Liste. Und genauso … da muss es jemanden geben, der Winter heißt. Karl?« Lennard warf einen Blick auf die Liste. »Gero. Er heißt Gero Winter.«

»Bestimmter Grund, warum du ausgerechnet die beiden selbst sprechen willst?«, erkundigte Thilo sich neugierig.

Lennard zuckte mit den Achseln. »Nur ein Bauchgefühl.«