9. Kapitel

6. Mai, Donnerstag, mittags

»Ganz klar hat der Klappert ihn um die Ecke gebracht!« Ahsen war sich hundertprozentig sicher, wie jedes Mal. »Überleg mal: Der Klub, das war sein Baby. Er hat den Verein vor fünfzehn Jahren gegründet und ihn groß werden sehen. Und dann kommt so’n Neumann und setzt sich fett ins gemachte Nest. Mobbing, hat Klappert gesagt? Ja, ne? Also, Mobbing ist echt ’ne fiese Sache. Da haben schon andere gemordet, die ständig gepiesackt worden sind. Also wenn meinem Schwiegerpapa so was mit dem Taxiunternehmen passieren würde … dann wär aber was los in der Stadt, das kann ich dir sagen!«

Es war Mittagspausenzeit.

Üblicherweise fuhr Pamela im Anschluss nach Hause, um aus gesundem und definitiv tierfreiem Gemüse ein Gericht für Leia und sich zu kochen. Doch Leia würde heute noch einmal den Nachmittag und Abend bei Mike verbringen. Und so hatte Pamela die Gelegenheit genutzt und Ahsen bei deren aktueller Putzstelle besucht. Die Hausbesitzer waren bei der Arbeit. Und die beiden hatten es sich bei einem Eistee im Wintergarten gemütlich gemacht.

Pamela liebte ihre Freundin sehr. Doch ihr kriminalistischer Spürsinn ließ sie selbst bei der Aufklärung diverser Fernsehkrimis regelmäßig im Stich. Deswegen war Pamela auch diesmal vorsichtshalber skeptisch.

»Vielleicht«, antwortete sie nur vage. »Mein Bauch sagt mir aber, dass wir uns an diesen Gero Winter halten sollten. Ich hab ihn gleich mal im Internet gecheckt. Guck mal.« Sie hielt Ahsen ihr Smartphone hin.

»Hmpf«, machte die.

»Nicht gerade hübsch, hm?« Pamela grinste. »Ich meinte aber die Adresse.«

»Wolfskuhle? Ist das nicht …?«

»Niederwenigern«, bestätigte Pamela. »Da hast du doch diese alte Dame, bei der du immer das Kellerregal umsortieren sollst. Meinst du, du könntest sie mal fragen, ob sie diesen Winter kennt? Der Stadtteil ist doch ein Dorf. Da weiß doch jeder über jeden Bescheid.«

Ahsen schüttelte den Kopf. »Frau Kockel ist gerade im Urlaub bei ihrer Tochter.«

»Menno. Das war der einzige Kontakt in den Stadtteil, der mir einfiel.«

»Aber …«

»Nein, kommt nicht infrage!«, wehrte Pamela sofort ab, die wusste, worauf ihre Freundin hinauswollte.

»Ach, mach doch keine Fisimatenten!«, schmollte Ahsen mit geschürzten Lippen. »Barnaby oder Lewis oder Thiel würden da nicht lange zaudern. Kontakt ist Kontakt, auch wenn’s schwerfällt. Du hast doch jetzt fast zwei Stunden Zeit bis zur nächsten Stelle. Hau rein! Oder meinst du, so eine echte Ermittlerin hätte Angst vor ihrer eigenen …?«

»Is ja gut!« Pamela hob kapitulierend die Hände und seufzte. Aber sosehr sie auch überlegte, ihr fiel keine andere Lösung ein, ein wenig mehr über diesen geheimnisvollen blasshäutigen Gero Winter herauszufinden.

Die Worte dieses Oberschlaukommissars kamen ihr wieder in den Sinn. Dass sie nämlich gar keine Ahnung hatte, wie man bei so einer Ermittlung vorging. Und das gab den Ausschlag.

Manchmal musste man eben in den sauren Apfel beißen. Sie würde es tun.


»Tante Christa!«, rief sie mit aller Euphorie, zu der sie auf dieser Türschwelle fähig war.

»Pamchen. Was beschert mir denn diese Ehre?«, entgegnete die vier Jahre jüngere Schwester ihrer Mutter. »Na, dann komm mal rein, du verlorene Nichte.«

Die kleine, kompakt wirkende Frau marschierte ihr vo­raus über die weiß glänzenden Fliesen des geräumigen Eingangsflures. Mit der Energie eines Feldmarschalls bog sie zur Küche ab, was Pamela nur recht war. Wichtiger Besuch wurde stets in das große, mit schweren Ledergarnituren, dicken Berberteppichen und wallenden Volants ausgestattete Wohnzimmer geführt, in dem sie sich schon als Kind und Jugendliche nie wohlgefühlt hatte.

»Kaffee?«

»Och ja, danke.«

»Und was treibt dich her? Ist doch nichts mit Marlies?« Zwei Pads in der Hand, hielt Tante Christa am vor modernem Design nur so blitzenden Kaffeeautomaten inne und sah sie an.

»Nein, nein, alles okay mit Mama. Ich war nur gerade in der Nähe …«

»Hast du hier etwa eine Putzstelle?«, hakte Tante Christa wie elektrisiert nach. Ihr Blick huschte zur Tür. »Doch hoffentlich nicht bei den Ehrbergs? Die haben doch jemanden gesucht. Ich hab aber extra nichts gesagt, weil die doch gar nicht wissen, dass du …«

»Nein, keine Putzstelle«, unterbrach Pamela sie. »Ich war auch nicht zufällig hier. Um ehrlich zu sein, bin ich extra wegen dir hergekommen.«

Das verblüffte Tante Christa so sehr, dass sie kurz schwieg.

»Wie geht’s Onkel Horst?«, erkundigte Pamela sich höflich.

Ihr großer, starker Onkel, der sie schon als Kind an einen gutmütigen Bären erinnert hatte, war immer wesentlich mehr ihr Fall gewesen als die energische Tante Christa.

Horst Schnarrenbeck führte in der Stadt einen außerordentlich gut laufenden Biobäckereibetrieb mit drei Verkaufsläden, der im Kreis marktführend war. Doch er selbst hatte sich nie etwas auf seinen beruflichen Erfolg eingebildet. Im Gegensatz zu seiner Frau.

Tante Christa bedachte sie mit einem kurzen misstrauischen Blick, drückte auf einen Knopf am Kaffeeautomaten und rückte den Kaffeebecher zurecht.

Pamela wusste, dass sie vor Neugier auf den eigentlichen Anlass für Pamelas unerwartetes Erscheinen fast platzen musste. Was das Interesse an Klatsch und Tratsch anging, stand sie ihrer Schwester in nichts nach – doch würde Tante Christa das niemals zugeben. Stattdessen betonte sie gern ihren versierten Einsatz aller höflichen Umgangsformen, die der Frau eines erfolgreichen Unternehmers angemessen waren. Anders als Marlies würde sie nie sofort auf den Punkt kommen und einfach mit der Frage nach Pamelas Besuchsgrund herausplatzen.

»Arbeitet zu viel. Wie immer viel zu viel. Aber so ein großer Betrieb braucht eben eine starke Hand. Tja, so ist das, wenn man es zu etwas bringen will, Pamchen. Man muss ganzen Einsatz zeigen. Axel sagt das auch immer. Hat Marlies erzählt, dass er befördert worden ist? Jetzt hat er fünf Mitarbeiter unter sich.«

Pamelas Cousin arbeitete als Steuerberater in einem großen Büro und galt in Tante Christas Lobgesängen auf ihn schon immer als leuchtendes Vorbild für alle Beamten, Arbeitnehmer und besonders für seine Cousine.

Axel war echt in Ordnung und konnte nichts dazu, dass Tante Christa ihn Pamela gern als Idol präsentierte. Genau wie Onkel Horst lachte er gerne, hatte einen mitreißenden Humor. Wahrscheinlich war er der einzige Steuerberater in Deutschland, der als Zeitvertreib noch eine Witze-App fürs Smartphone vertrieb.

»Ja klar, hat Mama erzählt. Super ist das. Und wie geht’s Carolin? Alles okay mit den Zwillingen?«

»Ach, die beiden sind sooo süß!« Tante Christa verdrehte schwärmerisch die Augen und stellte einen Becher mit schäumender Milch auf perfekt gebrühtem Kaffee vor Pamela ab. Verdammt, sie hatte vergessen zu sagen, dass sie keine Kuhmilch mehr trank. »Stell dir vor, neulich haben sie ›Der kleine Vampir‹ gespielt. Carolin hat sie überall im Haus gesucht. Und wo waren sie? Hatten sich im Lager in den Särgen versteckt, die kleinen Schlingel.«

Pamelas Cousine Carolin und deren Mann führten ein Bestattungsunternehmen, der ideale Spielort für Heranwachsende.

Pamela grinste. »Das bringt mich doch glatt auf das Thema, wegen dem ich …«

»Ja?«

»Sag mal, hast du auch Hafermilch?«

Tante Christa war kurz vorm Explodieren.

»Geht auch Soja?«

»Geht auch.«

Kaffeepad. Becher. Maschine. Alles mit einer einzigen Handbewegung, wie es schien. Sogar der Kaffeeautomat gab alles.

Als schließlich der Sojamilchkaffee vor Pamela stand und Tante Christa ihr gegenüber Platz genommen hatte, fragte die: »Was wolltest du gerade sagen? Ich hatte dich unterbrochen.«

Pamela spielt kurz mit dem Gedanken, so zu tun, als sei ihr der Gedanke entfallen, einfach nur, weil es witzig war, ihre Tante auf glühenden Kohlen zu sehen. Doch die elegante Küchenuhr mahnte sie an ihre nächste Putzstelle.

»Wundert mich eigentlich, dass Mama dich noch nicht deswegen angerufen hat«, sagte sie also und betrachtete ihre Fingernägel. »Aber wahrscheinlich hat sie es wegen der Polizei nicht gemacht. Stillschweigen und so.«

»Polizei?«, hauchte Tante Christa. Ihre Wangen röteten sich.

Pamela holte tief Luft und sagte dann mit diesem dramatischen Zittern in der Stimme, das Leia früher schon beim Vorlesen so geliebt hatte: »Ich hab eine Leiche gefunden!«

Ihre Tante hob die Hände an den Mund und war sprachlos. Wegen Letzterem machte Pamela sich eine gedankliche Notiz, dass sie diesen Tag in ihrem Kalender vermerken musste.

»Im Fotoklub, eine meiner Arbeitsstellen. Die Kripo ermittelt in dem Fall. Eindeutig keine natürliche Todesursache. Da hat jemand verdammt viel nachgeholfen.«

»Oh mein Gott! Pamchen!«

»Ja. Es war gruselig, sag ich dir«, flüsterte Pamela, als vermute sie hier in der Schnarrenbeck’schen Küche Abhörwanzen. »Ich darf natürlich nichts Näheres darüber sagen …«

»Natürlich nicht.« Ihre Tante starrte sie wie gebannt an.

»Das wäre ganz gegen die strikte Anweisung der Kripo.«

»Dann erst recht nicht.«

»Niemand darf etwas darüber wissen.«

Tante Christa biss sich auf die Unterlippe. »Versteht sich von selbst.«

»Aber bei dir wäre so was ja sicher.«

»Natürlich, Pamela. Das weißt du doch. Ich kann schweigen wie ein Grab«, wisperte Tante Christa.

»Der Erste Vorsitzende vom Klub wurde ermordet.«

Tante Christa riss die Augen auf.

»Davon stand nichts in der Zeitung!«

»Natürlich nicht. Sie haben ja den Täter noch nicht.«

»Hast du den etwa gesehen?«

»Nein, nein. Als ich in den Klub kam, war der Neumann längst tot.«

»Na, Gott sei Dank. Ich meine …, dass du dem Mörder nicht in die Arme gelaufen bist. Und die Polizei hat noch keine Spur, sagst du?«

Pamela witterte ihre Chance. »Erst mal müssen ja alle Leute befragt werden, die den Toten kannten. Vielleicht weiß ja einer von denen was«, fabulierte sie. Klang logisch. So machten das zumindest die Ermittler in Ahsens heiß geliebten Fernsehkrimis. »Familie. Job. Und dann natürlich die ganzen Klubmitglieder. Die kommen von überall her. Essen, Bochum, Sprockhövel, Witten, Niederwenigern …«

»Was? Von hier kommen auch welche?« Tante Christa hatte den Köder geschnappt.

»Ja klar. Kennst du einen Gero Winter?«

Jetzt war der Ehrgeiz ihrer Tante geweckt. Mit zusammengekniffenen Augen richtete sie den Blick durch das Fenster mit den Butzenscheiben hinaus in die Ferne.

»Winter, Winter«, murmelte sie. »Gero Winter.«

Pamela ließ ihr Zeit und probierte derweil den Sojamilchkaffee mit extra viel Schaum. Lecker.

Da erschien plötzlich ein Leuchten auf dem Gesicht ihrer Tante.

»Ach ja, sicher! Dass mir das nicht sofort eingefallen ist! Wolfskuhle, richtig?«

Pamela hob in gespielter Ahnungslosigkeit die Schultern.

»So ein blasser Typ. Unscheinbar.«

»Ja, ja! Das ist er! Ach, und der ist in einem Fotoklub? Mit ’ner Kamera hab ich den noch nie gesehen.«

»Triffst du ihn denn öfter?«, forschte Pamela nach.

Das Interesse ihrer Nichte beflügelte die Bäckersgattin.

»Also, immer wenn ich mal im Lotto-Laden bin, ist der eigentlich auch da. Aber mehr als ›Guten Tag, guten Weg‹ hab ich mit ihm noch nie gesprochen. Der steht immer bei den Zeitschriften und sucht nach Preisausschreiben. Gerda lässt ihn, weil er so’n guter Kunde ist. Der spielt alles, sagt sie. Lotto, Toto, Fußballwetten, Rubbellose. Muss ein Heidengeld bei ihr lassen. Ist bestimmt süchtig. Gibt es ja, Spielsucht. Aber Glück kann er ja trotzdem mal haben. Beim Lotto hatte er schon mal einen Fünfer, waren so an die zehntausend Euro, sagt Gerda. Vielleicht hat er bei einem von diesen Spielen auch das Geld für sein Haus gewonnen. Weil so ganz allein und als einfacher Finanzbeamter kann man sich so ein schickes großes Haus doch nicht leisten. Hier, das mit dem knallblauen Dach. Da kommst du direkt dran vorbei, wenn du zu uns kommst. Architektenhaus mit großem U-Boot-Fenster unten, Niedrigenergie und so.«

»Ach, der Winter ist Finanzbeamter?«, hakte Pamela nach.

Tante Christa winkte ab. »Ein kleines Licht. Axel hatte mal wegen einer Klientin mit ihm zu tun. Stell dir vor, die Frau sollte Steuern unterschlagen haben. Aber als sie dann nachgeforscht haben, stellte sich raus, dass der Winter einfach ein Formular falsch ausgefüllt hatte. Pff. Na, da würd ich mich aber bedanken. Und … sag mal«, sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern, »der soll also was mit dem Mord an dem Klubvorsitzenden zu tun haben?«

Pamela riss dramatisch die Augen auf.

»Was? Aber nein! Davon war doch gar nicht die Rede. Ich hab nur gesagt, dass es auch Klubmitglieder hier in Niederwenigern gibt.«

Tante Christa wusste offenbar nicht recht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte.

Pamela nahm ihr die Entscheidung ab: »Man weiß ja auch noch nichts über das Motiv. Stell dir vor, es war reine Mordlust. Nein, dann lieber ein spielsüchtiger Nachbar, oder?«

»Um Himmels willen! Natürlich!«

»Siehste.«

Sie schlürften beide den Schaum vom Kaffee.

»Sah es denn nach Mordlust aus?«, erkundigte sich Tante Christa samt leichtem Schaudern.

»Ich hab schon viel zu viel gesagt«, meinte Pamela mit gespielt schlechtem Gewissen, das hoffentlich geschickt verbarg, dass sie im Grunde gar nichts gesagt hatte. Im Gegensatz zu ihrer Tante.

»Ja, sicher. Wenn die Kriminalpolizei das so sagt, dass du nichts weiter erzählen darfst …« Tante Christa schwenkte ihren Becher. Dann hob sie wieder den Blick. »Hast du was mit dem Hauptkommissar zu tun gehabt? Dem von der Nordsee?«

Pamela blinzelte.

»Ähm … Hauptkommissar Vogt. Ja, der leitet die Ermittlungen. Wieso …?«

»Nicht, dass ich neugierig wäre. Aber man hört ja so einiges. Sieht der wirklich so unverschämt gut aus?«


Als Pamela zehn Minuten später das Haus ihrer Verwandten verließ, schwirrte ihr der Kopf.

Noch eine halbe Stunde, bis sie bei Familie Wevelpreis aufschlagen musste. Dort erwarteten sie hundert Quadratmeter, die in der Regel mit Legosteinen und Stofftieren übersät waren, während sich auf allen höher gelegenen Oberflächen Teebecher, Strickzeug und Kochbücher stapelten, sodass die erste Stunde stets für Aufräumen draufging.

Die Fahrt nach Hattingen-Zentrum führte sie an der Ruhr entlang, die jetzt zum warmen Maibeginn träge dahinfloss, flankiert von leicht bekleideten Leuten samt Picknickdecken auf der einen und den gewaltigen Heckrindern, die an Auerochsen erinnerten, auf der anderen Seite.

Irgendwie typisch für diese Region: Sonnenbadende Halbnackte direkt neben einem Vogelschutzgebiet, getrennt von einem Fluss, der noch vor Jahrzehnten Kohledreck transportiert hatte und heute als einer der saubersten Flüsse Deutschlands galt. Das Ganze am Fuße der alten Isenburg, die von schönstem Laubwald umgeben war.

Wie musste es sich anfühlen, wenn man aus einer Landschaft kam, die einfach nur flach und unbewaldet in ein Meer endete, das irgendwie nie da war, weil ständig Ebbe herrschte, und dann nichts als Matsch zurückließ?

Pamela schüttelte den Kopf.

Von all den Gedanken, die ihr nach dem Besuch bei Tante Christa durch den Kopf schossen, war es ausgerechnet das, worüber sie jetzt nachdachte? Tz.

Sie zwang sich, alles beiseitezuschieben, was nicht mit Gero Winter zu tun hatte.

Beim Vorbeifahren hatte sie einen gründlichen Blick auf sein Haus werfen können: wirklich ein ziemlich großes und sicher ziemlich teures Heim für einen alleinstehenden Mann. Es fiel inmitten der anderen protzigen Gebäude nicht weiter auf. Alle hatten sie große Einfahrten, in denen mindestens ein SUV stand, breite Haustüren mit geschliffenen Buntglasfenstern darin, zu Tode gepflegte Vorgärten mit nichts als hohem Gras und viel Stein.

Das Haus mit dem metallisch schimmernden blauen Dach zierte ein großes, kreisrundes Fenster, hinter dem eine stylische Lampe auszumachen gewesen war. Pamela hatte durchs heruntergelassene Fenster ihres kleinen Fiats das Geld gerochen, das hinter alldem stecken musste.

Wie kam ein kleiner Finanzbeamter also an so einen Kasten?

Dass Gero Winter sein Vermögen einem Lottogewinn verdankte, bezweifelte sie. Das hätte Lotto-Laden-Gerda doch niemals für sich behalten können.

Aber Moment mal! Was hatte Tante Christa da so eher nebenbei erzählt? Über diese merkwürdige Sache mit der vermuteten Steuerhinterziehung, die eine von Axels Klientinnen betroffen hatte.

Winter hatte angeblich ein Formular falsch ausgefüllt?

Hm. Aber was, wenn das nur eine gute Begründung für einen geplanten, dann jedoch aufgedeckten Betrug gewesen war?

Was, wenn Winter bei ausgewählten reichen Bürgern immer mal wieder ein Auge zudrückte, wenn sie Moneten an der Stadtkasse vorbeischmuggeln wollten? Wie erkenntlich würden sich diese Begünstigten dann zeigen? Würde ihre Dankbarkeit ausreichen, um so eine teure Immobilie zu kaufen und zu unterhalten?

Pamela bog an der Ampel am Ende der Isenbergstraße links Richtung Stadt ab und spürte, wie ihre Hände am Lenkrad leicht zu schwitzen begannen.

Das konnte eine Spur sein.

Wenn Winter den Reichen der Stadt die Steuerhintertürchen offen hielt und dadurch einen guten Nebenverdienst erzielte, wäre es bestimmt nicht in seinem Sinne gewesen, wenn jemand davon Wind bekommen hätte. Jemand aus dem Fotoklub zum Beispiel. Vielleicht jemand, dem er mal davon erzählt hatte, als sie beide noch … – wie hatte Gundula Schneid es ausgedrückt? – … ganz dicke miteinander gewesen waren.

»Wenn ich solche Nebeneinkünfte hätte«, überlegte Pamela laut, »dann hätte ich zumindest ein kleines Notizbuch oder so was, wo ich die aufschreiben würde. Schon, damit ich nicht den Überblick verliere. Und das würde ich natürlich irgendwo zu Hause aufbewahren.«

Irgendwo in diesem großen, schicken uneinnehmbaren Haus.

In das sie natürlich niemals hineingelangen könnte, um dort nach genau so einem Notizbuch zu suchen.

Pamela seufzte, als sie den Wagen auf der Straße vor dem Haus von Familie Wevelpreis abstellte. Diese Gedanken würden sie wohl nicht weiterbringen.

Kaum hatte sie den Wagen umrundet, wurde die Haustür aufgerissen, und drei Kinder im Alter zwischen vier und sieben Jahren stürzten ihr entgegen.

»Mella! Mella!«, kreischten sie im Chor und hüpften an ihr hoch.

»Hallo, ihr Rasselbande!«, rief Pamela und umarmte die drei alle zusammen. »Küsschen für Lotta, Küsschen für Marti, Küsschen für Rieke!« Ihr Gesicht wurde überdeckt mit speichelfeuchten Kinderküssen, die sie lachend abwischte.

Sabrina erschien in der Tür, wie üblich in Yogahosen und mit einem Teebecher in der Hand.

Weil sie ihre Brut kannte, versuchte sie erst gar nicht, durch das schrille Getöse zu dringen, sondern wartete ab, bis die Gören quietschend wieder an ihr vorbeigerannt waren und mit unbekannten Zielen im Haus verschwanden.

»Wie gut, dass du heute kommst!«, stöhnte sie dann. »Die Kinder haben im Badezimmer neue Fensterfarbe ausprobiert. Aber die ist wohl wirklich nur für Fenster, weil … ach, siehst du ja gleich selbst. Ich hatte so doll gehofft, dass ich in diesem Preisausschreiben von Esoterisches Zuhause Heute gewinne. Kennst du die Zeitschrift? Die ist meeega! Und die haben eine komplette Hausreinigung verlost, inklusive Räucherwerk und Feng-Shui-Beratung. Hach. Aber ich hab bei so was nie Glück. Jetzt bleibt es an dir hängen.«

»Feng Shui kann ich nicht. Aber für alles andere bin ich doch da«, antwortete Pamela grinsend und wuchtete ihre Putzbox aus dem Kofferraum auf ihre Hüfte. Doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne.

»Ist was?«, wollte Sabrina sofort beunruhigt wissen. »Du hast dich doch nicht verhoben, oder so?«

Pamela gab sich nicht der Illusion hin, dass die junge Mutter aus Sorge um sie fragte. Wahrscheinlich sah sie nur die ersehnte Hilfe in einer Krankschreibung verschwinden. Daher lächelte sie ihre Kundin strahlend an.

»Aber nein. Mir ist nur gerade eine wirklich geniale Idee gekommen. So, aber jetzt zu der Fingerfarbe. Zeig mir mal den Tatort!« Und sie folgte Sabrina hinein.