Er steht auf der Straße, an einer Wand. In Anzug und Krawatte. Abstehende Ohren, misstrauischer Blick, kurze weiße Haare. Er ist mager, schmalschultrig. Gut sichtbar hält er eine Zeitschrift vor sich, man kann den Titel lesen, Awake. Die Bildunterschrift lautet: Jehova’s Witness – Los Angeles. Das Foto stammt von Neunzehnhundertfünfundfünfzig. Er sah aus wie ein kleiner Junge. Er ist seit langem tot. Er zog sich anständig an, wenn er seine frommen Traktate anbot. Er war allein, erfüllt von trauriger, verbissener Hartnäckigkeit. Zu seinen Füßen ahnt man eine Aktentasche (der Griff ist zu sehen), darin die Dutzende Traktate, die niemand oder so gut wie niemand ihm abnehmen wird. Auch diese in sinnlos hoher Auflage gedruckten Schriften gemahnen an den Tod. Diese Anfälle von Optimismus – zu viele Gläser, zu viele Stühle … –, wir besitzen viel zu viele Dinge und berauben sie gerade dadurch ihres Sinnes. Die Dinge und unsere Mühen. Die Wand, vor der er steht, ist riesenhaft. Das errät man an ihrer schweren Undurchdringlichkeit, der Größe der behauenen Steine. Sie steht sicher immer noch dort in Los Angeles. Der Rest hat sich irgendwo aufgelöst: der kleine Mann mit den spitzen Ohren im schlotternden Anzug, der sich vor die Wand gestellt hatte, um eine fromme Zeitschrift zu verteilen, sein weißes Hemd, die dunkle Krawatte, die an den Knien durchgescheuerten Hosenbeine, seine Aktentasche, all die Hefte. Was zählt es schon, wer man ist, was man denkt, was aus einem wird? Man steht irgendwo in der Landschaft, bis zu dem Tage, an dem man nicht mehr da ist. Gestern hat es geregnet. Ich schlug mal wieder The Americans von Robert Frank auf. Es war irgendwo im Bücherschrank in ein Regal geklemmt. Ich schlug das Buch auf, zum ersten Mal seit vierzig Jahren wieder. Ich erinnerte mich an den Typen, der auf der Straße seine Zeitschriften darbietet. Das Foto ist körniger, blasser als in der Erinnerung. Ich wollte mir The Americans noch einmal ansehen, das traurigste Buch der Welt. Tote, Tankstellen, einsame Gestalten mit Cowboyhut. Beim Blättern wandern Jukeboxes vorbei, Fernseher, die Gegenstände des jungen Wohlstands. Sie stehen ebenso einsam da wie der Mann, überdimensionierte Neuankömmlinge, zu schwer, zu licht, in unvorbereitete Räume hineingestellt. Eines schönen Morgens werden sie entfernt. Noch eine kleine Runde werden sie drehen auf dem holprigen Weg zum Schrottplatz. Man steht irgendwo in der Landschaft, bis zu dem Tage, an dem man nicht mehr da ist. Mir fiel der Scopitone ein, die Film-Jukebox im Hafen von Dieppe. Um drei Uhr früh fuhren wir mit dem 2CV los, um das Meer zu sehen. Ich war sicher erst siebzehn und in Joseph Denner verliebt. Wir saßen zu siebt in den Wagen geklemmt, dessen Hinterteil über den Boden schrammte. Ich das einzige Mädchen. Denner am Steuer. Wir rasten nach Dieppe und tranken Billigbier, Valstar Rouge. Um sechs trafen wir im Hafen ein, gingen in die erstbeste Spelunke und bestellten Picon-Bière. Im Lokal stand ein Scopitone. Unter Lachanfällen sahen wir den Sängern zu. Einmal hatte Denner Le Boucher von Fernand Reynaud gewählt, der Sketch und der Picon sorgten dafür, dass wir Tränen lachten. Dann fuhren wir wieder nach Hause. Wir waren jung. Wir wussten nicht, dass das unwiederbringlich war. Heute bin ich zweiundsechzig. Ich könnte nicht sagen, dass ich es verstanden hätte, ein glückliches Leben zu führen, ich könnte mir in der Stunde meines Todes keine siebzig von hundert Punkten geben wie der eine Kollege von Pierre, der gesagt hat, ach komm, sagen wir mal siebzig von hundert, ich würde eher sagen sechzig, das wirkt weniger undankbar oder anmaßend, ich würde sagen, sechzig von hundert, auch wenn das ein bisschen geschummelt wäre. Wenn ich mal unter der Erde bin, was macht das dann noch? Ob ich es verstanden habe, glücklich zu sein, ist dann allen scheißegal, und mir erst recht.

Zu meinem sechzigsten Geburtstag lud Jean-Lino Manoscrivi mich zum Pferderennen nach Auteuil ein. Wir begegneten uns immer im Treppenhaus, wir beide gingen zu Fuß hoch, ich, um eine halbwegs genießbare Figur zu behalten, er aus Platzangst. Er war schlank, nicht groß, hatte ein schmales Gesicht, eine breite, fliehende Stirn, darübergekämmt die berüchtigten Strähnen, die Glatzköpfe kaschieren sollen. Er trug Brille, ein klobiges Gestell, das ihn älter machte. Er wohnte im Fünften, ich im Vierten. Diese Begegnungen im Treppenhaus, das ansonsten kein Mensch benutzte, schufen zwischen uns ein gewisses Einverständnis. In manchen Neubauten liegt das unansehnliche Treppenhaus abseits und dient nur den Möbelpackern. Dann reden die Mieter von der Seitentreppe. Eine Zeit lang kannten wir uns noch nicht richtig, ich wusste nur, dass er mit elektrischen Haushaltsgeräten zu tun hatte. Er wusste, dass ich im Institut Pasteur arbeite. Meine genaue Berufsbezeichnung, Patentingenieurin, sagt keinem Menschen etwas, und ich versuche nicht mehr, es so zu erklären, dass es attraktiv klingt. Einmal haben Pierre und ich ein Glas bei ihnen oben getrunken, beide Paare zusammen. Seine Frau war eine Art New-Age-Therapeutin, früher Filialleiterin in einem Schuhgeschäft. Sie waren noch nicht lange verheiratet, also, im Vergleich zu uns. Als ich Jean-Lino am Vortage meines Geburtstags auf unserer Treppe begegnete, sagte ich, morgen werde ich sechzig. Ich schleppte mich die Treppe hoch, es rutschte mir so heraus. – Sie sind noch keine sechzig, oder, Jean-Lino? Er antwortete, bald. Ich sah, dass er gern etwas Freundliches gesagt hätte, sich aber nicht traute. Als ich den Treppenabsatz vor meiner Wohnung erreichte, sagte ich, für mich war’s das, jetzt sind die Jungen dran. Da fragte er, ob ich schon mal beim Pferderennen gewesen sei. Ich verneinte. Stotternd lud er mich ein, falls ich Zeit hätte, könnte ich ihn ja morgen zur Mittagszeit in Auteuil treffen. Als ich an der Rennbahn eintraf, saß er im Restaurant, hing an den Fensterscheiben über dem Paddock. Auf dem Tisch ein Eiskühler mit einer Champagnerflasche, daneben ausgebreitet Rennzeitungen voller Notizen, verstreute Erdnussschalen, alte Wettscheine. Ganz der Mann, der entspannt in seinem Klub Besuch empfängt, so wartete er auf mich, der absolute Kontrast zu dem Jean-Lino, den ich bisher kannte. Wir aßen dann irgendwas Fettes, von ihm ausgesucht. Bei jedem Rennen geriet er schier außer sich, stand halb auf, brüllend, an der gereckten Gabel bebten triefende Lauchstückchen. Alle fünf Minuten ging er hinaus, eine halbe Zigarette rauchen, und kam mit einer neuen Wettmethode zurück. Ich hatte ihn noch nie so überschäumend energisch, ja freudig erlebt. Wir setzten unbedeutende Summen auf Pferde mit verkanntem Potential. Er spürte sie, er hatte seine höchstpersönlichen Überzeugungen. Er gewann ein klein wenig, vielleicht den Gegenwert des Champagners (wir tranken die ganze Flasche leer, er das meiste). Ich kassierte drei Euro. Ich dachte, drei Euro an deinem Sechzigsten, na schön. Mir wurde klar, dass Jean-Lino Manoscrivi einsam war. Eine Art Robert Frank von heute. Mit seinem Kugelschreiber und seiner Zeitung, vor allem mit seinem Hut. Er hatte sich ein Ritual geschaffen, einen eigenen Raum geschaffen, der ihn trug, aus der Zeit herausgelöst. Beim Pferderennen trat er breitschultriger auf, sogar seine Stimme änderte sich.

Mir fiel der Sechzigste meines Vaters ein. Damals aßen wir an der Place de la République eine elsässische Choucroute garnie. Sechzig war das Alter von Eltern. Ein gewaltiges, abstraktes Alter. Jetzt bist du selbst so weit. Wie kann das sein? Eine junge Frau schlägt über die Stränge, wie sie nur kann, zieht aufgebrezelt und in Kriegsbemalung durchs Leben, und auf einmal ist sie sechzig. Joseph Denner und ich gingen fotografieren. Er liebte die Fotografie, und ich liebte alles, was er liebte. Ich schwänzte die Bio-Stunde. Damals hatten wir keine Angst vor der Zukunft. Eine Tante hatte mir eine gebrauchte Konika geschenkt, das wirkte professionell, umso mehr, als ich dazu einen Nikon-Tragegurt abgestaubt hatte. Seine Olympus war keine Spiegelreflex, zum Scharfstellen benutzten wir einen eingebauten Entfernungsmesser. Das Spiel bestand darin, dasselbe Motiv aufzunehmen, im selben Moment, vom selben Standpunkt aus, jeder sein Bild. Wir machten Schnappschüsse auf der Straße wie die von uns bewunderten Großen der Zunft, knipsten Spaziergänger oder die Tiere im Jardin des Plantes neben der Uni, vor allem aber Denners geliebte Pinten am Pont Cardinet, von innen: die Gestrandeten, die Stammsäufer, die langsam irgendwo hinten in einer Ecke versteinerten. Die Kontaktabzüge machten wir bei einem Freund. Dann verglichen wir und entschieden, welche Aufnahme das Vergrößern wert war. Und welche war das? Die mit der besten Einstellung? Diejenige, die eine winzige, unergründliche Szene eingefangen hatte? Wer weiß die Antwort? Ich denke regelmäßig an Joseph Denner. Manchmal frage ich mich, was aus ihm geworden wäre. Aber was hätte schon werden sollen aus einem Typen, der mit sechsunddreißig an einer Leberzirrhose stirbt? Seit das alles passierte, ist er in meinem Kopf sozusagen neu entstanden. Diese kleine Geschichte hätte ihn herzlich zum Lachen gebracht. Der Band The Americans hat Bilder aus der Jugend in mir wachgerufen. Wir träumten in den Tag hinein und taten nichts. Sahen den Leuten nach, beschrieben ihr Leben und an welchen Gegenstand sie uns erinnerten, an einen Holzhammer, an ein Pflaster … Wir lachten. Unter dem Lachen spürten wir einen leicht bitteren Verdruss. Ich würde sie gern mal wiedersehen, diese Fotos vom Pont Cardinet. Wir haben sie wohl irgendwann mit alten Papieren weggeworfen. Nach dem Geburtstag in Auteuil schloss ich Jean-Lino Manoscrivi ein wenig ins Herz. Dann und wann gingen wir gemeinsam spazieren oder tranken bei Gelegenheit einen Kaffee an der Ecke. Draußen durfte er rauchen, zu Hause nicht. Für mich war er der sanftmütigste Mann der Welt, und ich sehe ihn auch jetzt noch so. Vertraulichkeiten gab es nie zwischen uns, wir blieben immer beim Sie. Aber wir redeten miteinander, manchmal über Dinge, die wir mit niemandem sonst besprachen. Er vor allem. Ich aber auch, bisweilen. Wir hatten herausgefunden, dass wir beide dieselbe Abneigung gegen unsere Kindheit hegten und sie am liebsten mit einem schwarzen Strich ausgelöscht hätten. Eines Tages sagte er über seinen Weg auf Erden, das Schlimmste ist auf jeden Fall geschafft. Ich sah das auch so. Väterlicherseits war Jean-Lino der Enkel jüdischer Einwanderer aus Italien. Sein Vater hatte als Handlanger in einem Posamentierwarenladen begonnen, sich dann auf Zierbänder spezialisiert und in den Sechzigern ein eigenes Kurzwarengeschäft aufgemacht, einen schmalen Schlauch in der Avenue Parmentier. Die Mutter saß an der Kasse. Sie wohnten einen Steinwurf vom Laden entfernt in einem Hinterhof. Die Eltern arbeiteten schwer und waren nicht gerade zartfühlend. Jean-Lino verstand sich nicht auf die Materie. Er hatte einen viel älteren Bruder mit einer guten Stellung in der Konfektionsbranche. Er selbst bekam keinen Fuß auf den Boden. Irgendwann hatte ihn die Mutter vor die Tür gesetzt. Dann begann er nach einer Konditorenausbildung als Koch, und im optimistischsten Augenblick seines Lebens kam er auf die Idee, ein Restaurant zu eröffnen. Das war hart. Kein Urlaub, nicht genug Umsatz. Am Ende hatte ihm das Arbeitsamt eine Umschulung zum Großhandelskaufmann finanziert, und eine Arbeitsvermittlungsagentur platzierte ihn im Kundendienst bei einem Filialisten für elektrische Haushaltsgeräte. Kinder hatte er keine. Sonst wollte er den Mächten, die sein Leben gelenkt hatten, nichts vorwerfen. Seine erste Frau verließ ihn, nachdem er mit dem Restaurant Pleite gemacht hatte. Als er Lydie kennenlernte, war sie dank einer Tochter aus früherer Ehe schon Großmutter. Seit zwei Jahren kam der Kleine jetzt regelmäßig zu ihnen. Seine Eltern hatten sich unter übelsten Umständen getrennt, das Jugendamt hatte sich einschalten müssen, und beim geringsten Anlass wurde das Kind bei Oma Lydie abgeladen. Jean-Lino hatte sein Zärtlichkeitsbedürfnis nie ausleben können (höchstens mit seinem Kater), und so empfing er Rémi mit offenen Armen und bemühte sich darum, von ihm geliebt zu werden. Ist es vernünftig, sich um das Geliebtwerden zu bemühen? Ist das nicht eine jener Mühen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind?

Anfangs war es das reine Chaos gewesen. Als das Kind bei ihnen ankam – es war fünf Jahre alt und hatte vorher in Südfrankreich gewohnt –, belegte es Jean-Lino mit geflissentlicher Nichtachtung und heulte los, sobald Lydie verschwand. Ein nichtssagender, etwas pummeliger kleiner Junge, wenigstens hatte er beim Lächeln niedliche Grübchen. Die Eingewöhnung wurde zusätzlich durch Eduardo, Jean-Linos Kater, erschwert, ein unsympathisches Tier, das er in Vicenza irgendwo auf der Straße aufgegabelt hatte und das man ausschließlich auf Italienisch ansprechen durfte. Lydie hatte es verstanden, Kontakt zu Eduardo zu finden. Sie hielt ihm ihr Pendel vor die Nase, und gebannt verfolgte der Kater das Hin und Her des Rosenquarzes (der Stein hatte sich ihr irgendwo in Brasilien offenbart). Zum Ausgleich hatte Eduardo gegen Rémi eine sofortige Abneigung gefasst. Wenn der Kleine auftauchte, bauschte er sich zu doppelter Körpergröße auf und fauchte furchterregend. Jean-Lino versuchte, den Kater zur Raison zu bringen, auch wenn niemand sonst ihn dabei unterstützte. Schließlich regelte Lydie die Sache, indem sie Eduardo ins Badezimmer verbannte. Rémi piesackte ihn, indem er durch die Tür sein Miauen nachmachte. Jean-Lino wollte das unterbinden, hatte aber nicht die geringste Autorität. Wenn die Luft rein war, versuchte er, das Tier unauffällig zu trösten, indem er ihm durch den Türspalt ein paar Brocken Italienisch zuflötete. Rémi weigerte sich, Jean-Lino Opa Jean-Lino zu nennen. Das heißt, man kann nicht sagen, er weigerte sich, er nannte ihn schlicht und einfach niemals Opa Jean-Lino, trotz Jean-Linos unaufhörlichem Opa Jean-Lino liest dir eine Geschichte vor oder Wenn du schön deinen Fisch aufisst, dann kauft Opa Jean-Lino dir dies oder das. Rémi scherte sich keinen Deut darum, er fand das offenbar unter seiner Würde. Wenn er ihn ansprechen musste, nannte er ihn eben Jean-Lino, und der fühlte sich törichterweise gekränkt durch diesen jeder familiären Tönung baren Vornamen. Später wechselte er die Strategie und setzte sich in den Kopf, die Gunst des Kindes mit Humor zu erobern. Er brachte ihm Blödsinn bei, von Apokoko über Upikiki bis hin zu Opakaka. Das liebte Rémi. Nicht lange, und er ließ die beiden ersten Versionen aus und wiederholte Opa-Kacka in Endlosschleife, gern mit albern verstellter Stimme oder singend, oder er schleuderte Jean-Lino das Wort direkt ins Gesicht, vorzugsweise draußen und möglichst laut. Ich durfte selbst im Eingang unseres Hauses als Zeugin dieses Spektakels herhalten. Jean-Lino sagte gespielt amüsiert, weißt du, wenn man ein Wortspiel zu oft wiederholt, ist es nicht mehr witzig. Er wusste nicht mehr, wie er den Mechanismus abstellen sollte. Je mehr er das Kind zur Vernunft bringen wollte, desto wilder wurde Rémi. Statt zu sagen, etwas sei gut oder nicht gut, sagte er voll geil oder voll ungeil (von Jean-Lino gelernt?), und manchmal antwortete er das ist voll ungeil, Opa-Kacka. Lydie war keine Hilfe, sie beschränkte sich auf die Mitteilung, wie man in den Wald hineinrufe, so schalle es eben heraus. Wenn sie bei Jean-Lino Anflüge von Verzweiflung bemerkte, sagte sie nur, lass den Jungen doch einfach in Ruhe – mit einer nachsichtig-ungeduldigen Betonung im Sinne von, man wird doch ein Opfer großelterlicher Inkonsequenz nicht tadeln wollen. Aus der Rückschau denke ich, sie spürte die Gefahren dieser einseitigen Anhänglichkeit. Ich sollte noch ein Wort zu unserem Hauseingang sagen. Ein länglicher Raum, durch die halb verglaste Eingangsfront fällt das Tageslicht. Der Fahrstuhl liegt der Tür mittig gegenüber. Zur Treppe gelangt man links durch eine etwas zurückgesetzte Tür. Der kurze Flur hinten rechts führt zum Mülltonnenraum. Waren sie zu dritt, so nahm Lydie mit ihrem Enkel den Fahrstuhl, Jean-Lino ging zu Fuß hoch. Wenn Jean-Lino mit dem Kleinen allein war, wollte der unbedingt Fahrstuhl fahren. Wenn man ihn ins Treppenhaus bringen wollte, ließ er sich nur schreiend hineinschleifen. Jean-Lino konnte einfach nicht den Fahrstuhl nehmen. Im Lauf seines Lebens hatte er nach und nach auf Flugzeuge, Fahrstühle, die Metro und die neuen Züge verzichten müssen, in denen man die Fenster nicht mehr aufmachen kann. Eines Tages klammerte der Kleine sich wie ein Äffchen an die Tür zum Treppenhaus, um ja nicht hineingehen zu müssen, irgendwann ließ Jean-Lino sich resigniert auf den untersten Stufen nieder, Tränen in den Augen. Rémi setzte sich neben ihn und fragte, warum willst du nicht mit dem Fahrstuhl fahren?

– Weil ich Angst habe, sagte Jean-Lino.

– Ich hab keine Angst, ich kann fahren.

– Du bist zu klein.

Nach einer Weile stand Rémi auf und ging die Treppe hinauf, wobei er sich am Geländer hochzog. Jean-Lino hinterher.

Wenn ich unter all den Bildern, die mir von Jean-Lino in Erinnerung geblieben sind, ein einzelnes auswählen sollte, dann das, wo er fast im Dunkeln auf dem marokkanischen Lederstuhl sitzt, die Arme auf die Armlehnen gepresst, inmitten einer überflüssig gewordenen Ansammlung von Stühlen. Jean-Lino Manoscrivi versteinert auf dem unbequemen Stuhl, im Wohnzimmer, auf der Truhe stehen noch all die Gläser, die ich panikartig für den Anlass angeschafft hatte, die Schalen mit Sellerie und fettarmen Chips, all die Überreste der in einem Anflug von Optimismus veranstalteten Sause. Wer kann schon sagen, wann genau etwas angefangen hat? Wer weiß, welche obskure, vielleicht lang vergangene Verknüpfung von Dingen den Vorfall steuerte? Jean-Lino hatte Lydie Gumbiner in einer Bar kennengelernt, wo sie als Sängerin auftrat. Wenn man das so hört, stellt man sich eine üppige Frau vor, die mit warmer Stimme ins Mikro haucht. In Wirklichkeit war sie eine kleine Alge ohne viel Busen, als Zigeunerin gekleidet, voller glitzernder Anhänger, die meiste Mühe hatte sie sichtlich auf ihre Frisur verwendet, ein orangefarbenes Gekräusel, füllig, von dekorativen Spangen gebändigt (dazu noch ein Fußkettchen, ebenfalls mit Anhängern …). Sie nahm bei einer Gesangslehrerin Jazzunterricht und produzierte sich dann und wann in Bars (wir haben uns das einmal angesehen). Seinerzeit hatte sie Syracuse von Henri Salvador gesungen und dabei Jean-Lino angestarrt, der per Zufall an jenem Abend ganz vorn vor dem Podium saß und am Ende mitmurmelte, Bevor meine Jugend verweht und mein Frühling welkt … Jean-Lino war ein Salvador-Fan. Sie gefielen einander. Er mochte ihre Stimme. Er mochte ihre langen, duftigen Röcke, ihren Hang zum Grellbunten. Er fand es attraktiv, dass eine Frau ihres Alters sich nicht um städtische Konventionen scherte. Eine übrigens in mancherlei Hinsicht nicht so einfach einzuordnende Frau, die in der Meinung lebte, sie besitze übernatürliche Fähigkeiten. Warum hatten diese beiden Wesen sich zusammengetan? In Straßburg hatte ich am Institut für Gewerblichen Rechtsschutz eine Freundin, eine eher zurückhaltende junge Frau. Eines Tages heiratete sie einen etwas verunglückten, maulfaulen Typen. Sie sagte, na ja, ich bin allein, er ist allein. Dreißig Jahre später traf ich sie im Thalys, sie baute Heißluftballons für Vergnügungsparks, sie war immer noch mit ihm zusammen und hatte drei Kinder. Beim Paar Gumbiner-Manoscrivi fällt das Finale nicht so heiter aus, aber ist das Grundmotiv nicht immer dasselbe, wenn auch unendlich oft variiert? Bei unserem kleinen Fest (Frühlingsfest nannte ich es) machte ich ein paar Fotos. Auf einem davon steht Jean-Lino über Lydie gebeugt, die in einem ihrer knalligen Outfits auf dem Sofa sitzt, beide lachen, die Gesichter nach links gewandt. Es scheint ihnen gutzugehen. Jean-Lino wirkt zufrieden und etwas erhitzt. Er stützt sich auf die Rückenlehne des Sofas, den Körper über ihre roten Locken geneigt. Ich weiß noch genau, was sie zum Lachen gebracht hatte. Das Foto wurde in die Ermittlungsakte aufgenommen. Es hält das Gleiche fest wie jedes andere Foto, einen erstarrten Moment, der sich nie wiederholen wird und so vielleicht nicht einmal stattgefunden hat. Doch da es nie wieder ein Bild von Lydie Gumbiner geben wird, scheint ihm ein verborgener Sinn innezuwohnen, es trägt einen Heiligenschein, eine morbide Aura. Kürzlich sah ich in einer Wochenzeitschrift ein Foto von Josef Mengele in den siebziger Jahren in Argentinien. Er sitzt im Unterhemd irgendwo draußen, vor den Resten eines Picknicks, inmitten einer Gruppe junger Leute beiderlei Geschlechts. Eine junge Frau hat sich bei ihm eingehakt. Sie lacht. Der Nazi-Arzt lacht. Sie sind alle fröhlich und entspannt, erfüllt von Sonnenschein und der Leichtigkeit des Lebens. Ohne das Datum und den Namen der Hauptfigur wäre das Foto ganz und gar uninteressant. Erst die Bildunterschrift lässt die Wahrnehmung umschlagen. Gilt das vielleicht für jedes Foto?

Ich weiß nicht, wie die Idee zu diesem Frühlingsfest in meinem Kopf entstanden ist. Wir hatten bis dahin noch nie etwas Derartiges bei uns zu Hause gemacht, weder Umtrunk noch Fest, noch gar ein Frühlingsfest. Wenn wir Freunde einladen, werden das nie mehr als sechs Leute um einen Tisch. Ursprünglich hatte ich Lust, was mit meinen Freundinnen aus dem Pasteur zu machen, wir wollten ein paar von Pierres Kollegen dazunehmen, und dann fielen mir noch mehr Namen ein, ich fing an, mir mehr oder weniger verheißungsvolle Konstellationen auszumalen, sehr bald stellte sich die Stuhlfrage. Pierre sagte, leih doch bei den Manoscrivis ein paar Stühle aus.

– Ohne sie einzuladen?

– Wir laden sie ein. Sie könnte ja sogar was singen!

Die Manoscrivis interessierten Pierre nicht weiter, aber wenn schon, fand er Lydie amüsanter als Jean-Lino. Ich schickte rund vierzig Einladungen raus. Und bereute es sofort. In der Nacht danach bekam ich kein Auge zu. Wo sollten die alle sitzen? Wir hatten sieben Stühle, den marokkanischen mitgezählt. Die Manoscrivis verfügten vermutlich noch einmal über dieselbe Anzahl. Der marokkanische Stuhl war ziemlich sperrig, aber den konnte man ja wohl nicht aus dem Spiel lassen. Abgesehen von den Stühlen boten Sitzsack und Sofa, bei idealer Synergie, Sitzgelegenheiten für weitere sieben Gäste. Drei mal sieben macht einundzwanzig. Wozu man noch einen Hocker aus dem Keller rechnen musste, also zweiundzwanzig (ich hatte auch an die Truhe gedacht, aber die musste schon als Tisch dienen, in Ergänzung zum Sofatisch). Wir brauchten noch zehn Stühle mehr, aber Klappstühle. Klappstühle, damit man sie erst im Bedarfsfall aufklappen konnte und nicht vorher aufbauen musste, als erwartete man eine Anzahl Zuschauer, aber woher Klappstühle nehmen? Allein schon wegen des mangelnden Flächenangebotes waren dreißig aufgeklappte Klappstühle in der Wohnung undenkbar, abgesehen von der kalten Eintönigkeit solcher Reservestühle, und wozu eigentlich all diese Stühle? Wenn man so ein informelles Fest mit Abendessen veranstaltet – jawohl, informell! –, dann sitzen ja nicht immer alle, sie unterhalten sich im Stehen, wandern herum, man darf mit einer Art Hin und Her rechnen, mit freier Platzwahl, die Leute setzen sich auf die Armlehnen oder hocken am Boden, ganz locker, an die Wand gelehnt, genau! … Aber die Gläser … Mitten in der Nacht stand ich auf, um unsere Gläser zu zählen. Fünfunddreißig, mehr oder weniger zueinander passend. Plus sechs Champagnergläser in einem anderen Schrank. Beim Aufwachen sagte ich zu Pierre, wir haben keine Gläser. Wir müssen zirka zwanzig Wein- und Champagnergläser kaufen. Pierre sagte, es gibt doch Champagnergläser aus Plastik. Ich sagte, oh nein, bloß das nicht, ich bin schon über die Pappteller nicht glücklich, die Gläser müssen echt sein. Pierre sagte, es ist doch idiotisch, extra welche zu kaufen und sie danach nie wieder zu benutzen. Aber wir werden doch nicht den Champagner aus Plastik trinken wie bei einer Abschiedsfeier! Pierre sagte, es gebe superstabile Champagnerflöten aus absolut akzeptablem Pseudoglas. Ich schaute im Netz nach und bestellte drei Packungen à zehn Élégance-Champagnerflöten und drei Schachteln mit je fünfzig Wegwerfmessern, -gabeln und -löffeln aus metallisiertem Plastik in Edelstahl-Optik. Das beruhigte mich, bis ich am Samstag des Festes am Nachmittag eine erneute Gläserkrise hatte. Champagnerflöten hatten wir, aber keine Weingläser. Nach einer Irrfahrt durch Deuil-l’Alouette kam ich mit dreißig Ballongläsern aus Echtglas und einem Karton mit sechs Champagnergläsern zurück, ebenfalls Echtglas. Ich holte eine nie benutzte Tischdecke raus, breitete sie über die Truhe und baute darauf sämtliche Gläser, Kelche, Ballongläser und Pseudogläser auf, dazu dann noch vier Wodkagläser, falls jemand Wodka wollte. Wenn man die aus der Küche dazutat, waren das mehr als einhundert Stück. Gegen sechs klingelte Lydie. Schon ein bisschen angeschickert, an jedem Arm einen Stuhl. Wir gingen zu ihr hoch, die anderen holen. In ihrem Schlafzimmer stand ein gelber Samtsessel. Ich hatte das Schlafzimmer der beiden noch nie gesehen. Das gleiche Zimmer wie bei uns, aber zehnmal bunter, zehnmal unordentlicher, an der Wand Ikonen und ein Poster mit der halbnackten Nina Simone in einem Kleid aus lauter weißen Strippen, und das Bett stand woanders. Mitten zwischen den Kissen ruhte Eduardo, misstrauisch und schläfrig. Was treibst du denn da!, schrie Lydie. Sie klatschte in die Hände, und der Kater trollte sich. Sie sagte, ich erlaube ihm nicht, ins Schlafzimmer zu kommen. Wenn mich nicht alles täuscht, sah ich auch einen Nachttopf mit hölzernem Deckel. Auf den ersten Blick erkannte ich, dass Jean-Lino nie und nimmer etwas zur Ausstattung des Zimmers beigetragen hatte, nicht, dass anderswo seine persönliche Note erkennbar gewesen wäre, aber die übrige Wohnung hatte eher etwas vom zufallsbedingten Kompromiss zweier Leben. Das Fenster stand halb offen, von sanft wehenden seidigen Vorhängen im Design einer englischen Bonbondose gerahmt, in der Ferne erblickte man über den Dächern ein Stückchen Eiffelturm, das wir von uns aus nicht sehen konnten. Ihr Schlafzimmer kam mir fröhlicher, jünger vor als unseres. Beim Anheben des viel zu schweren Sessels wurde ich neidisch. Im Laufe meines Lebens bin ich schon öfter von Zimmern entmutigt worden. Von meinem Kinderzimmer. Diversen Krankenhauszimmern oder Hotelzimmern mit unattraktiver Aussicht. Das Fenster prägt das Zimmer. Welchen Ausschnitt es zeigt, wie viel Licht es einlässt. Und auch die Vorhänge. Die Gardinen! Ich war in meinem Leben dreimal im Krankenhaus, die Entbindung mitgerechnet. Jedes Mal hat mich das Krankenhauszimmer entmutigt mit seinen großen, irgendwie matten Scheiben, durch die der symmetrische Ausschnitt eines Gebäudes zu sehen war, Geäst oder ein überdimensionaler Himmel. Das Krankenhauszimmer hat mir jedes Mal alle Hoffnung genommen. Sogar mit dem Baby in seinem gläsernen Bettchen neben mir.

Eines der bekanntesten Fotos von Robert Frank zeigt den Blick auf Butte, einen Bergwerksort in Montana, von einem Hotelfenster aus aufgenommen. Dächer, Lagerschuppen. In der Ferne Rauch. Zu beiden Seiten ist die halbe Landschaft mit Tüllgardinen verhangen. Das Kinderzimmer von meiner Schwester Jeanne und mir ging teilweise auf die Mauer einer Turnhalle hinaus. Der Putz löste sich in großen Placken. Wenn ich mich nach links hinausbeugte, sah ich eine Straße ohne Passanten und eine Bushaltestelle. Wir wohnten in einem Backsteinhaus in Puteaux. Mittlerweile abgerissen (ich bin mal dort langgegangen, die Gegend war nicht wiederzuerkennen). Wir hatten haargenau die gleichen Vorhänge, die gleichen Maschen, die gleiche senkrechte, etwas knittrige Krause. Das gab ein ebenso tristes Bild von der Welt ab. Auch die Fensterbank war die gleiche. Aus schmutzigen Steinen gemauert, zu schmal, man konnte nichts daraufstellen. Unter dem Hotelzimmerfenster in Butte liegen düstere Baracken und eine leere Straße. Das in Puteaux ging auf eine Rückwand ohne jede Öffnung. Vor etwas Wunderschönes hätte kein Mensch so einen Vorhang getan. Ich sagte zu Lydie, ich fürchte, der Sessel ist ein bisschen wuchtig.

– Ja, ja, dann holen wir ihn eben notfalls später.

Sie zog mich ins Wohnzimmer. Auf dem Balkon, dieser für Neubauten typischen Balkonschachtel, die man eher selten betritt, hatte sie einen kleinen Dschungel geschaffen. Eine große Mimose reckte ihre Äste, man sah sie von der Straße aus. Blühende Büsche in Töpfen. Manchmal tropfte ihr Gießwasser zu uns herunter. Ich sagte, Ihr Balkon ist ja ein Traum. Sie zeigte mir ihre keimenden Tulpen und die Spitzen der Krokusse, die am selben Morgen hervorgekommen waren.

– Brauchen Sie sonst noch was? Teller, Gläser?

– Ich glaube, ich habe genug von allem.

– Wo Sie gerade hier sind, würden Sie noch eine Petition gegen die Kükenschredderung unterschreiben?

– Die Küken werden geschreddert?

– Die männlichen. Sie legen keine Eier, also werden sie bei lebendigem Leibe in den Schredder geworfen.

– Das ist ja grauenhaft! Ich setzte meinen Namen auf die Liste und unterschrieb.

– Und Servietten? Ich habe welche aus Knitterleinen, bügelfrei.

– Ich habe alles, was ich brauche.

– Jean-Lino ist runtergegangen, Champagner kaufen. Und seine Chesterfield rauchen.

– Das wäre aber nicht nötig gewesen.

– Oh doch!

Sie war viel aufgeregter als ich. Ich war von meinen Angstanfällen erschöpft und sah dem Abend entgegen wie einer Strafe. Ihre Freude beschämte mich. Ich fand sie rührend und sympathisch. Es war für sie eine unerwartete Einladung zu Nachbarn, die sie für herablassend gehalten hatte. Wir gingen mit drei weiteren Stühlen nach unten. Dort angekommen, sagte ich, wunderbar, vielen Dank, Lydie, jetzt machen wir uns beide schön! Sie drückte mir das Handgelenk als Zeichen des Einverständnisses.

– Irgendwann demnächst werde ich Sie mal resetten.

– Was ist das?

– Ich evaluiere Sie mit meinem Pendel. Hole alle Schlacken raus, reinige die Organe. Bringe wieder Fluss rein.

– Das dürfte bei mir Jahre dauern!

Sie lachte und sprang mit hüpfenden Locken die Treppe hinauf.

Noch mal zum Thema Vorhänge: Meine Freundin in der Pubertät (vor meinen Denner-Jahren) hieß Joelle. Sie war hübsch und lustig. Wir steckten unablässig zusammen, unzertrennlich, sogar nachts. Ihre Familie war noch bekloppter als meine. Wir stellten jede Menge Unsinn an, malten aber auch Ölgemälde – mit übermäßig dickem Farbauftrag, ich habe immer noch ein paar davon –, schrieben Chansons und Geschichten, lebten in Espadrilles und Männerpullovern, es war die Beatnik-Epoche. Ich bin niemals über Hasch und ein bisschen Alkohol hinausgegangen, Joelle verlegte sich auf LSD und anderes flippiges Zeug, unsere Freundschaft lahmte. Irgendwann musste Joelle per Krankentransport aus Asien nach Hause geflogen werden, sie hatte einen halluzinogenen Pilz gegessen, der hatte ihr das Hirn zerbröselt. Da war sie gerade achtundzwanzig geworden. Zwanzig Jahre später rief sie mich unvermittelt an, hatte mich über meine Schwester via Facebook aufgetrieben. Ich fuhr sie in Aubervilliers besuchen, in einer Behausung im Hinterhof. Joelle war gerade von den Antillen gekommen, mit dem Kind eines Martinikaners, der sich aus dem Staub gemacht hatte. Sie war ausgebildete Krankenschwester und suchte Arbeit. Jetzt lebte sie mit dem Kind in zwei hintereinander liegenden Zimmern, ein Eingangsraum mit einem Tisch und dahinter das Schlafzimmer. Dunkle Räume, deren vergilbte Vorhänge fast den letzten Rest Licht schluckten. Obwohl es noch nicht richtig dunkel war, hatte Joelle eine Lampe angemacht. Wir unterhielten uns in diesem Dämmer aus halb Tages-, halb Kunstlicht, der an sonntägliche Ödnis gemahnte. Früher war der Sonntag der einzige Tag der Woche, an dem wir es zu Hause mit dem Stromsparen nicht so genau nahmen, ansonsten hatten wir das Licht zu löschen, noch bevor wir ein Zimmer verließen. Jeanne und ich hatten uns daran gewöhnt, im Dunkeln zu leben, die Dunkelheit war nicht traurig und mir tausendmal lieber als dies trübe Zwielicht. Joelle machte mir einen Tee, ich sah, wie sie da mit ihrem scheuen kleinen Jungen vor dem gelblichen Hintergrund saß, und dachte, das schaffen wir nicht. Ich ging am frühen Abend, ließ sie zum zweiten Mal in meinem Leben sitzen.

Zu einem bestimmten Zeitpunkt spätnachmittags war alles mehr oder weniger unter Kontrolle, die Schalen waren gefüllt, die Tortillas standen bereit und konnten jederzeit in den Ofen wandern. Um die Salate sollte Pierre sich kümmern. In Sachen Kleidung lagen seit ein paar Tagen zwei Outfits bereit, dabei wusste ich schon, am Ende würde ich das schwarze Kleid anziehen, risikofrei und keine große Sache. Ich schluckte ein Xanax und ging mich schönmachen mit einem neuen Anti-Aging-Produkt, das von Gwyneth Paltrow beworben wird. Von der Vernunft her missbillige ich den Begriff Anti-Aging, ich finde, er ist idiotisch und soll einem ein schlechtes Gewissen einreden, aber ein anderer Teil meines Gehirns lässt sich voll und ganz auf die pseudomedizinischen Sprüche ein. So habe ich kürzlich im Netz Cate Blanchetts Lieblingscreme bestellt, mit der Ausrede, sämtliche stylishen Australierinnen hätten die in ihrer Handtasche. Irgendwo muss ich einen kleinen Knall haben. Im Radio sprachen die Leute kürzlich über die seelische Erschöpfung der Franzosen. So schwammig der Begriff auch ist, dass die übrigen Franzosen in derselben Lage sind wie ich, hörte ich gern. Die Franzosen hätten eindeutig ihr Gefühl für Sicherheit eingebüßt. Die alte Leier. Wer kann schon behaupten, er wäre in Sicherheit? Alles ist ungewiss. Das ist eine Grundkonstante des Daseins. Damit nicht genug, im Radio zeigte man sich außerdem besorgt über die Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Neoliberalismus und Globalisierung, diese beiden Plagen, verhinderten das Schaffen von Zusammenhalt. Ich dachte, aber du schaffst Zusammenhalt, heute Abend in deiner Wohnung in Deuil-l’Alouette. Du stellst Kerzen auf, du arrangierst Kissen für deine Gäste, du hast Tortillas mit Zwiebeln kaltgestellt und trägst deine Creme vorschriftsmäßig in kreisförmigen Bewegungen von unten nach oben auf. Du verpasst dem Dasein eine kleine Verjüngungskur. Frauen müssen fröhlich sein. Anders als Männer, die ein Anrecht auf Schwermut und Melancholie haben. Ab einem gewissen Alter sind Frauen zu guter Laune verurteilt. Wenn du mit zwanzig eine Schnute ziehst, ist das sexy, mit sechzig nervt es nur noch. In meiner Jugend war von gesellschaftlichem Zusammenhalt noch keine Rede, da war er selbstverständlich. Und keine Ahnung, was der Begriff bedeuten soll; ein abstrakter Zusammenhalt ist kein Wert an sich, sondern nichts als eine weitere Worthülse.

Vor zehn Tagen ist meine Mutter gestorben. Viel Kontakt zu ihr hatte ich nicht, so dass sich jetzt nicht groß etwas ändert, abgesehen davon, dass sich eben irgendwo auf der Welt meine Mutter befand. Gestern empfing ich den Besuch der Pflegerin, die sich in der letzten Zeit um sie gekümmert hatte, ich war ihr noch Geld schuldig. Eine hünenhafte Frau, die mir immer Angst eingejagt hat und beim Reden fürchterlich schnauft. Sie hatte von dem Drama in unserem Haus gehört und gierte nach Details. Enttäuscht von meiner Zurückhaltung knabberte sie einen bretonischen Butterkeks und brachte die Geschichte einer Bäckerin aus Vitrolles, die einen Tag vor Weihnachten ihre Kinder umgebracht hatte. In der Nacht packte die Bäckerin die Geschenke ein und legte sie unter den Baum, dann ging sie ins Zimmer ihres Sohnes und erstickte ihn mit dem Kopfkissen. Danach ging sie zu ihrer Tochter hinüber und tat dasselbe. Die Pflegerin sagte, sie packt die Geschenke ein, sie legt sie unter den Baum, und im selben Aufwasch geht sie hoch und bringt ihre Kleinen um. Sie sagte, eine Sache passt mir nicht, man kriegt das erzählt, und danach Totenstille. Erst hört man die Geschichte auf allen Kanälen, und dann auf einmal null Komma nix. Erst wird man heißgemacht, dann knallen sie einem die Tür vor der Nase zu. Kriege und Massaker und so, das ist alles zu weit weg, sagte sie und nahm noch einen Keks, also mich erreicht das nicht, was so weit weg ist. Das lenkt mich nicht ab von mir. Die Dramen des Alltags schon. Das füllt den Tag. Man spricht darüber. Man vergisst das eigene Elend. Ich sag nicht, es ist ein Trost, aber auf eine Weise eben doch. Was meinen Sie, warum hat sie erst noch die Geschenke unter den Baum gelegt? Wir haben uns gut verstanden, Ihre Mama und ich, sie war ja so eine freundliche Frau!

– Ja, ja.

– Eine freundliche Frau. Freundlich zu allen.

– Ich fürchte, ich habe jetzt zu tun, Madame Anicé, es tut mir leid …

Sie zog sich über der Taille das T-Shirt zurecht, dessen Aufdruck mich an Resopalflächen aus den Sechzigern erinnerte, und erhob sich träge.

– Also, ich hab da meine Theorie zu den Weihnachtsgeschenken …

In Ginette Anicés körperlicher Erscheinung deuten nur zwei Details auf den Versuch hin, nach etwas auszusehen. Erstens die Ohrringe, zwei goldene Kügelchen der Art, wie man sie einsetzt, um das Loch offen zu halten, und die Schmachtlocken. Ihr Haar ist ringsum kurz gehalten, abgesehen von den Fransen über der Stirn, knapp zwei Zentimeter, die sich von Hand zu kleinen Löckchen formen lassen. Eigentlich sind sie so gut wie unsichtbar, nur jemand, der auf Frisuren achtet, dürfte sie bemerken. In regelmäßigen Abständen kringeln sie sich oben auf der Stirn, aber aufgepasst, es handelt sich nicht um eine Reihe natürlicher Locken, sondern um sorgfältig gedrehte separate Strähnchen, das Ganze mit dekorativer Absicht; es sind tatsächlich Schmachtlocken.

– Nach meiner Theorie, sagte Ginette, ist das über sie gekommen, während sie mit den Geschenken zugange war. Der Lebensüberdruss hat sie gepackt.

– Schon möglich …

Sie griff nach ihrem Lodenmantel.

– Madame Anicé, würden Sie sich vielleicht über einen gehäkelten Kissenbezug freuen?

– Ah, das sind die Kissenhüllen, die Ihre Mama gemacht hat … Das ist lieb, aber ich habe kein Zierkissen zu Hause.

– Oder eine Schondecke zum Kopfanlehnen?

– Ein Deckchen zur Erinnerung, warum nicht! … Ach, da ist ja das Foto aus dem Schlafzimmer Ihrer Mama!

Es machte mich wahnsinnig, dass sie Ihre Mama sagte. Ich kann derlei einlullende Niedlichkeiten nicht leiden. Sie meinte ein Foto von Emmanuel in La Seyne-sur-Mer. Meine Mutter hatte es gerahmt auf ihrem Nachttisch stehen. Ein Foto ihres etwa zwölfjährigen Enkels in Badehose und mit einem Hut auf dem Kopf. Außerdem besaß sie ein altes Geburtstagsfoto von Jeannes Kindern. Ich habe mich immer gefragt, was diese Fotos für sie bedeuteten, ich meine emotional. Meiner Meinung nach nahm sie sie gar nicht mehr wahr, sie standen rein der Konvention halber an ihrem Bett. Man lebt unter dem Diktat der Konvention. In bestimmten Gleisen. Im Aufbruch sagte Ginette Anicé, sie habe im Heim gekündigt und wolle nur noch Hausbetreuungen machen. Mit anderen Worten, sie war arbeitslos. Ich versprach, ich würde mal herumfragen, dabei werde ich sie auf keinen Fall irgendwem empfehlen. Ich schloss die Tür hinter ihr und betrachtete das Foto. Emmanuels kleinen Körper. Seine schmächtigen Ärmchen. Er war das geschäftigste Kind am ganzen Strand. Immer einen Eimer in der Hand, den er voll oder leer herumtrug, wanderte er zwischen dem Wasser und dem Gestrüpp, das oben den Sand begrenzte, hin und her, Dutzende Male, um wer weiß was für eine Miniaturwelt zu bauen, er suchte Steine, Holzstückchen, Muscheln und allerlei Tiere im Schaum. Wenn er badete, dann wollte er nie schwimmen. Er stand bis zur Taille im Wasser und fragte mich, Mama, sag schon, wer muss sterben? Und ich nannte den Namen eines seiner Schullehrer (das war unser Spiel).

– Monsieur Vivaret!

– Au ja, Monsieur Vivaret! … Was tun Sie da, Emmanuel?! … Psch! Psch! Psch!!

Und er patschte unter schrecklichem Gespritze aufs Wasser.

– Madame Pellouze!

– Emmanuel, legen Sie sofort die Kalaschnikow weg!!! … Psch! Psch! Pschsch!

– Madame Farrugia!

So brachten wir sie einen nach dem anderen um.

Heute bist du Content Champion in einer Werbeagentur. Wenn dich jemand fragt, was du machst, sagst du Projektleiter-Textchef (der englische Begriff klingt so viel besser!). Das Foto gibt mir deinen Körper von früher zurück. Ich hatte ihn vergessen. Ich sehe mir nie die Alben an, die ich früher angelegt habe. So gern würde ich diese mageren Ärmchen wieder um den Hals spüren. Auch ich pfeife auf das, was zu weit weg ist, diese Anicé hat recht.

Eines Tages legte Rémi ohne jede Vorankündigung Jean-Lino Manoscrivi die Arme um den Hals, es war an einem Sonntag in einem der Hippopotamus-Grillrestaurants. Sie aßen zu dritt mit einem befreundeten Paar aus Lydies Jazzkurs. Rémi langweilte sich bei Tisch, wie alle Kinder, und sie erlaubten ihm, draußen auf der Veranda Seifenblasen zu machen. Jean-Lino hatte ihn aus dem Augenwinkel im Blick, aber auf einmal war da kein Rémi mehr. Jean-Lino geht nachschauen. Keine Spur von Rémi. Er geht die Stufen hinunter, schaut die Avenue du Général-Leclerc auf und ab. Nichts. Er geht wieder hinein, jetzt ins Obergeschoss. Niemand. Oma Lydie macht sich schwere Sorgen. Jean-Lino und sie gehen wieder hinaus. Sie suchen rechts, sie suchen links, wirbeln herum, kommen ins Restaurant zurück, befragen die Kellner, gehen wieder hinaus. Sie rufen das Kind, die Stadtlandschaft liegt leer vor ihnen, offen in alle vier Winde. Die Sängerfreunde sind sitzen geblieben, erstarrt, ohne ihre Teller anzurühren. Unweit von ihnen sitzt ein Paar, es deutet verstohlen mit dem Kinn zu einem Buffet, an dem eine Art Topfpalme lehnt. Irgendwann begreift Lydies Freundin endlich die Zeichen, steht auf und entdeckt Rémi, der mit diebischer Freude über seinen Streich hinter dem Topf hockt. Die Manoscrivis kommen zurück, völlig verstört. Lydie wirft sich auf das Kind und zerdrückt es fast in ihren Armen. Es fehlt nicht viel, dass sie ihm zu seinem Wiederauftauchen gratulieren. Alles ist wieder gut. Jean-Lino hat kein Wort gesagt. Blass, mit finsterem Gesicht sitzt er da. Auch Rémi hat sich wieder hingesetzt. Sie fragen ihn, ob er zum Nachtisch Schneeinseln möchte. Er kippelt mit seinem Stuhl, hochzufrieden, und dann, kein Mensch weiß warum, steht er auf, geht zu Jean-Lino, legt ihm die Arme um den Hals und den Kopf an die Schulter. Jean-Lino geht vor Glück das Herz auf, vollkommen maßlos, er glaubt an den geheimen Sieg der Liebe, wie alle verschmähten Liebenden, die jede unerwartete Regung fieberhaft begrüßen. Von Personen, deren Liebe man sich sicher ist, sind dieselben Gesten wertlos. Ich könnte Romane darüber schreiben. Wenn einer, dem du eigentlich völlig egal bist, dir eines schönen Tages unwillkürlich oder aus Mutwillen einen unverhofften Wink gibt, hat das unglaubliche Wirkung, ich weiß, wovon ich rede.

Ich muss mich erkundigen, wie es Jean-Linos Tante geht. Ginette Anicés Besuch hat mich darauf gebracht. Jean-Lino hatte die Schwester seines Vaters nach Frankreich geholt und in einem jüdischen Altenheim einquartiert. Einmal begleitete ich ihn an einem Nachmittag dorthin. Wir gingen in die »Cafeteria«, einen rein funktional eingerichteten, hallenartigen Raum, Terrazzoboden, glatte Wände, Tische, an denen die Bewohner im Rollstuhl mit ihren Besuchern saßen. Es war, als wären sämtliche Materialien danach ausgewählt worden, dass es ordentlich hallte und schallte. Die Tante war schnell unterwegs mit ihrem Rollator. Lebhafter Geist. Rege Beine. Ihr Körper, vor allem der Kopf, war von einem unkontrollierbaren Zucken befallen, das sie nicht zu stören schien, aber dafür sorgte, dass sie in einem schwer verständlichen Stakkato sprach. Sie redete in drei Sprachen durcheinander, ihrem halb vergessenen und misshandelten Französisch von früher, Italienisch und Ladinisch, einem Dialekt aus den Dolomiten. Jean-Lino hatte uns an einen Tisch ganz hinten gesetzt, vor einen Wandfernseher, auf dem in voller Lautstärke Videoclips liefen. Während des Gesprächs (wenn man es so nennen kann) zupfte Jean-Lino ihr immer wieder Gesichtshaare aus. Ob sie weiß, was ihrem Neffen widerfahren ist? Mit wem unterhält sie sich jetzt zitternden Kopfes in dieser öden Halle? Eine Kleinigkeit genügt, schon zweifle ich an der Sinnhaftigkeit der Welt. Ihre Gesetze scheinen voneinander unabhängig zu sein und zu kollidieren. In meinem engen Büro im Pasteur kann eine Fliege mich zum Wahnsinn treiben. Ich ertrage es nicht, wenn Fliegen durchdrehen. Ich mache das Fenster weit auf, doch statt zu den Bäumen zu fliehen, die um unser Gebäude herum stehen, zickzackt sie nach ganz hinten in dem Raum. Eben noch knallte sie gegen das Fenster, rechts, links, überall, und jetzt, da die Luft hereinströmt und der Himmel ihr weit die Arme ausbreitet, treibt sie sich absurderweise hinten im Schatten herum. Sie verdient, dass ich sie einsperre und mich nicht weiter um sie schere. Aber sie hat ihr nerviges Gebrumm als Waffe. Ich frage mich sogar, ob die Natur dieses Gebrumm nicht regelrecht als Absicherung für den Fall des Eingesperrtseins eingerichtet hat. Ohne diesen Trick würde ich kein Mitleid kennen. Ich greife mein Exemplar des Europäischen Patentübereinkommens, ich wedele die Fliege zum Fenster zurück, also ich versuche es, denn statt sich von diesem barmherzigen Tennisschläger treiben zu lassen, weicht sie aus und rettet sich an den Rand der Zimmerdecke. Warum muss man eine solche Zeitvernichtung ertragen? Die Tante hatte in den Bergen gelebt. Sie sprach immer noch von ihren Hühnern, die Hühner kamen ins Haus und setzten sich überall hin. Sie wollte in ihr Dorf zurück, den Almabtrieb sehen, das Gelärm der Kuhglocken hören. Ich muss mal in dem Heim anrufen.

Als der Anwalt mich fragte, wer Jean-Lino für mich gewesen sei, sagte ich, ein Freund. Er schaute drein, als ob er das Wort nicht verstünde, und wollte wissen, was ich damit meinte. Eines Abends, zu Anfang unserer Freundschaft – das Wort trifft es haargenau –, kam ich einmal etwas später als sonst aus dem Büro. Er stand draußen mit seiner Chesterfield, den Hals ungeschützt im Wind. Dieses Lächeln jedes Mal, wenn er mich erblickte, seine vergilbten, wüst durcheinanderstehenden Zähne, ein auf seine Weise strahlendes Lächeln. Er war in eine kunstlederne Motorradjacke mit jugendlichem Schnitt gezwängt, die ich noch nie an ihm gesehen hatte. Ich sagte, ist die neu? Und wo ist Ihre Harley?

– Bei Zara gekauft. Sonderangebot.

– Glückwunsch.

– Gefällt sie Ihnen? Sitzt sie nicht ein bisschen knapp?

Ich küsste ihn lachend auf die Wange und sagte, ich finde es hinreißend, dass Sie die gekauft haben! Er lachte ebenfalls. Er sagte, die Verkäuferin habe ihm Komplimente gemacht. Er sei vor Hitze in der Anprobekabine verschmachtet, habe es nicht länger als zehn Sekunden darin ausgehalten. Ich sagte, nur selten habe ein Kleidungsstück so wenig zu seinem Träger gepasst.

– Ach so? Scheiße.

Wir schütteten uns aus vor Lachen unter der Straßenlaterne, er hustete sich fast die Lunge aus dem Leib und wischte sich unter seiner klobigen Brille die Tränen aus den Augen. Sein pockennarbiges Gesicht glänzte ein wenig, ich habe mich nie getraut, ihn zu fragen, woran das lag. Ich ging als Erste ins Haus. Er wollte noch ein bisschen an der Luft bleiben, will sagen, noch eine rauchen. Im Hauseingang drehte ich mich um und sah durch die Scheiben, wie er über den Parkplatz schlenderte, gebeugt in seiner neuen Jacke, er wischte sich das Haar aus der Stirn, der fröhliche Gesichtsausdruck war ganz und gar verschwunden, wahrscheinlich so, wie kurz bevor ich auftauchte. Ich dachte, ja, genauso sind wir. Auch du schreitest im Älterwerden voran, ebenso wie alle, die du kennst, und ich fühlte mich dieser vorwärtsstrebenden Menge zugehörig, Hand in Hand schritten wir voran, etwas Unbekanntem entgegen.

Wenn man ein Foto betrachtet, zählt vor allem der Fotograf dahinter. Nicht unbedingt derjenige, der auf den Auslöser gedrückt hat, sondern der, welcher das Foto ausgesucht und gesagt hat, das hier behalte ich, das hier zeige ich. Für ein flüchtiges Auge hat die Aufnahme jenes Zeugen Jehovas nichts Besonderes an sich. Weder was das Motiv noch was das Licht betrifft. Ein müder Typ in Anzug und Krawatte bietet eine Zeitschrift feil. Der Prototyp des Statisten, den man in einem Film aus den fünfziger Jahren im Hintergrund auf einen Bürgersteig stellt. Dieses Bild ist also eines von Hunderten, die Robert Frank bei seiner Reise quer durch Amerika aufgenommen haben dürfte, und gehört zu denen, die er am Ende ausgewählt hat. In der Bildmitte ein weißer Fleck, die dargebotene Zeitschrift, das nach oben gekehrte Handgelenk, der Titel, Erwachet, ein Wort, das in vollkommenem Widerspruch zu der leichenbitterhaften Erscheinung des Mannes steht. Dennoch verbietet sich der Gedanke, das Bild wäre etwa wegen seiner ironischen Dimension ausgewählt worden. Ich selbst erinnerte mich nicht an den Titel, aber sehr wohl an den bekümmerten Mund, oder an die Augen, ich erinnerte mich an etwas, das es nicht gibt: die Stimmung eines zaghaft sonnigen Tages. Er könnte mit derselben Beharrlichkeit Erdbeeren oder Narzissen verkaufen, schmächtig in seinem Anzug, fast unsichtbar vor dieser für eine siegreiche Menschheit zugeschnittenen Mauer. Man fragt sich, wohin er abends geht. Man weiß einfach, eines Tages muss er in seinem Leben die falsche Abzweigung genommen haben.

Vor zehn Tagen habe ich meine Mutter verloren. Ich war dabei. Sie zog eine Schulter hoch, als würde irgendetwas sie stören, und dann geschah nichts weiter. Ich sprach sie an. Sprach sie noch einige Male an. Und da war nichts mehr. Mein Freund Lambert hat mir erzählt, dass seine Mutter ihn kürzlich fragte, wie alt bist du jetzt?

– Siebzig, Mutter.

– Siebzig!, rief seine Mutter aus, dann hast du es dir verdient, endlich eine Waise zu sein, mein Junge!

Jeanne und ich haben dieses Wochenende die Wohnung ausgeräumt. Zwei winzige Zimmer in Boulogne-Billancourt. Ein Gratis-Entrümpler holte die Möbel und die Kücheneinrichtung ab. Und wir warfen alles in Abfallsäcke, Schweinchen aus Holz, Kätzchen aus Gips, Kerzenhalter, bunte gläserne Briefbeschwerer, provenzalische Puppen, Stielvasen. Also fast alles, abgesehen vom Inhalt gewisser Schubladen und der Kleidung. Und dem Nussknacker in Pilzform, den ich vor fünfzig Jahren im Werkunterricht in der Schule gebastelt hatte und jetzt nebst anderem Kleinkram in einem völlig zerdrückten Schuhkarton wiederfand. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es den noch gab. Jeanne erinnerte sich nicht daran, sie wollte kaum glauben, dass ich so etwas zustande gebracht hatte. Aus einem Bezug ganz hinten im Kleiderschrank förderten wir die gehäkelten Überdeckchen zutage, die gehäkelten Kissenbezüge, die gehäkelte Patchwork-Tagesdecke, die einst auf dem Ehebett gelegen hatte und aus unerfindlichen Gründen der Entsorgung entgangen war. Unsere Mutter war Weltmeisterin im Häkeln. Als Rentnerin hatte sie nichts anderes mehr zu tun. Einkaufen, Fernsehen, vorm Bildschirm häkeln. Noch bevor Jeannes Tochter laufen konnte, krabbelte sie in Häkel-Windeln und Häkel-Röckchen herum. Was machen wir jetzt mit denen?, fragte Jeanne.

– Wir könnten sie einem Wohlfahrtsverein geben.

– Ob die so was wollen?

– Wir hätten sie mit dem Rest wegschmeißen sollen.

– Ja.

– Und die Klamotten gleich mit.

– Ja.

Die Kleidung hing, sorgsamst verwahrt, dichtgedrängt in einem schmalen Schrank. Bis ganz zum Schluss, auch als sie schon bettlägerig war, war es ihr wichtig, präsentabel zu sein. Sie sagte, bloß nicht tot und dreckig aufgefunden werden. Eine verwahrloste Alte werden, das ist für mich eine Horrorvision. Wir holten Blusen hervor, Strickjacken, den Wintermantel, legten sie auf einen dreistufigen Tritt, den einzigen Überlebenden der Entrümpelungsaktion. Wir kannten das alles in- und auswendig, hatten es jahraus, jahrein gesehen. Unmodische, überholte Sachen. Die Garderobe einer gewöhnlichen Frau, die ohne Aufsehen lebt, zur Arbeit fährt, von der Arbeit kommt, ihren Haushalt ordentlich führt, die sich nie den geringsten Leichtsinn erlaubt hätte oder die kleinste Gewagtheit im Aussehen oder in anderer Weise, aber wer weiß. Jeanne und ich kannten jedes einzelne Teil aus dem Schrank, und zwar praktisch immer schon, sie hatte das alles schon in Puteaux getragen, dieselben rauen Wollsachen, dieselben mehr oder weniger dunkelgrünen, bordeauxroten oder beigefarbenen Kombinationen, den etwas weniger alten, aber auch schon seit Jahren vertrauten Polyester-Morgenmantel. In einer Ecke lagen sorgfältig gefaltet sämtliche Schals, die wir ihr geschenkt hatten. Als Schals in Mode kamen, schenkten wir ihr welche in dezenten Farben, nur fiel uns nie auf, dass sie die von vorher nie trug. In Seidenpapier gehüllt, lagen sie da. Jeanne wand sich einen um den Kopf, à la Audrey Hepburn, ich sagte, wann fängt der Ramadan an? Wir lachten, und eine Art deplatzierter Kummer schnürte mir die Kehle zu in dieser winzigen, leeren Wohnung, wo von einem ganzen Leben so gut wie nichts geblieben war. Die dicke Anicé hatte sich genötigt gefühlt, das Schondeckchen zu nehmen. Sie sagte, »Zur Erinnerung, warum nicht«, und nahm es an, die Geste des braven Mädchens, das einem einen Gefallen tut. Sie hätte wenigstens so tun können, als wäre sie gerührt oder würde die feine Handarbeit bewundern, aber nein, sie stopfte es nachlässig in ihre Handtasche. Es tut mir leid, dass ich es ihr geschenkt habe. Eine Frau häkelt ihr liebes Leben lang und hinterlässt ihre kleinen Stoffstückchen, die nichts und niemandem nützen. Sie erfand Motive, kein Mensch schert sich darum. Wer interessiert sich für Häkel-Motive? Der Tod trägt alles fort, gut so. Es gilt, für die Neuankömmlinge Platz zu schaffen. In unserer Familie waren wir dabei immer radikal. Das biblische Modell, jener Vater zeugte jenen Sohn, das gibt es bei uns nicht. Auf keiner Seite. Meine Großeltern habe ich nicht kennengelernt, abgesehen von der Großmutter väterlicherseits, einer Eisenbahnerwitwe; sie liebte niemanden außer den Meisen, die sie auf ihren Fensterbrettern durchfütterte.

Die Wohnung über uns ist immer noch verplombt, der gelbe Aufkleber und die beiden wächsernen Siegel sitzen über der Türritze. Manchmal gehe ich eigens hoch, um nachzusehen. Was hier geschah, ist diskret verflogen, die Luft ist dieselbe wie zuvor, ich beuge mich über die Balustrade unseres Balkons, auf der Straße gibt es nichts zu sehen als die altbekannten Banalitäten, den Liguster, die Sträucher in ihren Kübeln, die ordentlich zwischen den frisch aufgemalten Linien geparkten Autos. Ich sah die Manoscrivis immer über diesen Parkplatz gehen und in ihren Renault Laguna Kombi steigen, immer sie am Steuer, wenn sie zu zweit waren. Er rauchte noch schnell auf, bevor er einstieg, so hatte sie Zeit, rückwärts auszuparken. Am Ende kamen achtzehn Gäste. Ich war auf das Doppelte vorbereitet. Alte Freunde, Kollegen von Pierre, Jeanne und ihr Exmann, meine Nichte, die Manoscrivis, meine befreundeten Kolleginnen aus dem Pasteur oder von Font-Pouvreau, mit oder ohne Kerl, und sogar Emmanuel, auch wenn er nicht lange blieb. Kaum war Jeanne eingetroffen, einen hausgemachten Orangenkuchen feierlich vor sich hertragend wie eine Schale Kaviar, verschwand sie in der Küche, um ihn mit Küchenpapier abzudecken und in den Kühlschrank zu zwängen. Auf den ersten Blick erkannte ich, dass sie in dieser typischen fidelen Laune war, die mich einfach fertigmacht. Meine Schwester ist absolut schwankend in ihren Launen. Stündlich können sie umschlagen, manchmal auch schneller. Ihre schlechte Laune ist radikal, eine düstere, fast stumme Schwermut, nicht besonders sympathisch. Ihre gute Laune ist aber noch viel schlimmer. Sie trällert vor sich hin, trägt eine manierierte Fröhlichkeit zur Schau, mit Jungmädchengestik und absichtlich gezierter Sprechweise. Sie hat eine geheime Liebschaft mit einem Bilderrahmenbauer angefangen. In der Euphorie des Anfangs hat sie sich ein SM-Halsband mit Leine angeschafft und musste mich sofort in die Küche zerren, um es mir auf ihrem Mobiltelefon zu zeigen. Außerdem reizte sie eine kleine Peitsche, sie hatte eine sehr hübsche im Netz gesehen, eine vierschwänzige Katze mit Kroko-Handgriff. Leider sollte sie vierundfünfzig Euro kosten, und auf dem Ding stand: Achtung, für SEHR scharfe Stunden. Ich wollte das Gesicht ihres Rahmenbauers mal sehen, aber sie hatte kein Foto. Er sei vierundsechzig, fünf Jahre älter als sie, verheiratet, kräftige Arme, denn er gehe rudern, sagte sie, und tätowiert waren die Arme auch. Ich dachte, und warum taucht in meinem Leben nicht mal ein tätowiertes Mannsbild mit Peitsche auf? Ich fühlte mich ausgemustert, aus dem Rennen, gerade noch gut genug, in der Vorstadt Abendgesellschaften für Verwandte und ein paar ultraöde Gäste zu veranstalten. Ich nehme mir diese Gedanken übel. Ich fühle mich wohl mit meinem Mann. Pierre ist fröhlich, man kann gut mit ihm auskommen. Und er ist nicht redselig, ich mag keine redseligen Männer. Er ist immer für mich da, aber kein unterwürfiger Softie. Er ist zärtlich. Ich mag seine Haut. Wir kennen einander in- und auswendig. Ich werfe ihm seine allzu bedingungslose Liebe vor. Er bringt mich nicht in Gefahr. Er idealisiert mich nicht. Er mag mich sogar, wenn ich hässlich bin, auch wenn das nicht sonderlich beruhigend ist. Zwischen uns sprühen absolut keine Funken – war das jemals so? Was für eine jämmerliche Bilanz! Ich bin wie der Tannenbaum aus Andersens Märchen. Der will unbedingt etwas Lebendigeres, Aufregenderes erleben! Was zählen ihm Wald und Schnee, Vögel und Hase, nichts kann ihn erfreuen, er sehnt sich nur danach, zu wachsen und die Welt von oben herab zu betrachten. Als er dann groß ist, träumt er davon, dass die Holzfäller ihn schlagen und fortbringen, damit er zum Schiffsmast werden und die Meere bereisen kann. Als seine Äste entwickelt genug sind, will er geschlagen und fortgebracht werden, um ein Weihnachtsbaum zu werden. Der Tannenbaum will weg, die Sehnsucht bringt ihn um. Als er im warmen Saal steht und geschmückt und herausgeputzt wird, als man ihn mit Zuckerzeug behängt und mit einem Stern krönt, da träumt er vom kommenden Abend und den Kerzen auf seinen Zweigen, träumt davon, wie der ganze Wald kommt und neidisch zu den Fenstern hereinschaut. Als er einsam auf dem Dachboden liegt, nackt und bloß, ohne Nadeln in der Winterkälte, redet er sich gut zu und hofft, dass er im Frühling wieder hinausdarf. Als er auf dem Hof liegt, welk und dürr neben den frischen Blumen, wünscht er sich wieder in die dunkle Ecke auf dem Dachboden. Und als Axt und Streichhölzer kommen, denkt er an die einstigen Sommertage im fernen Wald.

Die Manoscrivis kamen als Erste, zugleich mit Nasser und Claudette El Ouardi, einem brillanten und strengen Paar. Ich habe Nasser bei Font-Pouvreau kennengelernt, wo er mit Europafragen betraut war. Später hat er seine eigene Kanzlei als Berater für Industrierecht gegründet. Claudette ist in der Bio-Informatik-Forschung. Lydie und Jean-Lino hatten sich ihnen noch vor der Tür als Gäste vorgestellt, die einen ganz besonders beschwerlichen Herweg hatten, und die El Ouardis lachten höflich über den Scherz. Die Manoscrivis brachten eine Flasche Champagner mit, Jean-Lino hatte ein sehr kurz geschnittenes Sträußchen blasslila Röschen in der Hand. Bis Jeanne und ihr Exmann kamen, waren wir eine kleine Weile zu sechst. Eine ganz besonders leere Zeitspanne voll intensiver Unschlüssigkeit, denn jedes der beiden Paare hatte sich an ein Ende des Sofas gedrückt, während Pierre und ich halb gebückt mit Getränken und Schälchen voll Rohkost hantierten. Jean-Lino saß ganz vorn am Rande des Polsters, seine Haarsträhnen säuberlich auf den Schädel geklebt, die Hände zwischen den gespreizten Beinen gefaltet, in der Haltung vertrauensvoller Erwartung. Er trug ein veilchenblaues Hemd, ich fand es sehr elegant, mit Raglanärmeln, und dazu eine Brille, die ich nicht kannte. Ein halbrundes, sandfarbenes Gestell. Lydie reichte Staudensellerie herum. Kein Wort konnte sich aufschwingen. Kein Dialog kam in Gang. Am Ende jedes Satzes lauerte die Stille. Irgendwann sprach Nasser das Wort »Boulevard Brune« aus, und Lydie rief, Ah, am Boulevard Brune, da jammen wir demnächst! Jammen?, fragte Nasser, was soll das heißen? Eine Jam-Session, Jazz vor und mit dem Publikum, antwortete Lydie breit lächelnd.

– Aha, sehr schön …

– Eine Impro, wenn Sie das besser verstehen! Improvisation mit Freunden und Unbekannten.

– Ah, Impro. Ja, sehr schön. Spielen Sie ein Instrument?

– Ich singe.

– Sie singen. Bravo.

Jean-Lino lächelte stolz dazu. Ich ergänzte, sie singt sehr gut, und alle nickten liebenswürdig. Jetzt hätte man auf eine kleine Fortführung hoffen können, auf eine minimale Neugier, aber nein, das Gespräch stürzte in das klaffende Loch zurück, aus dem es aufgetaucht war. Ich warf einen Blick nach draußen und entdeckte Flocken. Es schneite! Am ersten Frühlingstag! Ich rief, es schneit! Ich machte die Fenster auf, die Kälte strömte herein. Es schneite. Und keine kleinen Flocken, sondern schöne schwere, flache. Alles stürzte auf den Balkon. Claudette und Lydie lehnten sich über das Balkongitter, um zu schauen, ob die Flocken am Boden schmolzen. Die Männer sagten, der bleibt nicht liegen, die Frauen sagten, der bleibt. Wir fingen an, über das Klima zu reden, die Jahreszeiten, über Gott weiß was, Pierre machte eine Flasche Champagner auf, der Korken flog nach draußen, die Flocken abschießen. Umweltsünder!, meinte Lydie. Wir prosteten uns lachend zu. Pierre erzählte eine Geschichte aus Emmanuels Kindheit. Sie waren beide, Vater und Sohn, zusammen zum Wintersport nach Morzine gefahren und teilten sich ein Zimmer in einem Hotel, mit Sauna im Untergeschoss. Als er eines Abends von dort entspannt im Bademantel ins Zimmer hochkam, saß Emmanuel in Tränen aufgelöst vor dem Fernseher. – Was hast du denn? – In Paris schneit es! – Hier auch, mein Kleiner, schau mal aus dem Fenster, wie schön!, hatte Pierre gesagt, der Sonnenuntergang hinter den Bergen. Ich möchte heim nach Deuil-l’Alouette!, flennte der Junge. Er rollte sich jammernd auf dem Bett herum und schmiss alles auf den Boden, was ihm in die Finger kam, untröstlich, dass er den Schnee in Deuil-l’Alouette verpasste. Am Ende warf Pierre die Fernbedienung nach ihm. Sie zerschellte an der Wand, Emmanuel behauptete, er sei ihr gerade noch so ausgewichen, Pierre schwor seither, er habe ohnehin danebengezielt. »Schnee«, das heißt meine Kindheit, das heißt Glück, diesen Satz von Cioran werde ich nie vergessen, obwohl er auf mich nicht zutrifft. Als Jeanne mit ihrem Orangenkuchen in die Küche gerannt kam, sagte sie, draußen vor eurem Haus wäre ich beinah auf die Fresse geflogen, so, als wären wir verantwortlich für den Kälteeinbruch. An den Füßen hatte sie ungewöhnliche Riemchensandalen mit Keilabsatz, warum sie die gekauft hatte, begriff ich später, als ich die Fotos von der SM-Ausrüstung sah. Dank des Schnees kam der Abend endlich in Fahrt. Nass und aufgekratzt trudelten einer nach dem anderen die Gäste ein. Serge, Jeannes Ex (sie haben sich vor acht Jahren im Guten getrennt, der Kontakt ist nie abgebrochen), übernahm von sich aus den Türdienst, antwortete an der Gegensprechanlage, nahm den Leuten die Mäntel ab, improvisierte gegenseitige Vorstellungen. Meine Freundin Danielle, sie ist Dokumentarin im Pasteur, kam ebenfalls sehr aufgewühlt an. Sie hatte am selben Tag ihren Stiefvater beerdigt. Als ihre Mutter im Krankenhaus den Toten im Sarg sah, hatte sie laut aufgeschrien, aber Jean-Pierre trug doch keinen Schnurrbart! Die für die Herrichtung des Toten zuständige Angestellte hatte ihn nachlässig rasiert, und der dichte Schatten unter den Nasenlöchern ließ ihn aussehen wie Adolf Hitler. Als Danielle das erzählte, erinnerte ich mich an die lieblose Frisur, die man meiner Tante für ihren Abschied verpasst hatte, plattgedrückt und mit scharfgezogenem Scheitel, und das ihr, die ihr Haar ein Leben lang unablässig gekräuselt und toupiert hatte. Als sie im Altenheim vor sich hin vegetierte, gab ihr Mann, der, wie meine Mutter es ausdrückte, immer ein Frauenheld geblieben war, all ihre Sachen zu den Barmherzigen Schwestern, bis auf das, was sie für den Sarg noch brauchen würde. Jean-Pierre trug doch keinen Schnurrbart, hatte Danielles Mutter mehrmals völlig aufgebracht gerufen (Danielle machte das perfekt nach). Offenbar war sie dabei durch das Zimmer gewirbelt und mehrfach gegen die Wand geprallt. Danielle sagte mit übertrieben besonnener Stimme, Mutter, beruhige dich doch, wir regeln das Problem. Ein Mann tauchte auf, sie wies ihn auf das Rasurproblem hin, ihre Mutter rief nochmals, mein Mann trug doch keinen Schnurrbart! Auf Zehenspitzen kam der Mann mit einem Mäppchen zurück. Der glattrasierte und gepuderte Jean-Pierre, der dabei herauskam, sah dem lebenden Jean-Pierre auch nicht viel ähnlicher, aber Danielles Mutter beugte sich über den offenen Sarg und sagte, ach, was bist du schön, mein Bärchen. Später, als sie aufgelöst durch den Flur humpelte, hatte sie zu Danielle gesagt, Danielle, Liebes, du wirst dich jetzt sehr gut um mich kümmern müssen, was hast du heute Abend vor? Ich könnte uns einen kleinen Kalbsbraten machen, mit Champignons? Na prost, meine Beste, hatte Danielle zu sich selbst gesagt, heute Abend kannst du sie nicht allein lassen, das war’s dann mit dem Abend bei deinen Freunden … Ich warf ein, ich persönlich hätte ja kein Double, das mich meine Beste nenne und davon abhalte, Unsinn zu machen.

– Also mich nennt mein Double meine Beste, sagte Danielle, aber ich hör nicht drauf.

– Du hast deine Mutter allein gelassen?

– Ich hab sie einer von ihren Nachbarinnen untergeschoben, aber jetzt brauch ich erst mal eine Stärkung.

– Hättest du sie doch mitgebracht.

– Um Himmels willen, bist du wahnsinnig!, rief Danielle und kippte ein Glas Champagner.

Ab diesem Moment begann Mathieu Crosse, ein Kollege von Pierre, um sie herumzustreichen. Ich schnitt gerade in der Küche eine Tortilla auf, da erschien überraschend Emmanuel, etwas gönnerhaft wie einer, der später noch auf drei Partys erwartet wird. Er wirkte auf mich erstaunlich jung in dieser Gesellschaft. Er war es ja auch. Die Lallemants kamen mit einem pikanten Hühnchen-Cake und einem Buch für Pierre, das Lambert ihm in Geschenkpapier überreichte. Pierre nahm es höflich entgegen und legte es unausgepackt auf einen Tisch. Ich sagte, warum packst du es denn nicht aus? Er packt nie mehr was aus! Es war die Moderne Schachstrategie von Tartakower, eine Erstausgabe. Wirklich eine reizende Aufmerksamkeit, Pierre hatte über den Verlust seines Jugendexemplars geklagt. Ich sagte, er packt nie mehr was aus neuerdings. Dann komme ich wohl nach meinem Vater, sagte Emmanuel, nicht mal neu gekaufte Klamotten packe ich aus, es braucht mindestens zwei Wochen, bevor ich sie anziehe. Weil du noch zu jung bist, sagte Pierre, eines Tages ziehst du sie überhaupt nicht mehr an, du wirst schon sehen. Marie-Jo Lallemant schüttelte irgendwie hingerissen ihre feuchte Mähne. Was machst du jetzt eigentlich so, Manu?, fragte sie in kumpelhaftem Tonfall. Sie ist Orthoptistin und meint, sie hat einen guten Draht zur Jugend. Digitales Marketing, sagte Emmanuel. – Wow, sagenhaft! Während ich eine Platte suchte, um den Hühnchen-Cake zu servieren, hörte ich Satzfetzen in der Art von, wir gestalten den Content für die Websites von B2B-Unternehmen, und sah Marie-Jo beifällige Grimassen ziehen, was Digitales find ich viel cooler als meine Finanzpläne andauernd; Marie-Jo war ja so was von einverstanden.

Die Lallemants waren gerade in Ägypten gewesen. Lambert zeigte uns allerlei Fotos von den Pyramiden, immer ein, zwei asiatische Touristen im Bild, dann Bilder aus Kairo, Auslagen mit Schaufensterpuppen, und dann auf einmal kam ein ungewöhnliches Bild. Ich sagte, Moment, zeig noch mal, zeig noch mal! Eigentlich war es nichts; eine Frau, von hinten aufgenommen, geht den Bürgersteig entlang, ein winzig kleines Mädchen an der Hand. Fast ein Schnappschuss, nicht sehr scharf. Jetzt habe ich es in groß auf meinem Computer, Lambert hat es mir sofort geschickt (darum befindet es sich jetzt in meinem Bilder-Ordner neben dem der lachenden Manoscrivis). Auf einer Straße in Kairo geht, man sieht sie von hinten, eine Frau, an der Hand ein winzig kleines Mädchen in einem langen weißen Kleid. Der Boden ist mit Platten belegt, es könnte ein Vorplatz sein oder ein sehr breiter Bürgersteig. Es ist Nacht. Ringsum Männer, Geschäftsschilder, grell beleuchtete Schaufenster. Die Frau ist üppig, ihr Haar unter einem Schal verborgen. Ihre Kleidung ist etwas verwirrend, über einem Pulli mit schwarzen Ärmeln trägt sie einen knielangen Umhang in Orange, darunter eine dunkle Hose. Die Kleine geht ihr knapp übers Knie, sie ist bis auf die bloßen Arme ganz in Weiß gekleidet. Ein Kittelkleid mit Rüschen, so lang, dass es sie beim Gehen stören muss, über einer sich bauschenden, kragenlosen Hemdbluse. Das Kleid ist in der Taille ausgestellt wie bei einem Modell für eine Erwachsene, mit beeindruckend viel Stoff. Darüber dann der kleine, kleine Kopf des Kindes. Ein bis auf den Pferdeschwanz in der Mitte ausrasierter Nacken, abstehende Ohren, dünne, strähnige schwarze Haare. Wie alt mag sie sein? Dieses Kleid steht ihr absolut nicht. Sie haben sie verkleidet und in die Nacht hinausgezerrt. Ich identifizierte mich sofort mit dieser weißen Gestalt, der Jahre der Scham bevorstanden. Als ich klein war, wurde ich hübschgemacht. Im Naturzustand war ich es also nicht, so viel verstand ich. Aber man soll ein unanmutiges Kind nicht herausputzen. Es fühlt sich anormal. Die anderen Kinder fand ich anmutig. Und fühlte mich lächerlich in den Alte-Frauen-Kleidern, die mich am Herumhüpfen hinderten, und mit meinen immer höchstens schulterlangen Haaren (meine gesamte Kindheit über verbot mir meine Mutter lange Haare), die hinten mit einer Haarspange fixiert waren, um meine Locken straff zu ziehen und die Stirn frei zu halten. Ich erinnere mich an eine Zeit, als ich meine Hausaufgaben machte und dabei Strähnen aus falschem Haar trug, die ich an meine eigenen angeknüpft hatte. Ständig bewegte ich den Kopf, um zu spüren, wie sie sich bewegten und baumelten. Meine Mutter wollte, dass ich ordentlich aussah. Mit anderen Worten, geleckt sauber, plump ausstaffiert und hässlich. Der Frau mit dem Schal ist das Wohlbefinden des Mädchens egal. Sie selbst fühlt sich in ihrem Körper auch nicht wohl. Vor allem liegt ihr jeder Gedanke an Wohlbefinden fern. Niemand in unserer Familie wäre auf so etwas gekommen. Ich kann der Anicé, dieser Schlampe, nicht verzeihen, dass sie das Häkeldeckchen missachtet hat. Wenn ich nur daran denke, raubt es mir den Schlaf. Ihre Mama war ja so eine freundliche Frau!, um mir einen Gefallen zu tun. Oder mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Meine Mutter war alles, aber nicht freundlich. So konnte man sie auf gar keinen Fall bezeichnen. Nur weil jemand gestorben ist, spricht man ihm seinen eigentlichen Charakter ab. Einen Gefallen hätte mir die Schlampe getan, wenn sie das Deckchen behutsam genommen und sorgfältig in ihrer Tasche verwahrt, wenn sie wenigstens in den paar Sekunden unseres Abschieds so getan hätte, als könnte es ihr etwas bedeuten. Sie hat es in den nächsten Mülleimer geworfen. Das hätte ich auch getan. Aber niemand hätte es geahnt. Wenn ich nicht in gesellschaftlichen Vorzeigesituationen war, schleifte meine Mutter mich ebenso achtlos mit wie die Mutter in Kairo ihr Kind. Ganz den übrigen Sorgen des Lebens zugewandt. Wenn sie die Hände am Griff des Einkaufswagens hatte, musste ich mich ebenfalls daran festhalten. Kilometerweit konnte ich mit einer Rotznase oder einer schief sitzenden Kapuzenmütze herumlaufen, ohne dass sie etwas bemerkte. Jeanne und ich waren immer viel zu warm angezogen. Noch im fortgeschrittenen Alter mussten wir sechs Monate im Jahr mit Kapuzenmütze gehen. Welches Detail hat bei mir klick gemacht, als Lambert uns seine banalen Fotos zeigte? Die beiden Gestalten auf den grünlichen Bodenplatten hatten mich auf der Stelle stutzen lassen. Trotz des Größenunterschieds zwischen ihnen, der raumgreifenden Mutter und der Kleinen mit dem Stecknadelkopf, begreift man sofort die Kraft eines winzigen Lebens. Die Aufnahme mag wenige Tage vor unserer Abendeinladung in einem anderen Land, einem anderen Klima entstanden sein, aber sie zielt auf mich und versetzt mich weit in die Vergangenheit. Wir waren unansehnlich und ohne Geschmack ausstaffiert, meine Mutter und ich. Allein gingen wir auf dieselbe Weise die Straßen entlang, und obgleich meine Mutter nicht dick war, fühlte ich mich an ihrer Seite wie ein Nichts. Als ich gemeinsam mit Jeanne ihre Wohnung ausräumte, wurde mir klar, wie einsam sie sich ihr Leben lang gefühlt hat. Wenn mein Vater mich bei einem seiner Wutanfälle schlug, tauchte sie in meinem Zimmer auf und gebot mir, mit dem Weinen aufzuhören. Sie stand auf der Schwelle und sagte, gut, jetzt reicht’s aber mit dem Theater. Dann machte sie zum Abendessen etwas, das ich besonders mochte, eine Suppe mit Nudeleinlage zum Beispiel. Wenn wir sie in den letzten Monaten ihres Lebens besuchten, trafen wir sie stets unerklärlich lebhaft, aufgekratzt an. Mit vorgestrecktem Hals und weit aufgerissenen Augen spähte sie jedweder Bewegung nach, wollte nicht ein einziges in ihrer Gegenwart geäußertes Wort verpassen, schwerhörig, wie sie war. Sie, die Spezialistin für Gleichgültigkeit, die immer an allem das Negative gesehen hatte, sie wurde, als es daranging, den Löffel abzugeben, auf einmal entsetzlich neugierig.

Irgendeinen gibt es immer, der einem wie ein Klotz am Bein hängt. Der Klotz unseres Abends war Georges Vapereau. Er isst und trinkt, er hilft kein bisschen mit und spricht mit niemandem. Der Schnee war bald einem schlaffen Regen gewichen. Georges Vapereau, Teller und Glas in der Hand, wanderte unablässig zwischen den Gruppen umher, ging wieder zum Fenster und starrte hinaus, als ob es draußen dann doch unterhaltsamer wäre. Ich war wütend, dass Pierre ihn wieder eingeladen hatte. Viele Männer, ist mir aufgefallen, haben diese Neigung, ihr Leben lang so einen Klotz mitzuschleifen, der sie offenbar amüsiert, ohne dass irgendwer begriffe, warum. Anfangs war Georges Historiker, dann hat er Comics gemacht, jetzt schlägt er sich, pichelnd, mit kleinen Schreibereien durch. Seine Visage ist irgendwie noch attraktiv genug, um sitzengelassene Frauen anzuziehen. Catherine Mussin, die immer noch bei Font-Pouvreau arbeitet, ging zum Fenster und versuchte ein Gespräch zum Thema meteorologische Veränderlichkeiten. Georges sagte, er möge Schietwetter, Regen, zumal diese Art schmierigen Regen, den jeder verabscheut. Catherine kicherte, von der pittoresken Antwort charmiert. Er fragte, was sie beruflich mache, sie sagte Patentingenieurin, er antwortete, ach, derselbe Quatsch wie Elisabeth! Sie lachte abermals und erklärte, sie beschäftige sich damit, die Erfindungen der Forscher zu schützen.

– Ach nee. Und was für eine Erfindung schützen Sie gerade?

– Ich arbeite an dem Patentantrag Endorphine. Es geht um ein neues Schmerzmittel, wenn Sie so wollen.

– Und was wird Ihr Antrag da bewirken? Dass ein paar reiche Typen noch reicher werden? Sie versuchte zu differenzieren. Inzwischen musste sie schon einen Hauch von seinem Weinatem abbekommen haben. Georges sagte, der wahre Forscher, meine Kleine, der scheißt auf die Knete, der braucht keinen Schutz! Catherine versuchte, den Begriff »öffentliches Interesse« anzubringen, stand aber auf verlorenem Posten. Ihr seid doch nur die Handlanger der Industrie, machte Georges weiter, die Typen, die das Aids-Virus entdeckt haben, die haben auf die Knete geschissen, denen ist es um nichts als um Grundlagenforschung gegangen, und Grundlagenforschung kommt prima ohne euch süße Mädels aus, euer Patent-Theater da ist der reine Kommerz, ihr schützt keinen Menschen, ihr schützt das große Geld! Er hatte sie zwischen Fenster und Truhe eingezwängt, redete aus zwei Zentimetern Entfernung auf sie ein. Sie bekam Luftnot und schrie auf, seien Sie nicht so aggressiv! Die Leute drehten sich nach ihnen um, und Pierre griff sofort ein, um seinen Freund zu bändigen. Die Manoscrivis nahmen sich Catherines an und stellten ihr einen Teller mit Salaten und einem Stück Hühnchen-Cake von den Lallemants zusammen. Sie fragte immer wieder, wer ist denn dieser Typ, spinnt der? Im Vorbeigehen sagte ich, Lydie, das ist mal einer, den Sie resetten sollten! Ein Suffkopp lässt sich nicht resetten, wandte Lydie ein. Ich fragte mich, wen sie denn resetten wollte, wenn nicht Leute, die aus der Spur geraten waren.

Irgendwann ließ sich Lambert mit der Aussage vernehmen, sämtliche linken Überzeugungen kommen mir nach und nach abhanden. Worauf Jeanne geradezu tollkühn etwas entgegnete, das noch vor wenigen Jahren im selben Kreis den sozialen Selbstmord bedeutet hätte: Mir kann das nicht passieren, ich habe nie welche besessen! Ich auch nicht!, gluckste Lydie, die sich in der Runde pudelwohl fühlte. Er ja auch nicht!, ergänzte Pierre. Was redest du da, mein Leben lang habe ich links gewählt, durch dick und dünn, verteidigte sich Lambert, ich werde sogar als rote Socke beschimpft. Serge aber wollte diesen Titel für sich und nur sich allein in diesem Raum in Anspruch nehmen, und jemand fragte, ob sich »rote Socke« eigentlich in andere Sprachen übersetzen lasse. Wir alle warfen Wörter in die Runde, wobei wir in stiller Übereinkunft ausschlossen, dass es ein angelsächsisches Pendant überhaupt gab. Gil Teyo-Diaz, unser Experte für alles Iberische, sagte progre und nannte bei der Gelegenheit den bärtigen Comic-Helden Quico el progre. Ich sagte, und auf Italienisch, was würden Sie da sagen, Jean-Lino? Ich sah, wie er errötete, so jäh in den Mittelpunkt gerückt, hilfesuchender Blick zu seiner Frau, ratloses Zucken ihrerseits, dann stotterte er etwas Unverständliches und brachte am Ende heraus: sinistroide. Sinistroide! Das Wort wurde belacht, und jemand fragte, ob man sagen könne un vecchio sinistroide. Er sagte, er sehe nicht, was gegen diese Formulierung spräche, aber er sei eben auch kein Italiener aus Italien, er sei sich bei dem Wort nicht ganz sicher, er könne letztlich in diesen Dingen gar nicht mitreden, da er Italienisch nur mit seinem Kater spreche und nie über Politik. Das brachte ihm allgemeine Sympathie ein, und er wurde wider Willen zum Liebling des Abends.

Die Jugend verlässt uns!, ließ Serge verlauten, als Emmanuel sich still und leise verdrücken wollte, und der Ärmste musste für eine Abschiedsrunde noch einmal ins Wohnzimmer zurückkommen. Ich sah ihn lange merkwürdig eingeknickt vor Lydie dastehen, bis mir klar wurde, dass sie seine Hand hielt und auf ihn einredete, ohne loszulassen, wie es Leute tun, die sich ihrer magnetischen Wirkung sicher sind und deren Alter körperliche Vertraulichkeiten zulässt. Catherine fragte Jean-Lino, ob er Kinder habe. Er strahlte, er berichtete von einer Freude, die für ihn geradezu vom Himmel gefallen sei, und der Name Rémi trat auf seine Lippen. Vielleicht erfindet man ja seine Freude. Vielleicht ist nichts real, weder Freude noch Schmerz. Die unverhoffte Anwesenheit eines Kindes in seinem Leben nannte Jean-Lino eine Freude. Er nannte es eine unverhoffte Freude, dass er sich um ein anderes Wesen kümmern, für es sorgen konnte. So war Jean-Lino gestrickt. Rémi, die Nervensäge, war eine Freude, vom Himmel gefallen.

In dem Augenblick, als Emmanuel ging, kamen Etienne und Merle Dienesmann. Merle (sie ist Geigerin) hatte gerade bei Dvořáks Requiem in der Kirche Sainte-Barberine mitgewirkt. Etienne ist Pierres engster Freund. Seit einigen Monaten geht es mit seinem Augenlicht bergab. In seiner Garage lagert er Leuchtmittel, die er kauft, um seiner unheilbaren Makula-Degeneration zu begegnen. Er weigert sich kategorisch, in der Öffentlichkeit darüber zu reden, und tut so, als ob nichts wäre (mittlerweile geht das schon fast nicht mehr). Wenn er etwas in seiner Garage abstellen oder dort herausholen will, was ihm beim Sehen helfen soll, sieht er nichts, denn da drinnen liegt kein Strom und es ist stockdunkel, da bräuchte er schon einen 1000-Watt-Strahler. Etienne war Mathelehrer, wie Pierre, jetzt unterrichtet er in Vereinen Schach für Kinder. Ich habe ihn noch nie über seinen Zustand klagen hören. Seine Augen verlieren nach und nach ihren Glanz, aber an dessen Stelle ist in seinem Gesicht etwas anderes, Neues aufgetaucht, ich könnte es nicht benennen, etwas Beharrliches, Nobles. Merle tut ebenfalls, als ob nichts wäre, aber ich sehe, wie sie unmerklich das Glas dichter an die Flaschenöffnung hält, wenn Etienne eingießt, oder andere winzig kleine Gesten, die mich zutiefst rühren.

Einen Teil des Festes verbrachte Jeanne mit einer fieberhaften Korrespondenz, Handy und Brille in der Hand. Serge tat so, als ob er es nicht bemerkte. Er war neckisch aufgelegt (und hinreißend täppisch dabei), betätigte sich als Butler und Oberkellner, redete mit allen, versuchte sogar, Claudette El Ouardi zu amüsieren, er machte mir alles angenehm und leicht. Auch wenn er auf ihr jetziges Leben nicht mehr eifersüchtig war, konnte ich nicht begreifen, wie sie sich derart grob benehmen konnte. Ich fand meine Schwester monströs. Eine lächerliche Frau, jugendlich aufgestelzt, rücksichtslos und vulgär. Als ich an ihr vorbeikam, flüsterte ich ihr zu, hör auf damit, sonder dich nicht so ab. Sie blickte mich an, als wäre ich lästig und sauertöpfisch, und rückte nur ein klein wenig beiseite. Fast hätte ich mir davon den Abend verderben lassen, doch als ich sie von hinten sah, mit den gefärbten Haaren, die über ihren Stiernacken wallten, sie, die seit so vielen Jahren in die Banalität des Lebens eingepfercht war, da dachte ich, dass sie vollkommen recht damit hatte, sich den Ruderer zu schnappen, die Peitsche, das versaute Gerede, und auf den jovialen Ex und das, was sich gehörte, zu pfeifen, solange es noch nicht zu spät war.

Gil Teyo-Diaz und Mimi Benetrof waren ihrerseits just aus Südafrika zurückgekommen (alle Welt verreist, nur wir nicht). Gil berichtete, wie er sich auf einmal Aug in Auge mit nicht einem, nicht zwei, sondern drei liegenden Löwen befunden hatte. Mensch und Tiere musterten einander, sagte er, und keiner rührte sich! Keiner rührte sich, weil die Löwen fünf Kilometer weit weg waren und du sie vom Jeep aus im Fernglas hattest, sagte Mimi. Wir lachten. Danielle lachte, den Oberkörper eng an Mathieu Crosse gelehnt. Im äußersten Süden von Angola, fuhr Gil fort, sind wir mit dem Boot auf dem total krokodilverseuchten Gounéné gefahren. Mimi korrigierte, sie hätten ein Babykrokodil auf einem Felsen gesehen – ebenso gut hatte es ein Ast sein können –, und zwar im Norden von Namibia. Gil behauptete, er habe Fotos von schreckenerregenden Krokos aus weniger als zwei Metern Entfernung aufgenommen. Ja klar, sagte Mimi, im Zoo von Johannesburg. Was die nicht alles erzählt, sagte Gil, und so eine Reise machen wir eh nicht so bald wieder, Mimi verdient keinen roten Heller mehr. Meine Frau arbeitet in der Rückversicherungsbranche, in der Abteilung Acts of God, also Naturkatastrophen, und heutzutage bedeutet das dank des Klimawandels: Adieu Bonus! Alle lachten. Die Manoscrivis lachten. Das ist das Bild, das mir von ihnen geblieben ist. Jean-Lino hinter dem Sofa stehend, im veilchenblauen Hemd, mit seiner neuen gelben Halbbrille, das Gesicht gerötet vom Champagner oder der Erregung, dass er sich in Gesellschaft befindet, alle Zähne gebleckt. Unter ihm sitzend Lydie, den Rock beiderseits auf dem Sofa ausgebreitet, das Gesicht nach links geneigt, sie lacht schallend. Lacht das wohl letzte Lachen ihres Lebens. Ein Lachen, dem ich unendlich nachsinne. Ein Lachen ohne Bosheit, ohne Koketterie, ich höre es immer noch, ein bisschen dämlich im Grunde, ein von nichts bedrohtes Lachen, das nichts ahnt, nichts weiß. Es gibt keine Vorwarnung vor dem Schlimmsten. Kein flüchtiger Schatten huscht mit der Sense vorbei. Als kleines Mädchen war ich fasziniert von dem Skelett mit seiner Kapuze, dessen Umrisse auf dem Vollmond zu erkennen waren. Seit damals hege ich die Vorstellung, es müsse Vorzeichen geben, in welcher Form auch immer. Ein kalter Hauch, ein dunkler Schemen? Ein Klingeln, wer weiß? Lydie Gumbiner hat nichts kommen gespürt, nicht mehr als sonst einer von uns. Als die anderen Gäste erfuhren, was in derselben Nacht keine drei Stunden später geschehen war, reagierten sie verblüfft und schreckensstarr. Auch Jean-Lino hat nichts gespürt, nicht die geringste Vorahnung von Unheil hat ihn gestreift, als er in den nun folgenden Minuten vollkommen hirnfrei drauflosplapperte; ohne es zu bemerken, hatte er sich von jener typischen ehelichen Übung anstecken lassen, die darin besteht, sich auf Kosten des anderen in Szene zu setzen und ihn zu necken, um das Publikum zu amüsieren. Wie hätte er auch etwas ahnen können? Alles wirkte so traut und folgenlos. Dummes Samstagabend-Gerede, Männer, die die Welt retten, die lachen, sich aufregen.

Lydie erkundigte sich, ob das Hühnchen im pikanten Hühnchen-Cake der Lallemants aus biologischer Aufzucht stamme. Marie-Jo antwortete leicht genervt, also ehrlich, keine Ahnung. Wir haben den bei Truffon gekauft.

– Kenne ich nicht, sagte Lydie.

– Köstliche Sachen macht der, sagte Catherine Mussin.

– Zum Niederknien, pflichtete Danielle ihr bei und schnitt aufreizend sorgfältig eine Portion für Mathieu Crosse ab.

– Haben Sie den Cake schon probiert, Lydie?, fragte ich.

– Nein, ich esse kein Hühnchen mehr, bei dem ich nicht weiß, wo es herkommt.

– Oh ja, das stimmt!, rief Jean-Lino, der Jean-Lino von der Pferderennbahn.

– Ja, das stimmt. Lydie war pikiert. Man kann auch sagen, ich habe überhaupt immer seltener Fleisch auf dem Teller.

– Aber sie beschäftigt sich immer mit dem Fleisch auf den Tellern der anderen!

– Recht hat sie, sagte Claudette El Ouardi, eine ihrer wenigen Äußerungen an dem Abend.

– Ich erzähl euch mal eine Geschichte, sagte der Jean-Lino von der Pferderennbahn. Neulich Abend waren wir mit unserem Enkel Rémi im Carreaux Bleus essen. Ich überlegte, vielleicht Hühnchen auf baskische Art zu bestellen, Rémi wollte ein Hähnchen mit Pommes. Lydie fragte als Erstes, ob die Hühnchen mit Bio-Granulat gefüttert worden wären.

Lydie nickte zur Bestätigung.

– Nachdem man ihr versichert hatte, dass die Hühnchen mit Bio-Granulat gefüttert worden waren, sagte Jean-Lino, stolz auf seine Wortwahl, wollte sie wissen, ob das Hühnchen auf dem Hühnerhof genug Auslauf hatte, ob es herumgeflattert war und sich in einen Baum setzen konnte, wenn es wollte. Der Kellner hat sich zu mir umgedreht, in einen Baum setzen?, und sein Gesicht sprach Bände, Hilfe, eine Durchgeknallte. Ich machte so eine kleine zustimmende Bewegung, Sie wissen schon, so eine leichtsinnige dumme Bewegung, wie wir Männer sie manchmal machen, scherzte Jean-Lino, und dann hat Lydie wiederholt, ja, Hühner setzen sich in Bäume.

– Ja, Hühner setzen sich in Bäume, bestätigte Lydie.

– Da bitte! Jean-Lino nahm uns zu Zeugen. Als der Kellner weg war, sagte ich zu Rémi, wenn Oma Lydie uns erlauben soll, Hühnchen zu essen, dann muss das Hühnchen vorher auf einem Baum gesessen haben! Der Kleine fragte, warum muss das Hühnchen vorher auf einem Baum gesessen haben? Sie sagte, weil es wichtig ist, dass das Hühnchen ein normales Hühnerleben führen konnte.

– Ganz genau, sagte Lydie.

– Wir sagten ja, ja, das wissen wir, aber wir wussten nicht, dass das Hühnchen dazu auch unbedingt auf Bäumen sitzen muss!

– Es muss auch Staubbäder nehmen können, fuhr Lydie fort, mit einer Haltung des Halses und einem Tonfall, bei dem es Jean-Lino sofort hätte eiskalt werden müssen, wäre er nur etwas nüchterner gewesen.

– Ha, ha, ha!

– Zur Gefiederpflege. Mir persönlich genügt es nicht, wenn mir einer wie dein Freund da, dieser Kellner, der nicht mal weiß, was er serviert, erzählt, dass das Huhn Bio-Körner gefressen hat, ich will wissen, ob es ein artgerechtes Leben an der frischen Luft hatte.

– Recht hat sie, sagte Claudette El Ouardi abermals.

– Und dein Gezwinker mit dem Kellner und dem Kleinen hat mir auch nicht gefallen, das weißt du.

– Man wird sich wohl noch ein bisschen amüsieren dürfen, das ist doch alles nicht so schlimm, Süßbienchen! Rémi und ich, wir haben jetzt ein neues Spiel. Wenn wir das Wort Huhn geschrieben sehen oder hören, flattern wir!, sagte Jean-Lino, und dann winkelte er die Arme an, schloss die Augen halb und flatterte auf Schulterhöhe mit den Händen, derart absonderlich, dass Georges Vapereau laut loslachte. Ein raues, weintrunkenes Lachen, bei dem allen peinlich zumute wurde außer Jean-Lino, der seine Flatternummer hocherfreut ausbaute, indem er den Hals reckte und, glaube ich, ein bisschen gackerte, dazu vollführte er kreisende Bewegungen mit den Schultern und Schulterblättern. Es fehlte nicht mehr viel zu einer Art Inkarnation. Georges erklärte, er werde eine Figur erschaffen, das Bio-Huhn, einen Terroristen der jüngsten Generation, der bakteriologische Viren verbreitet – müsste das dann nicht Acts of the Devil heißen? Er hatte ihn schon genau vor Augen und würde ihm einen Schal aus Merinowolle verpassen. Dann neigte er sich zu der ihn entsetzt beäugenden Catherine Mussin und säuselte ihr zu, Merino, du verstehst schon, oder? Diese armen Schäfchen, die in Australien ganz grässlich gefoltert und geschoren werden.

Wenn ich zurückdenke, ist mir, als hätte Lydie den restlichen Abend über den Mund nicht mehr aufgemacht. Pierre neigt zwar weniger dazu, die Leute zu beobachten, aber er teilt meinen Eindruck. Im Moment ist es natürlich niemandem aufgefallen. Mein Frühlingsfest war nämlich durchaus gelungen, das dachte ich, als ich unsere Freunde in unserem kleinen Wohnzimmer betrachtete, wie sie zwanglos herumlümmelten, alle mehr oder weniger laut redeten, rauchten, futterten, sich in wechselnder Besetzung unterhielten. Danielle und Mathieu Crosse turtelten etwas abseits im Flur. Ganz aufgelöst lümmelten Jeanne und Mimi wie Teenager auf dem Sitzsack und kicherten verstohlen. Mir fiel der Ausdruck Zusammenhalt schaffen wieder ein, und ich warf das Thema Leerfloskeln in die Runde. Wir kamen gleich auf gar nicht wenige, darunter tauchte interessanterweise der Begriff Toleranz auf. Das kam von Nasser El Ouardi, er vertrat die Meinung, sie sei ein von vornherein hohles Konzept, da man tolerant nur sein könne, wenn man auch gleichgültig sei. Sobald das Konzept nicht mehr mit Gleichgültigkeit gepaart sei, sagte er, breche es in sich zusammen. Lambert und noch ein paar Gäste versuchten, den Begriff zu verteidigen, doch Nasser, etwas erhöht auf dem marokkanischen Stuhl thronend, verteidigte seine Sichtweise, indem er ihn schlicht und einfach auf das Verb lieben konzentrierte, mit einer Entschlossenheit, die uns alle entwaffnete. Gegen elf kam Pierres Bruder Bernard mit einer Wurst aus dem Schwarzwald an, die sich einfach nicht schneiden lassen wollte. Wir waren aber ohnehin längst beim Nachtisch. Er arbeitet als Ingenieur für einen deutschen Betrieb, wo man derzeit einen kabellosen Horizontal-Fahrstuhl entwickelt. Mein Schwager ist ein großer Verführer, er hat ein Talent zum Liebhaber für die ersten Stunden, und alle Frauen sollten sich unverzüglich in Sicherheit bringen. Catherine Mussin, die über keinerlei Alarmsysteme verfügt, war sofort hingerissen von dieser magnetischen Levitation. Die als Erste gekommen waren, brachen auch als Erste auf. Kaum waren die El Ouardis aufgestanden, da zupfte Lydie Jean-Lino am Ärmel. Jetzt erst wird mir klar, dass Jean-Lino ungern ging. Die El Ouardis und die Manoscrivis verabschiedeten sich mit Wangenküsschen auf demselben Fußabtreter, wo sie einander kennengelernt hatten. Es kam sogar die Idee auf, demnächst mal eine der Jam-Sessions zu besuchen und Lydie zuzujubeln.

Am Ende waren nur noch die Dienesmanns, Bernard und wir beide da. Bernard fing sofort an, über Catherine Mussin herzuziehen, er beklagte sich bitter, dass wir nicht zu seiner Befreiung herbeigeeilt seien. Sie habe zu ihm gesagt, sie befinde sich in ihrer dritten Blüte. Eine Frau, die zu dir sagt, sie befindet sich in ihrer dritten Blüte, da fällt dir doch der Schwanz ab! Wir schilderten ihm den Auftritt mit Georges, der sein tiefes Mitleid erregte. Und dann sprachen wir noch einmal über den Schnee. Und über Zyklen, über die absurde Vorstellung, Zeit sei etwas Lineares, die Vergangenheit gebe es nicht mehr, die Zukunft noch nicht. Etienne erzählte, früher, als er mit seinem Vater in den Bergen wandern war, schon mit Merle, da seien sie ihm weit vorausgelaufen, hätten die Kurven abgeschnitten, seien die Hänge hinuntergerannt, die jungen Leute. Später seien sie ihren eigenen Kindern auch noch lange vorausgelaufen. Wir drehten uns um, wir sagten, ach Leute, trödelt doch nicht so, das nervt!, sagte Etienne. Und heute sind die ihrerseits nach ein paar Schritten außer Sicht. Nicht einzuholen, ganz nebenbei, dabei müssten doch wir so sein. Wir warteten unten auf meinen Vater. Wenn er um die letzte Kurve des Weges kam, schaute er drein wie einer, der aus freiem Willen flaniert, um alles Schöne zu genießen. Er sagte, habt ihr die Stelle mit dem Enzian gesehen? Und die Vergissmeinnicht? … Jetzt sind wir diejenigen, auf die man warten muss, sagte Etienne. Die Sehenswürdigkeiten der Natur halten uns auf. So schnell geht das, verdammt noch mal. Na ja, mit meinen Augen hab ich bald eine gute Ausrede! … Uns fünfen war wohl in dieser Nacht, die Füße auf dem Sofatisch, entspannt und ein klein bisschen alt, mitten im Chaos der Wohnung. Uns war wohl in unserer Welt der Erinnerungen und des Plauderns, bei einem Schluck Birnenschnaps. Etienne hat Glück gehabt, dachte ich, dass er mit seinem Vater in den Bergen wandern war. Mein Vater war absolut nicht der Typ, mit dem man hätte in den Bergen wandern können. Und auch nicht woanders. So viel zu den Vergissmeinnicht!

Im Aufbruch fragte Bernard, wer die Rothaarige und der Typ mit der Giscard-Frisur gewesen seien. Sie wohnen über uns, sagten wir. Die sind lustig, sagte Bernard, ihn kann ich gut leiden. Wir gingen auf den Balkon, um ihnen nachzusehen. Bernard mit seinem Motorrad und dem dicken Helm. Die Dienesmanns bogen um die Hausecke, Arm in Arm. Keine Spur mehr von Schnee, am Himmel standen die Sterne, die Luft war beinahe mild.

Ich sagte zu Pierre, hast du mich hübsch gefunden?

– Sehr hübsch.

– War Jeanne nicht strahlend schön?

– Sie war hübsch.

– Hübscher als ich?

– Nein, ihr wart beide sehr hübsch.

– Wirkt sie jünger als ich?

– Nein, überhaupt nicht.

– Aber ich wirke doch ein bisschen jünger, oder?

– Ihr wirkt gleich alt.

– Wenn du mich nicht kennen und uns beide sehen würdest, welche fändest du dann hübscher?

– Sollen wir einfach erst morgen aufräumen, was meinst du?

– Für welche von uns beiden würdest du dich spontan entscheiden?

– Für dich.

– Serge hat im Aufzug wahrscheinlich dasselbe zu ihr gesagt.

– Logisch.

– Euch kann man nichts glauben. Was sagst du zu ihren Schuhen? Sind diese Riemchen nicht grässlich? Ist es nicht Irrsinn, in dem Alter so was anzuziehen?

– Eine Tortilla ist noch übrig … Und drei Viertel von dem scheußlichen Hühnchen-Cake.

– Stimmt, der war scheußlich.

– Ungenießbar. Ich schmeiß ihn weg … Eine riesige Schüssel Reissalat … Genug Käse für die nächsten zehn Jahre … Kein Mensch hat die Leberpastete angerührt …

– Ich hab ganz vergessen, sie hinzustellen!

– Mit dieser Wurst aus dem Schwarzwald kannst du einen Einbrecher erschlagen.

– Wirf sie weg. Nett, das mit dem Tartakower.

– Meine Ausgabe war älter.

– Trotzdem nett.

– Ja.

– Georges war schon besoffen, als er kam.

– Der ist ab acht Uhr früh besoffen.

– Warum lädst du ihn ein?

– Er ist so einsam.

– Er verbreitet eine grauenhafte Stimmung.

– Komm, wir gehen ins Bett.

Wir setzten unsere Nachbereitung im Bad fort.

– Glaubst du, das kann was werden mit Danielle und Mathieu Crosse?, fragte ich.

– Er scheint mir sehr scharf drauf, bei ihr bin ich nicht so sicher.

– Ich hätte das Gegenteil gesagt. Ich ruf sie morgen mal an.

– Und deine Freundin von oben, diese Lydie, die hat ja voll die esoterische Klatsche.

– Findest du?, lachte ich. Wenn du jemanden auf eine einsame Insel mitnehmen müsstest: Claudette El Ouardi oder Lydie Gumbiner?

– Lydie! Auf jeden Fall Lydie!

– Claudette El Ouardi oder Catherine Mussin?

– Claudette. Da kann man sich wenigstens unterhalten.

– Catherine Mussin oder Marie-Jo?

– Schwierig … Mussin, aber nur geknebelt. Jetzt du: Georges Vapereau oder Lambert?

– Nein. Unmöglich.

– Du musst dich entscheiden.

– Na dann Georges Vapereau, aber erst, nachdem ich ihn gewaschen und ihm die Zähne geputzt habe.

– Schlampe.

Als wir im Bett lagen, fragte ich Pierre, warum wir wohl niemals Peitsche, Handschellen und ähnliches Zubehör benutzt haben. Seine Reaktion war fürchterlich: Er musste lachen. Aber es stimmt, das hätte bei uns überhaupt keinen Sinn. Er fragte, Georges oder Bernard? Bernard, sagte ich wie aus der Pistole geschossen. Er sagte, der Idiot gefällt dir also! Und das hat gereicht, um uns heißzumachen.

Ich schlief schon fast, da hörte ich etwas, das ganz wie eine Türklingel klang. Pierre hatte seine Stirnlampe aufgesetzt, um einen alten Band der Malko-Serie zu lesen (seit Gérard de Villiers tot war, litt er darunter, dass es keine neuen mehr gab). Ich spürte, wie er kurz aufmerkte, aber es blieb still. Ein paar Minuten später hörten wir dasselbe Läuten. Pierre setzte sich auf, um besser zu hören, er tippte mich an und flüsterte, psst, da hat wer geklingelt. Es war fünf nach zwei. Wir warteten beide, leicht vorgebeugt, er immer noch mit seiner Stirnlampe. Es klingelte erneut. Pierre stand auf, streifte sich ein T-Shirt und Boxershorts über und ging nachsehen. Durch den Spion erkannte er Jean-Lino und dachte sofort an einen Wasserrohrbruch oder etwas Ähnliches. Er machte auf. Jean-Lino starrte Pierre an, verzog den Mund sehr eigenartig, und dann – immer noch mit eimerförmig vorgestülpter Unterlippe – sagte er, ich habe Lydie umgebracht. Erst erreichte der Satz Pierre nicht ganz. Er trat zurück, um Jean-Lino hereinzulassen. Jean-Lino kam herein und blieb mit hängenden Armen neben der Tür stehen. Pierre ebenso. Beide blieben in Warteposition im Eingang stehen. Ich kam im Schlafanzug dazu – ein Babydoll von Hello Kitty und eine Schlafanzughose aus kariertem Flanell. Ich sagte, was ist denn, Jean-Lino? Er sagte nichts, er sah Pierre an. – Was ist denn, Pierre? – Ich weiß nicht, komm, wir gehen ins Wohnzimmer. Wir gingen ins Wohnzimmer. Pierre machte eine Lampe an und sagte, setzen Sie sich erst mal hin, Jean-Lino. Er deutete auf das Sofa, wo er bereits den größten Teil des Abends verbracht hatte, aber Jean-Lino nahm den unbequemen marokkanischen Stuhl. Pierre ging zum Sofa und winkte mich zu sich. Ich schämte mich, wie das Wohnzimmer aussah. Wir hatten einfach keine Lust zum Aufräumen gehabt, hatten gedacht, wir machen das alles morgen. Die Aschenbecher hatten wir noch geleert, trotzdem roch es nach Rauch. Zerknüllte Servietten lagen herum, verstreutes Besteck, Chipskrümel … Auf der Truhe reihten sich noch unbenutzte Gläser. Ich hätte gern ein wenig Ordnung gemacht, aber ich spürte, dass ich mich besser hinsetzte. Jean-Lino saß auf dem marokkanischen Stuhl höher als wir. Seine Haarsträhnen hingen jetzt zur Hälfte nach rechts herunter, die andere Hälfte wehte nach hinten, zum ersten Mal sah ich seinen kahlen Schädel. Es gab eine Art Pause, und dann fragte ich sacht, Jean-Lino, was ist denn? Wir betrachteten seinen Mund. Einen Mund auf der Suche nach verschiedenen Formen. Bring uns doch einen kleinen Cognac, Elisabeth, sagte Pierre.

– Für dich auch?

– Ja.

Ich nahm drei Wodka-Gläser und goss Cognac hinein. Jean-Lino trank in einem Zug aus. Noch irgendetwas war seltsam an seinem Gesicht. Pierre schenkte ihm nach, wir nippten an unseren Gläsern. Ich begriff nicht, was wir hier sollten, warum wir drei hier in dem verdreckten Zimmer fast im Dunkeln saßen und weitertranken. Nach einer kleinen Weile fragte Pierre mit ganz normaler Stimme, als handelte es sich um eine liebenswürdige Nachfrage, Sie haben Lydie umgebracht? Ich sah ihn an, ich sah Jean-Lino an, ich lachte, Sie haben Lydie umgebracht! Jean-Lino legte seine Unterarme auf die Armlehnen, aber dafür ist dieser Stuhl nicht geeignet, und eine Sekunde lang sah ich ihn auf einem elektrischen Stuhl. Dann fiel mir auf, dass er seine Brille nicht aufhatte. Ich hatte ihn noch nie ohne Brille gesehen. Wo ist Lydie?, fragte ich.

– Ich habe sie erwürgt.

– Sie haben Lydie erwürgt?

Er nickte.

– Ich verstehe nicht, was das heißen soll.

– Was verstehst du nicht? Er hat Lydie erwürgt, sagte Pierre.

– Wo ist sie?

Jean-Lino deutete nach oben.

– Ist sie tot?, fragte Pierre.

Er nickte und schloss die Augen.

– Vielleicht ja nicht, sagte Pierre, wir müssen nachsehen.

Wir standen auf, also Pierre und ich. Ich lief in mein Zimmer, griff nach einem Pulli und zog meine Hausschuhe an. Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, hatte sich Jean-Lino um keinen Millimeter bewegt. Kommen Sie, Jean-Lino, redete Pierre ihm zu, wer weiß, vielleicht lebt sie ja noch. So leicht erwürgt man niemanden.

– Sie ist tot, sagte Jean-Lino mit Grabesstimme.

– Wer weiß, wer weiß, kommen Sie!

Pierre wurde es allmählich zu viel. Er bedeutete mir einzugreifen. Ich fasste Jean-Lino beim Arm, der ungeheuer starr war und um die Armlehne des marokkanischen Stuhls gekrampft blieb. Ich murmelte ihm etwas Beruhigendes zu, ich sagte, Jean-Lino, Sie können doch nicht die ganze Nacht auf diesem Stuhl sitzen bleiben.

– Zumal Sie offenbar der Einzige sind, der überhaupt darauf sitzen will. Pierre wollte die Lage entschärfen.

– Das stimmt, bestätigte ich.

– Jede Sekunde zählt! Wir verlieren Zeit!

– Er hat recht!

– Reißen Sie sich zusammen, Jean-Lino!

– Ich sag doch, sie ist tot!

Pierre ließ sich auf das Sofa fallen, geriet dabei mit dem Fuß in das Kabel der Tischlampe, die zu Boden fiel und uns in fast völlige Dunkelheit tauchte.

– Scheiße, das kann ich gerade brauchen!

Ich machte die Deckenlampe an, die wir sonst nie anmachen. Nicht die Deckenlampe, nicht die Deckenlampe, bitte!, ächzte Pierre. Ich machte eine Stehlampe an. Jean-Lino nahm die verschiedenen Beleuchtungen hin, ohne seine marmorne Positur auch nur um einen Deut zu ändern. Ich wusste nicht mehr was tun, zwischen meinem Mann, der sich da hinfläzte, als wäre er fest entschlossen, alles den Bach runtergehen zu lassen, und einem versteinerten, ganz und gar fremden Jean-Lino. Wir hatten alle zu viel getrunken. Ich räumte ein wenig auf, sammelte Gläser und Flaschen zusammen, alles, was herumstand, schüttelte die Decke, die auf der Truhe gelegen hatte, auf dem Balkon aus. Dann stellte ich die von Lydie geborgten Stühle hintereinander an die Tür und holte meinen geliebten Rowenta-Handstaubsauger, um die Krümel zu beseitigen. Ich saugte den Couchtisch ab, dann den Teppich darunter, bis Pierre aus seiner Benommenheit erwachte und ihn mir aus der Hand riss. Das ist wirklich der passende Moment zum Staubsaugen! Musst du ausgerechnet jetzt die Wohnung putzen? Er stand auf, den Handstaubsauger im Anschlag wie ein Maschinengewehr, und sagte zu Jean-Lino, gut, Alter, jetzt gehen wir, hoch mit dir! Jean-Lino deutete eine Bewegung an, schien aber fest an seinen marokkanischen Stuhl genietet zu sein, außerstande, sich von ihm zu lösen. Pierre schaltete den Handstaubsauger wieder ein, richtete ihn auf Jean-Linos Brust und saugte das Hemd an, was ein ungewöhnliches Geräusch gab. Ich schrie, was machst du denn? Von diesem Ansaugen entsetzt, erhob Jean-Lino sich zu einer defensiven Haltung. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass wir wirklich da hinaufgehen würden. Jean-Lino brachte seine Haarsträhnen an ihren Platz, indem er sie mehrmals wie zwanghaft mit der Hand glattstrich, ich führte ihn sacht zur Wohnungstür. Pierre schlüpfte in seine Stadtschuhe, und wir gingen im gelblichen Treppenlicht eine Etage höher, Pierre voraus, in weiten hellrosa Boxershorts, mit bloßen Beinen und Mokassins, Jean-Lino in zerknitterter Abendkleidung und dahinter ich im Schlafanzug und in meinen Kunstpelz-Pantoffeln. Vor seiner Wohnung angekommen, suchte Jean-Lino in seinen Taschen, bis er den passenden Schlüssel fand, hinter der Tür miaute und kratzte Eduardo, Jean-Lino säuselte ihm zu, sono io, gioia mia, sta’ tranquillo, cucciolino. Ich nahm Pierres Hand, ich war etwas ängstlich und verspürte zugleich eine schreckliche Lust, in das dichte Dunkel vorzudringen.

Wir gingen hinein. Er machte das Garderobenlicht nicht an. Eduardo strich um unsere Beine mit einem Buckel wie ein Dromedar. Am Ende des Flurs fiel Licht aus Bad und Schlafzimmer. Jean-Lino nahm wieder seine Warteposition ein, hochgezogene Schultern, untätig baumelnde Arme, wie in unserer Wohnung am selben Ort. Wo ist sie?, flüsterte Pierre. Dieses Flüstern fand ich seltsam, aber zugleich war mir klar, dass es nicht anging, in normaler Lautstärke zu reden. Jean-Lino neigte den Kopf in Richtung Schlafzimmer. Pierre ging durch den Flur voraus, ich hinter ihm her. Vom Flur aus sah man sie schon. Die Füße am Kopfende, zerknitterter Rock, noch wie beim Fest. Pierre stieß die Tür ganz auf. Unter dem Poster von Nina Simone in ihrem Strippenkleid mit all den baumelnden Anhängern lag sie mit schlaffem Kiefer da, die weit aufgerissenen Augen traten aus den Höhlen. Man erkannte sofort, dass es sehr ernst war. In einem Anflug von Professionalität (Fernsehserien? Krimis?) ergriff Pierre ihr Handgelenk, um nach dem Puls zu tasten. Jean-Lino erschien in der Türöffnung, nickend wie ein Zeuge, der mit finsterer Erleichterung seinen ersten Eindruck bestätigt sieht. Er hatte seine sandfarbene Brille wieder auf. Pierre blickte Jean-Lino zutiefst bestürzt an. Er sagte, Sie haben sie wirklich … Sie ist tot. Jean-Lino nickte wieder. Niemand regte sich. Dann sagte Pierre, vielleicht sollten wir … ihr die Augen schließen.

– Ja …

– Ich überlasse das Ihnen …

Jean-Lino trat zu Lydie hin und fuhr ihr mit der Hand über die Augen, eine religiös anmutende Geste. Das Kinn aber hing immer noch herunter. Ich sagte, können wir sie nicht ein bisschen besser herrichten? … Jean-Lino öffnete eine Schublade mit allerlei Schals und Halstüchern, ich zog das Erstbeste heraus, ein transparentes Gewebe mit blassen Blumenmotiven, Jean-Lino schloss Lydies Mund, indem er das Kinn hochschob, ich wickelte ihr den Schal um den Kopf und zog den Knoten unter dem Kinn so fest, wie ich konnte. So war sie schon ein sehr viel angenehmerer Anblick. Wie bei einem Mittagsschläfchen draußen unter einem Baum. Und dann, wer weiß warum, zog Jean-Lino ihr auch die Schuhe wieder an, die Riemchen-Pumps mit der flachen Schleife. Ich sah ihre Gliedmaßen auf der provenzalischen Tagesdecke, unvorstellbar, dass diese Füße und das Fußkettchen mit den Anhängern jetzt niemandem mehr gehören sollten. Ich ertappte mich dabei, dass ich in meinem Kopf den richtigen Bildausschnitt suchte: vom Saum des Kleides bis zum Bettrand, dazu ein paar Zentimeter von der Wand, die schlanken Beine und die Füße in den Satinschuhen, auf dem gesteppten Stoff dargeboten wie nach einem brutalen Liebesakt. Das bereits vergangene Bild von Lydie Gumbiner. Einer der Anhänger war länger als die anderen, ich hatte meine Brille nicht auf, aber es schien mir eine Eule oder ein Uhu zu sein. Was hatte der Vogel da auf ihrer Haut für sie bedeutet? Auf der Kommode stand noch eine Eule, aus Zinn. Um unser irdisches Dasein zu ertragen, umgeben wir uns mit mythischen Gegenständen. Genau die ziehen mich in ihren Bann, wenn ich die erstarrte Welt der Fotografien betrachte, all diese elegischen Details. Klamotten, Nippes, Talismane, all diese mal schicken, mal schäbigen Ausstattungsstücke geben den Menschen stummen Halt. Pierre sagte, jetzt müssen wir die Polizei verständigen, Jean-Lino.

– Die Polizei. Ah nein, nein, nein.

Pierre bedachte mich mit einem kurzen Seitenblick.

– Was wollen Sie denn sonst tun? …

– Nein, nicht die Polizei.

– Jean-Lino, Sie haben … Ihnen ist dieses Drama passiert … Sie sind zu uns gekommen … Was können wir für Sie tun?

Pierre stand neben einer Kommode, der ernsthafte Ton und die bigotte Haltung seiner Hände wurden von den röckchenartigen rosa Boxershorts ein wenig abgemildert. Mit gesenktem Kopf verfolgte Jean-Lino, wie Eduardo um das Bett schlich.

– Sollen wir jemand anrufen? … Einen Anwalt? Ich kenne einen Anwalt.

Eduardo kletterte auf den Nachttopf. Ein Fayence-Nachttopf, darauf ein runder Holzdeckel (Käseplatte?), und ich dachte, so ein Nachttopf im Schlafzimmer wäre ja gar keine schlechte Idee, wo ich jede Nacht drei Mal zum Pinkeln aufstehen muss. Jean-Lino sagte, non sul vaso da notte, micino, mit einem leichten Streicheln, das ihn zum Herunterkommen bewegen sollte. Eduardo war das schnuppe, er war mit der Untersuchung von Lydies Körper beschäftigt, der sich genau auf seiner Augenhöhe befand.

Ti ha fatto male, eh, piccolino mio …

– Jean-Lino, Sie sollten wirklich etwas kooperativer sein, fing Pierre wieder an.

– Vielleicht gehen wir ins Wohnzimmer?, schlug ich vor.

Povero patatino …

Pierre warf einen Blick aus dem Fenster, dann zog er die Gardinen zu. Mit entenartig gesetzten Füßen in seinen Mokassins und seinen sich bauschenden Boxershorts erklärte er, ich muss Ihnen sagen, Jean-Lino, wenn Sie die Polizei nicht rufen, dann tun wir das irgendwann.

– Das ist nicht unsere Sache!, wandte ich ein.

– Mag sein. Aber jemand muss es tun.

– Wir sollten nicht in diesem Zimmer bleiben, lass uns mal in Ruhe nachdenken.

– Worüber denn nachdenken, Elisabeth? Diese Frau ist von ihrem Mann erwürgt worden, eine Tat im Affekt, wir fragen nicht nach Details, die Polizei muss verständigt werden. Und Sie, Jean-Lino, kommen bitte wieder auf den Boden zurück. Und sagen Sie etwas, und zwar in einer verständlichen Sprache, das Rumgesäusel mit diesem bescheuerten italienischen Kater geht mir allmählich auf den Sack.

– Er steht unter Schock …

– Er steht unter Schock, ja. Wir stehen alle unter Schock.

– Wir sollten versuchen, einen klaren Kopf zu bewahren, Pierre … Jean-Lino, was schlagen Sie vor? … Jean-Lino? …

Pierre setzte sich in den gelben Samtsessel. Jean-Lino zog das Chesterfield-Päckchen aus der Tasche und steckte sich eine an. Der Rauch breitete sich über Lydie aus, und er versuchte sofort, ihn wegzuwedeln. Und dann sagte er mit einem, wie mir schien, trauervollen Blick auf seine Frau, könnte ich Sie wohl ganz kurz unter vier Augen sprechen, Elisabeth?

– Was wollen Sie ihr denn erzählen?

– Zwei Sekunden, Pierre.

Ich gab ihm ein kleines Zeichen à la alles unter Kontrolle und nahm Jean-Lino beim Arm, um ihn aus dem Zimmer zu führen. Er eilte ins Bad und schloss die Tür hinter mir, dann fragte er mit maximal gedämpfter Stimme und ohne Licht anzumachen:

– Würden Sie mir helfen, sie in den Fahrstuhl zu schaffen? …

– Aber … wie denn?

– In einem Koffer …

– In einem Koffer? …

– Sie ist klein, sie ist nicht schwer … Sie müssten sie nur bis unten begleiten … Ich kann nicht mit dem Aufzug fahren.

– Warum sie begleiten?

– Damit jemand bei der Ankunft dabei ist. Falls unten einer steht.

Das kam mir logisch vor.

– Was wollen Sie mit ihr machen? …

– Ich weiß, wo ich sie hinbringen kann …

– Wollen Sie sie mit dem Auto wegschaffen?

– Es steht direkt vor der Tür. Helfen Sie mir einfach, sie runterzubringen, Elisabeth, um den Rest kümmere ich mich …

Es herrschte ein Waschmittelgeruch, der mir vertraut war. Wir standen in völliger Dunkelheit da. Ich konnte ihn nicht sehen, hörte die Verzweiflung und Dringlichkeit in seiner Stimme. Ich dachte, man würde auch überprüfen müssen, ob der Parkplatz wirklich menschenleer war … Da flog die Tür auf.

– Du willst diesem Verrückten helfen, seine Frau in den Fahrstuhl zu verfrachten, Elisabeth?! …

Pierre ergriff meinen Arm wie mit einer stählernen Zange (er hat schöne starke Hände).

– Wir gehen wieder runter, und ich rufe die Polizei.

Er zog an mir, ich hielt mich an Morgenmänteln fest, die an einem Haken hingen, mit anderen Worten, es dauerte nur drei Sekunden. Dann muss jemand an den Schalter gekommen sein, eine Neonlampe an der Wand sprang an und tauchte alles in ein gelbes Licht, dieses altmodische Gelb, das wir früher auch in Puteaux hatten. Gehen Sie, Elisabeth, gehen Sie wieder runter, meine liebe Elisabeth, ich bin verrückt, ich muss allein sein, flehte Jean-Lino, die Arme nach vorn ausgestreckt.

– Was wollen Sie denn tun, Jean-Lino?, fragte ich.

Er nahm den Kopf zwischen die Unterarme und setzte sich auf den Rand der Badewanne, wo er sich sacht vor und zurück wiegte und ohne einen Blick auf uns ächzte, ich muss mich fassen, ich muss mich fassen. Er tat mir wahnsinnig leid, wie er da in dem überfüllten Bad zusammengekauert, die Haare strubbelig, unter dem Wäschetrockner an der Wand saß.

Pierre zog wieder an mir. Ich sagte, hör auf, an mir herumzuzerren!

– Du willst wohl in den Knast wandern? Willst du uns alle in den Knast bringen?

– Was ist denn passiert, Jean-Lino? Sind Sie ausgerastet?

Jean-Lino murmelte etwas. Pierre sagte, reden Sie deutlich! Immer noch ohne einen Blick auf uns und beflissen wie ein getadeltes Kind, sagte Jean-Lino, sie hat Eduardo einen Fußtritt gegeben.

– Lydie hat Eduardo einen Fußtritt gegeben?, fragte ich.

– Seine Frau hat dem Kater einen Fußtritt gegeben, und er hat sie erwürgt. Und wir verduften jetzt hier.

– Aber sie liebt Tiere!, sagte ich.

Jean-Lino zuckte mit den Schultern.

– Noch heute Nachmittag hat sie mich eine Petition unterschreiben lassen!

– Was für eine Petition hast du unterschrieben?

– Gegen die Kükenschredderung!

– Los, los, das reicht jetzt, Pierre schob mich restlos entnervt Richtung Wohnungstür.

Mit gesträubtem Fell und gebleckten Zähnen war Eduardo durch die Badezimmertür geschlüpft.

Non aver paura, tesoro … er hat Nierensteine, der Ärmste.

– Rufen Sie jetzt die Polizei, Jean-Lino?, fragte ich. Sie sollten es selber tun.

– Das ist die einzige Lösung, sagte Pierre.

– Ja …

– Die einzige, Jean-Lino.

– Ja.

Pierre riss die Wohnungstür auf und schleuderte mich auf den Treppenabsatz. Bevor er die Tür wieder schloss, schrie ich, sollen wir bei Ihnen bleiben?

– Weck ruhig das ganze Haus auf!, flüsterte Pierre und zog sachte die Tür zu. Dann zerrte er mich die Treppe hinunter, immer noch mit dem stählernen Griff. Unten bei uns brachte er mich zunächst ins Wohnzimmer, als müssten wir darauf achten, nicht gehört zu werden. Dort versuchte er, die Vorhänge zuzuziehen, die aber bloße Dekoration sind, bis einer davon einriss.

– Was treibst du denn da?

– Dämliche Gardinen!

Er kippte einen Schluck Cognac.

– Wolltest du ihm wirklich helfen, die Leiche verschwinden zu lassen, Elisabeth?

– Du hast an der Tür gelauscht, das gehört sich nicht.

– Du wolltest mit einer Leiche Aufzug fahren? … Du kannst dir vorstellen, vier Etagen mit einer Toten runterzufahren? Antworte bitte.

– In einem Koffer.

– Ach so, dann entschuldige!

– Du wüsstest die Antwort, wenn du noch ein bisschen gewartet hättest.

– Ist dir klar, worüber wir hier reden? Das ist wirklich schlimm, Elisabeth.

Auf einmal wurde mir kalt, und ich bekam Kopfweh. Ich legte mir ein Schultertuch um und ging in die Küche, Wasser aufsetzen. Als ich mit meinem Kräutertee zurückkam, kauerte ich mich in die entgegengesetzte Sofaecke von der, wo die Manoscrivis gesessen hatten. Pierre tigerte auf und ab. Ich sagte, ich finde es schrecklich, dass wir ihn da oben allein lassen. Er setzte sich neben mich und massierte mir die Schulter, unklar, ob er das tat, um mich zu wärmen, oder um einen verstörten Geist wieder etwas zu sich zu bringen. Das Haus auf der anderen Seite des Parkplatzes war vollkommen unbeleuchtet. Offenbar waren wir die Einzigen, die der Nacht nicht nachgegeben hatten. Wir und die Mieter über uns. Lydie lag neben dem Totenwache haltenden schwarzen Kater ausgestreckt in ihrer Abendgarderobe, Jean-Lino saß einsam unter der zum Trocknen aufgehängten Wäsche. In einem Märchenbuch, das ich früher einmal besaß, stach die Prinzessin sich mit einer Spindel und fiel in einen tiefen Schlaf. Man legte sie auf ein mit Silber und Gold besticktes Bett, sie hatte ebenso rotes Haar wie Lydie, und ihre Lippen waren rosig. Auf meinem Handy traf eine SMS ein. Pierre sagte, auf gar keinen Fall antwortest du ihm!

– Das ist dein Sohn!

Emmanuel schrieb »Super Frühlingsfest, Mama!«, begleitet von einem Smiley und einem Schneemann. Es trieb mir die Tränen in die Augen, ich weiß gar nicht recht warum. Diese Nachricht mitten in der Nacht. Der Schneemann. Diese kleine Freudengestalt, die einen sofort an alles Vergängliche gemahnt, an den Verlust. Die Kinder sind weit voraus, so wie der Nachwuchs von Etienne und Merle auf den Bergpfaden. So, wie ich selbst mich weit, sehr weit von meinen Eltern entfernt habe. Nicht durch einen großen Verrat wird die Wehmut verursacht, sondern durch die vielen kleinen Verluste. Als Kind hatte Emmanuel einen Kaufmannsladen. Er saß in der Ecke seines Kinderzimmers hinter einem kleinen, niedrigen Tisch, auf dem er seine Ware feilbot, kleine, selbstgemachte Basteleien, allerlei dekorativ bemalte Papprollen von Küchenkrepp oder Toilettenpapier, Dinge, die er draußen gefunden hatte, Eicheln, Halme, ebenfalls bemalt, kleine Figuren aus Knete. Aus kreuz und quer zerrissenem Papier hatte er eine eigene Währung fabriziert, ausschließlich Papiergeld, die »Pestos«. Jeden Tag aufs Neue verkündete er in seinem Zimmer »Der Laden hat geöffnet!« Weder Pierre noch ich reagierten auf den Satz, wir kannten ihn zu gut. Da er ihn nicht wiederholte, folgte ausgedehnte Stille. Dann kam immer ein Moment, in dem mir bewusst wurde, dass ich ihn gehört hatte, und in dem ich mir vorstellte, wie er, der kleine Kaufmann, mutterseelenallein hinter seinem Verkaufstresen hockte und auf Kundschaft wartete. Dann nahm ich das Portemonnaie mit den Pestos und ging hinüber. Wenn er mich sah, war er froh, blieb aber ziemlich professionell. Wir siezten einander. Ich traf meine Wahl, zahlte und ging wieder mit meinem Tütchen Flusskiesel und bemalter Kastanien, mit lächelnden oder Fratzen ziehenden Gesichtern auf dem hellen Fleck. In der Liste der Leerfloskeln hatten wir der Gedenkpflicht einen der oberen Plätze eingeräumt. Was für eine untaugliche Worthülse! Das Vergangene, ob es nun gut war oder schlecht, ist nichts als ein Armvoll dürren Laubs, das man verbrennen sollte. Auch die Trauerarbeit hatte einen Spitzenplatz erhalten. Zwei vollkommen sinnentleerte Begriffe, die einander überdies widersprechen. Ich fragte Pierre, was soll ich ihm schreiben?

– Du kannst ihm ja schreiben, dass unser Nachbar eine Stunde später seine Frau kaltgemacht hat.

– Egal, er denkt sowieso, wir schlafen.

Wir breiteten das Schultertuch über uns beide, als ob wir die ganze Nacht auf diesem Sofa verbringen wollten. Unvermittelt stand er auf, ich hörte ihn im Eingang herumstöbern. Dann kam er mit dem Werkzeugkasten und dem Klapptritt, den er vor dem Fenster platzierte. Ich beobachtete, wie er ihn in seinem Boxershorts-Röckchen und den Mokassins erklomm. Mit fieberhafter Energie wollte er die Gardinenaufhängung reparieren. Die Röllchen hatten sich in der Schiene verkantet, der Saum des Stoffs war eingerissen. Er bastelte daran herum. Während er im Werkzeugkasten kramte, fragte er mich, ob wir Ersatzröllchen hätten. Ich antwortete, keine Ahnung. Er wurde nervös, zog am Band, zerrte an dem Leinenstoff, bis die Aufhängung nachgab, schließlich riss er das Ganze verbittert herunter. Von mir keinerlei Reaktion. Gebeugt, das Bäuchlein vorgestreckt, ließ Pierre sich auf der obersten Stufe der Trittleiter nieder, die Unterarme auf die Schenkel gestützt, die Hände gefaltet. So saßen wir eine eigenartige kleine Weile da, ohne zu reden. Dann bekam ich einen Lachanfall, so ganz hinten im Hals, den ich mehr schlecht als recht mit einem Kissen erstickte. Er kam herunter, klappte seinen Tritt zusammen und brachte ihn mitsamt dem Werkzeugkasten zurück in den Eingang. Als er wiederkam, sagte er, ich geh ins Bett.

– Ja.

– Komm, wir gehen ins Bett.

– Ja …

Jean-Linos kleiner lila Rosenstrauß stand in ein Wasserglas gezwängt auf einem Bord im Bücherschrank. Ich hatte nicht einmal das Bändchen aufgemacht. Jetzt suchte ich ein anderes Gefäß und stellte ihn am Ende in einen Parfumflacon. Als wir seine Tante im Heim besuchten, hatte Jean-Lino einen Strauß Anemonen gekauft und zu mir gesagt, hier, schenken Sie sie ihr. Ich hielt den Strauß, während wir in einem Flur auf die Tante warteten. Zu beiden Seiten waren Geländer an der Wand, eine Frau mit Stock und dicken Kompressionsstrümpfen ging vor uns her. Die Tante tauchte mit ihrem Rollator auf und ging schnurstracks weiter Richtung Cafeteria. Die Blumen überreichte ich nicht sonderlich geschickt, und die Tante scherte sich nicht weiter um Pariser Schnittblumen. Sie blieben dann in einem Glas im Gemeinschaftsraum stehen. Ich stellte den Flacon auf den Couchtisch. Die Röschen wirkten künstlich. In dem matten Kristallgefäß sah das Ganze aus wie der Schmuck auf einer Grabplatte. Vielleicht lag es auch an dem fremden Gefühl, das sich wegen der Tageszeit und der Situation eingestellt hatte. Was machte Jean-Lino wohl da oben so ganz allein? Pierre rief aus dem Schlafzimmer nach mir. Ich sagte, ich komme … Wie hatten wir ihn bloß allein lassen können?

Einmal hatte er uns ins Courette du Temple mitgeschleppt, eines dieser Cafés, die sich dreimal wöchentlich in einen Jazzclub verwandeln. Er hatte alles vorausgeplant, auch dass wir eine halbe Stunde vor der Zeit dort ankamen, als bis auf ein paar Musiker an der Bar noch kein Mensch da war. Aus Wandlautsprechern erschallten Jazz-Standards, davor waren kleine runde Tische aufgebaut. Jean-Lino, ganz casual gekleidet, hatte uns dicht am Rande des winzigen Podiums platziert, auf dem Piano, Bass und Schlagzeug warteten. Wir sagten, so nah? Wir sollten freie Sicht auf Lydie haben, ohne dass Pfeiler oder andere Zuhörer uns den Blick verstellten. Ich glaube viel eher, dass er sich jedes Mal wieder auf seinen Platz setzte, den vom allerersten Mal. Er rief sofort den Wirt herbei, stellte uns mit dem Gestus des Stammgastes vor, orderte, ohne uns zu fragen, drei Glas Bowle. Nach und nach kamen Gäste aller Altersstufen, eher unmodisch gekleidet. Ich erinnere mich an einen Mann mit hochgegeltem Silberhaar, der in einer Jacke mit Lammfell-Aufschlag und einem roten Hemd hin und her lief. Manche der Ankömmlinge schrieben ihren Namen auf ein Schiefertäfelchen, das am Mikroständer hing. Sie melden sich fürs Jammen an, erläuterte Jean-Lino. Lydie rauschte strahlend herein und stürzte sich auf das Täfelchen, noch bevor sie uns begrüßte. Anfangs spielten nur die Musiker, dann sang der Trompeter I fall in love too easily. Ganz schön lang her, dass ich mich easily verlieben konnte, dachte ich, und ebenso lang, dass ich mich freiwillig mit lauter Unbekannten in so einer Affenhitze zusammenpferchen ließ. Dann traten nacheinander die Sänger auf, ihre Noten in der Hand. Wir applaudierten allen freundlichst, egal was geboten wurde. Jean-Lino klatschte am lautesten. Eine Frau mit gepunktetem Kleid sang Mackie Messer auf Deutsch und verhunzte den Song gnadenlos, der Mann mit dem Lammfellkragen (den ich am besten fand, ich erinnere mich gern an ihn), vom Trompeter als Greg angesagt, trat mit einer Eigenkomposition auf. Er streckte die Hände wie zur Abwehr nach vorn, betete das Mikro an, nickte mit diskreter Zustimmung zu den Trompetenklängen, er ging darin auf, als wäre er allein auf der Welt, mit schillernder Haarpracht, einen halben Meter vor unserer Nase. Jean-Lino klatschte in die Hände, Lydie zappelte schier, so ging sie mit. Sie kannte ihn, er war Stammgast, im normalen Leben Schaffner bei der Bahn. Gerade legte sie neues Lipgloss auf, da sagte der Trompeter, und jetzt hören wir: Lydie! Jean-Lino drehte sich zu Pierre hin, zu dem er nie irgendeinen besonderen Kontakt gehabt hatte, und packte ihn bei der Schulter. Er war ganz rot im Gesicht, vielleicht wegen der Bowle, und vor lauter Lampenfieber oder Stolz spähte er zu den anderen Tischen hinüber, um das Aufmerksamkeitsniveau zu ermitteln. Lydie begann Les Moulins de mon cœur, voller Selbstvertrauen, fast murmelnd, holte dann tief Luft und sang vom »Ring des Saturn« und vom »Luftballon im Karneval«. Im Spotlight glitzerten ihre rehbraune Haarpracht und die Ohrringe. Sie hatte eine zarte Stimme mit einem Timbre, das ich recht jugendlich fand, eine etwas naive Deklamation, die in einem gewissen Widerspruch zu ihrer körperlichen Erscheinung stand und zu der zähen Energie, die von ihr ausging. Sie sang den Song, ohne die Wörter zu verschleifen, wie ein Kinderlied am Straßenrand, zum Zeitvertreib auf dem Weg ins Nirgendwo. Eine sehr seltsame, berührende Frau, die man sich ganz woanders und in einer anderen Epoche vorstellen konnte. Jean-Lino musste man gesehen haben. Von Freude hin und her gerissen, schwebte er geradezu über seinem Stuhl. Sie sah ihn nicht an, vielleicht war er ihr auch ganz egal. Sie sang die entsagungsreichen Worte von den aus dem Nest fallenden jungen Vögeln und den im Sand sich verwischenden Schritten mit kindhafter Leichtigkeit, wippte dabei von einem Fuß auf den anderen, so dass ihre Anhänger hin und her schwangen, sie lebte den Augenblick in souveräner Weltvergessenheit. Jetzt saß Jean-Lino vornübergebeugt da, bewachte sein Idol mit seinem Körper, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Einmal spürte er, dass ich ihn beobachtete, und richtete sich auf wie ertappt, glücklich und verwirrt lächelte er mich an. Um nicht so außer sich zu wirken, machte er eine Aufnahme mit dem Handy, das vor ihm auf dem Tisch lag, einen Schnappschuss, ohne auf den Ausschnitt zu achten, denn der reine Zauber des Augenblicks bedurfte keines Aufwandes. Wir applaudierten krachend, alle drei. Ich wusste, dass Pierre sich tödlich langweilte, aber er machte gute Miene. Ich hatte den Eindruck, dass die anderen Tische Lydie ebenfalls applaudierten. Sie blieb noch kurz hinter dem Mikro stehen, schwankend, ließ sich Zeit, bevor sie den Platz räumte, anders als alle anderen Teilnehmer, die gleich nach dem Ende ihrer Darbietung scheu von der Bühne flohen. Bevor er zum Rauchen rausging, bestellte Jean-Lino vier Gläser Rum, Saint James, Pierre versuchte verzweifelte Handzeichen, über die ich mich schieflachte, Lydie setzte sich beschwingt zu uns, schlug sich mit der Hand auf das Dekolleté, der Trompeter sagte, und jetzt sind wir bereit für: Jean-Jacques! Es war ein wohlgesinnter, froher Abend, dem Vergessen geweiht, der Unbestimmtheit zahlloser Abende im Leben.

Wie fern mir dieser Abend im Courette du Temple jetzt vorkommt. Die Frau im gepunkteten Kleid, der Mann, der so tat, als würde er Fly Me to the Moon auf der Mundharmonika spielen. Wir vier sturzbetrunken auf dem Bürgersteig, wie wir uns in ein Taxi drängten, aber wieder hinausgeworfen wurden, denn es war schon besetzt. Ein Typ, der als einer der Ersten aufgetreten war, hatte mich gefragt, bist du öfter hier?

– Zum ersten Mal.

– Beim ersten Mal traut sich keiner.

Wie rasend schnell die Vergangenheit zerfällt! Sie wird kreidebröselig wie die Wand der Vergessenen auf dem Friedhof San Michele bei Venedig, an den ich oft zurückdenke. Pierre, Bernard und ich waren eines nebligen Novembertags so gut wie die einzigen Besucher dort. Ein unüberschaubares Durcheinander von Grabstellen, Einzelgräbern, Parzellen, Feldern. Eine ganze Insel voller Gräber. Die Gänge des Kolumbariums: Wände voller Fotos und daneben Wandvasen, aus denen künstliche Blumen ragen. Hunderte Fotos von wohlgekleideten, fein frisierten Gestalten, die schelmisch in sich hineinlachen. Wir verliefen uns, wie wir so ziellos herumwanderten, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Es war unter der Woche zur Mittagszeit. Auf einer Stele stand die Inschrift Du wirst immer bei uns sein, in Liebe, Deine Emma. Die Kühnheit des Satzes beeindruckte mich. Als ob manche für ewig auf der Erde blieben. Als existierten beide Welten getrennt voneinander. Innerhalb des Urnenhauses gab es eine Wand der Vergessenen, eine schmutzig graue Fassade. Namen und Daten fast unlesbar. Auf einer etwas helleren Plakette konnte man noch neunzehnhundertfünf entziffern. Kein Foto, nirgends, es gab nichts außer ein, zwei an die Wand geschraubten, aus der Wand sprießenden Porzellanblumen. Diese Leute waren bei niemandem mehr auf dieser Welt. Das Weißlich-Schwärzliche dieser Wand ist in meinen Augen die eigentliche Farbe der Vergangenheit. Sobald wir die Erde betreten, müssen wir alle Gedanken an ein Bleiben fahrenlassen. Nahe der Rialto-Brücke schenkte Pierre mir an demselben Nebeltag ein kurzes Cape aus braun-blau meliertem Kaschmir, das ich in einem schlecht beleuchteten Schaufenster auf einer Schneiderbüste entdeckt hatte. Die Tür ging nur schwer auf, ein Mann mit halb gelähmtem Arm kam uns zur Hilfe. Ein gewaltiger Verkaufstresen beherrschte das Innere des Ladens. Auf Wandregalen lag die Ware, fast alles noch verpackt. Mit seinem heilen Arm zog er aus einer Schublade verschiedene Capes in Klarsichthüllen. Keines in der gewünschten Farbe. Als ihm klar wurde, dass er das Stück aus der Auslage holen musste, knurrte er etwas in Richtung Hinterzimmer. Eine Frau tauchte auf, auch nicht liebenswürdiger als er, eingezogener Kopf, wie für draußen gekleidet (drinnen war es auch wirklich kühl). Sie schaffte eine Trittleiter her, um an das Schaufenster zu kommen, und zog die Nadeln heraus, mit denen das Cape an der Büste befestigt war. Ich legte es vor einem Spiegel an, in dem man nichts sehen konnte, drehte mich dann zu den Männern um. Pierre fand es nicht schlecht, Bernard meinte, ich sähe darin aus wie ein biederes Muttchen. Das Ehepaar sagte nichts. Sie wirkten alt und desinteressiert. Wir kauften das Cape zu einem gar nicht so teuren Preis. Die Frau legte es sorgfältig zusammen und steckte es in eine hübsche Tüte, die ich immer noch habe, sie trägt die Beschriftung Cashmere made in Italy. Die beiden ließen keinerlei Freude über diesen Verkauf erkennen, der vielleicht der einzige an dem Tag bleiben würde. Sie mussten schon seit vielen Jahren hier sein, hatten nach und nach ihre Kundschaft verschwinden sehen, die eleganten Leute des Viertels, die weggezogen oder gestorben waren. Wenn sie eines Tages zumachen, werden Chinesen den Laden übernehmen und Handtaschen verkaufen, dieselben bunten Ledertaschen, die alle hundert Meter in der ganzen Stadt hängen. Oder ein Eiscafé mit greller Neonbeleuchtung. Oder aber – auch wenn die Chancen schlecht stehen – jüngere Leute machen eine Modeboutique auf. Aber die Modeboutique gehört zur selben vergänglichen Welt wie die Taschen. Das unerfreuliche Paar gehörte zu einem langsameren Menschenschlag. Ich sage langsamer, nicht beständiger. Sie standen irgendwo in der Landschaft, in meiner Erinnerung leben sie noch ein wenig weiter.

Unsere Abteilung im Institut Pasteur ist im früheren Krankenhaus untergebracht, einem denkmalgeschützten Gebäude aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Wie der historische Teil des Komplexes ist es aus rotem Backstein gemauert. Ein Park liegt zwischen beiden Gebäudeteilen, die ein wunderbares Gewächshaus verbindet, allerdings stillgelegt, weil das Glas nicht mehr bruchsicher ist. Trotzdem wuchern die Pflanzen darin weiter wie in einem kleinen Dschungel. Das Fenster meines Büros im Erdgeschoss geht auf Hecken und Bäume hinaus. Dahinter steht ein modernes Gebäude mit einer Glasfassade. An sonnigen Tagen spiegelt sich unsere Fassade darin. Ich träume vor mich hin, ich platziere mich hier und dort, versetze mich in frühere Zeiten, stelle mir die Isolierstation vor, die hölzernen Bettgestelle, die Krankenschwestern mit Häubchen oder weißem Nonnenschleier. Ich sehe Dinge, die ich früher nicht sah.

Nach einer Weile war aus dem Schlafzimmer nichts mehr zu hören. Ich ging nachschauen. Pierre hatte sich auf seine Seite des Bettes gekuschelt und schlief. Er schlief. Wo doch gerade über uns, jenseits der Zimmerdecke … Ich setzte mich auf den Bettrand und betrachtete sein sacht grau werdendes Haar. Ich mag sein Haar sehr. Es ist dicht und wellig. Ich streichelte es. Er schlief. Ich war konsterniert. Er selbst erklärte diesen Durchhänger später mit den zu vielen, zu schnell getrunkenen Schnäpsen, die er in all der Panik und dem Durcheinander des Abends gekippt hatte. Egal. Er hatte sich hingelegt, die Decke bis zum Kinn gezogen, in der Position eines Mannes, der sich dem Schlaf überlässt. Mich hatte er allein gelassen. Unbewacht. Hatte mich mit seinen stählernen Fingern umsonst hergebracht. Ich war durchaus bereit, der väterlichen Stimme zu folgen, wenn sie denn fest blieb. Die strenge Stimme hatte zwei Sekündchen lang gegrollt und dann locker gelassen. Wer schläft, hat dich verlassen. Er sorgt sich nicht mehr um dich. Ich hatte ihn ein wenig lächerlich gefunden, wie er den Moralapostel gab, kurz davor, die Polizei zu rufen, aber ich hatte gedacht, er hat um mich Angst. Er beschützt mich. In Wirklichkeit hatte er mich ins traute Heim zurückgebracht und sich dann verabschiedet. Unbekümmert, ohne Sorge um den anderen. Noch ein nicht gehaltenes Versprechen. Und was, so dachte ich im Dunkeln auf dem Bettrand, hat es mit seinem völligen Mangel an Neugier auf sich? Pierre hat sich nie für die vermischten Nachrichten über Verbrechen, für das Elend der gewöhnlichen Menschen interessiert. Er sieht die Dimension des Verhängnisvollen darin nicht. Für ihn ist das anrüchig, oder die Leute sind Widerlinge. Auf eine Weise bin ich Ginette Anicé näher als meinem Mann. Ich ging ins Bad hinüber, setzte mich auf den Toilettendeckel und untersuchte die Pröbchen, die ich zu Gwyneth Paltrows Anti-Aging-Creme dazubekommen hatte, darunter eine Tote-Meer-Nährmaske, die man die ganze Nacht lang einwirken lassen kann. Versonnen trug ich sie auf. Nicht ein klarer Gedanke. Neulich hörte ich im Fernsehen einen gar nicht so alten Typen sagen, Gott leitet mich, jeden Tag frage ich ihn um Rat, gerade eben noch, bevor ich ins Studio kam. Gott rät einem viel heutzutage. Ich erinnere mich an eine Zeit, als ein derartiger Satz viel Heiterkeit ausgelöst hätte. Heute findet alle Welt so etwas normal, sogar in Sendungen mit intellektuellem Anspruch. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn mir jemand in meiner Situation etwas vorgeschrieben oder erklärt hätte. Aber ich hatte hier im Badezimmer niemanden bei mir, nicht einmal ein Double, das mich meine Beste nennen würde. Ich ging zur Wohnungstür und schaute durch den Spion. Tiefe Finsternis. Dann kehrte ich ins Wohnzimmer zurück, löschte die Lampe und öffnete das Fenster. Ich stellte mich in eine Ecke des Balkons. Der menschenleere Parkplatz. Der Laguna der Manoscrivis da unten. Ich lauschte der Stille der feuchten Nacht, etwas Wind, ein Motor. Dann machte ich das Fenster wieder zu. Kein Geräusch von oben. Nichts. Ich begann durchs Wohnzimmer zu kreisen, zeichnete mit meinen Kunstpelz-Pantoffeln Schrittfolgen und überraschte mich dabei, wie ich zwischen den Möbeln kleine Hüpfer vollführte. Etwas tanzte in mir, trotz allem. Schon früher hatte ich in Momenten, in denen das Unglück nicht mit vollem Peitschenhieb zuschlägt, eine solche nicht zu unterdrückende Leichtigkeit erlebt. Ist das der Rausch der Gnadenfrist? Das Gefühl, noch aufrecht zu stehen, sosehr das Boot auch schwankt, oder, ganz banal, wie für Ginette Anicé (schon wieder sie), das Gefühl, der Leere zu entkommen? Im Programm dieser Nacht gab es auf einmal die Möglichkeit, von der geplanten Straße abzubiegen. Nachdem mein Mann mich allein gelassen hatte, konnte ich ebenso gut wieder ins Treppenhaus gehen. Es ist nichts Schlechtes, wenn ein Versprechen nicht gehalten wird, erst im Freiraum der Enttäuschung kann unser faustisches Gen Wirkung entfalten. Dem großen Biologen Svante Pääbo zufolge unterscheiden wir uns vom Neandertaler nur durch eine winzige Modifikation auf einem bestimmten Chromosom, mehr nicht. Eine ungewöhnliche Mutation des Genoms, die angeblich den Aufbruch ins Ungewisse erlaubte, die Überquerung der Weltmeere ohne sicheres Land am Horizont, den ganzen fieberhaften Hang der Menschheit zu Forschung, Kreativität und Zerstörung. Kurz und gut, ein Verrücktheitsgen. Ich ging noch einmal in unser Schlafzimmer. Pierre schlief tief und fest. Ich griff mir einen herumliegenden Pullover, nahm im Eingang die Wohnungsschlüssel und schlüpfte leichtfüßig hinaus. Oben klopfte ich und flüsterte Jean-Linos Namen. Er öffnete mir ohne jedes Erstaunen, eine Einwegspritze in der Hand. Es roch nach Rauch. Ich gebe ihr gerade ihre Arznei, sagte er. Eine Sekunde lang dachte ich, er meint Lydie, jetzt ist er durchgedreht, aber als ich ihm in die Küche folgte, wurde mir klar, er meinte die Katze. Eduardo hat Nierensteine. Er muss jeden Tag sechs Tabletten einnehmen und neuerdings solche Kroketten fressen, die ihm leider gar nicht bekommen, sagte Jean-Lino, während er herumhantierte, setzen Sie sich, Elisabeth.

– Der Arme.

– Am ersten Tag hab ich eineinhalb Stunden gebraucht, bis er eine einzige Tablette von dem Antibiotikum geschluckt hatte. Der Tierarzt hat gesagt, Sie stecken ihm die Pille ins Maul und halten es ihm dann zu. Von wegen. Sobald ich loslasse, spuckt er das Ding wieder aus. Dann hab ich begriffen, zum Schlucken muss eine Katze die Kiefer bewegen, wie zum Kauen. Aber das Schlimmste, sagte Jean-Lino, das Schlimmste ist die Hefe.

Währenddessen füllte er den Inhalt einer Kaffeeschale, den er zuvor mit dem Löffel umgerührt hatte, in eine Säuglingsfertigspritze.

– Von den Kroketten kriegt er Durchfall. Der Tierarzt sagt, es liegt nicht an den Kroketten, aber ich sage, das sind diese Urinary-Stress-Kroketten. Er futtert sie im Handumdrehen weg, er liebt sie, aber er kriegt Dünnschiss davon. Für die Antibiotika und das Zeug gegen die Nierensteine hab ich eine Methode gefunden. Die Pillen sind ganz klein, nicht größer als eine Linse, aber die Ultradiar-Kapsel, die muss ich in Wasser auflösen und ihm mit dieser Säuglingsspritze einflößen. So, wo steckt der Diavolo? Ich such ihn mal.

Kurz saß ich allein in der Küche. Auf dem Tisch lag ein Faltblatt mit Lydies Foto drauf. Lydie Gumbiner, Musiktherapie, Ultraschall-Therapie, Tibetanische Klangschalen-Massage. Innen war ein Gong abgebildet, und darunter stand folgender Satz, Stimme und Rhythmus sind wichtiger als Wörter und Sinn. Ich betrachtete das Weidenkörbchen auf der Arbeitsplatte mit seiner Rüsche aus Baumwollstoff, ich benannte jeden einzelnen Bestandteil des Kräuterstraußes darin, Knoblauch, Thymian, Zwiebel, Oregano, Salbei, Lorbeer. Von sorgfältiger Hand neckisch dekoriert, dachte ich, für ein bestimmtes Gericht oder einfach, um dem Leben eine theatralische Note zu verleihen? Jean-Lino kam, Eduardo im Arm. Er setzte sich hin und flößte ihm das Gebräu ein, als gäbe er einem Neugeborenen das Fläschchen. Ich hab mich in Gegenwart dieses Katers noch nie wohlgefühlt, Eduardo ist eine wilde kleine Kanaille, aber hier wirkte er ergeben und ließ sich die demütigende Prozedur widerstandslos gefallen. Das ist der schwierige Teil, sagte Jean-Lino, man muss sehr darauf achten, dass er sich nicht verschluckt. War es dieser Satz? Die fast pädagogische Körperhaltung? Kurz beschlich mich das Gefühl, er bereite gerade Eduardos unmittelbare Zukunft vor. Kurz, vielleicht plante er, ihn bei uns unterzubringen. Das entsetzte mich. Ich sagte, was haben Sie jetzt vor, Jean-Lino?

– Vorgestern hat er zu schnell getrunken und musste ganz fürchterlich husten, ums Haar wäre er mir erstickt.

– Was haben Sie mit Lydie vor?

– Ich werde die Polizei rufen …

– Ja. Natürlich.

– Wo ist Pierre geblieben?

– Der schläft.

Der Kater trank ruhig die Hefelösung. Die Schachtel mit den Kroketten stand auf dem Küchentisch. Aus dem Namen schloss ich, dass sie wohl auch ein Beruhigungsmittel enthielten. Jean-Lino neigte weiter das Gesicht über die Schnauze seines Katers. Seit er bei uns aufgetaucht war, hatte seine Stimme sich wieder gefestigt, ebenso die Konsistenz von Gesicht und Mund. Den Weltmeister des Mundes auf der Suche nach einer Form hatte ich schon früher getroffen: Michel Chemama, meinen Englischlehrer im Auguste-Renoir-Gymnasium, einen Juden aus Oran, der für mich auf immer und ewig mit dem Wort harrvesting möshiin verbunden bleiben wird, ausgesprochen mit einer nach vorn verdrehten Lippe (jahrelang, auch heute noch, fragte ich mich, warum jungen städtischen Schülern so dringend das englische Wort für »Mähdrescher« beigebracht werden muss). Jean-Lino legte die Spritze auf den Tisch. Eduardo ließ sich zu Boden gleiten und verschwand aus der Küche. Wir sagten nichts. Ich konnte Michel Chemama gut leiden damals, immer in grauer Flanellhose, marineblauem Blazer, einem Zweireiher mit Metallknöpfen. Vielleicht gibt es ihn noch immer. Als Kind kann man das Alter seiner Lehrer nicht beurteilen, sie wirken alle alt. Es ist nett, dass Sie wieder hochgekommen sind, sagte Jean-Lino. Was ist passiert, Jean-Lino? Ich war nur ungern so direkt, aber ich wusste nichts anderes zu fragen. Die Sprache drückt nichts anderes aus als die Unfähigkeit, sich mitzuteilen. Zu normalen Zeiten spürt man das mehr oder weniger stark und arrangiert sich damit. Jean-Lino schüttelte den Kopf. Er beugte sich vor, um eine Mandarine von der Arbeitsplatte zu nehmen. Mir bot er auch eine an. Ich wollte keine. Er machte sich daran, seine zu schälen. Ich sagte, bei uns unten haben Sie beide glücklich gewirkt.

– Nein.

– Nein? …

– Doch … also ich war glücklich.

– Fühlen Sie sich zu nichts verpflichtet.

Er legte die Mandarine auf ein Stück von der Schale, brach eine Spalte heraus und zupfte die weißen Fädchen ab.

– Ich fühle nichts mehr. Bin ich ein Ungeheuer, Elisabeth?

– Sie sind betäubt.

– Im ersten Augenblick hab ich geweint. Ich weiß aber nicht, ob aus Trauer.

– Noch nicht.

– Ah ja … Ja, stimmt. Noch nicht.

Eine nach der anderen nahm er die Mandarinenspalten zur Hand und putzte sie, aß aber nichts. Ich hatte größte Lust, ihn zu fragen, was wollen Sie mit Eduardo machen, aber ich fürchtete, dass es ihm durch meine Frage gleich zu behaglich würde. Auch nach der neuen Brille wollte ich mich erkundigen. Man wechselt ja nicht grundlos und unschuldig von der dunklen Rechteckigen zu einer sandfarbenen Halbrunden. Dickrandige Gestelle rufen immer eine Erinnerung an das Kindergesicht wach. Das Gesicht ist eines der unergründlichen Elemente, deretwegen man sich von jemandem angezogen fühlt und ihn liebt. Aber kein Gesicht lässt sich beschreiben. Ich betrachtete die lange Nase, die am Ende steiler und breiter wurde, die lange, komplett senkrechte Partie von den Nasenlöchern zum Mund. Ich dachte an seine Zähne, die wüst durcheinanderstanden, im Gegensatz zu heutigen Gebissen.

Während er an der Haut der Frucht herumfingerte, registrierte ich für immer die drei Dinge, die Jean-Linos Gesicht gleichzeitig ausdrückt: Güte, Kummer, Fröhlichkeit. Ich sagte, die Brille hab ich noch nie gesehen.

– Sie ist neu.

– Sie steht Ihnen.

– Von Roger Tin. Aus Azetat.

Wir lächelten einander an. Mit Sicherheit hatte Lydie die Brille ausgesucht. Nie im Leben wäre er von sich aus auf diese ausgefallene Farbe gekommen. Da hörten wir ein Gerumpel vom Schlafzimmer her. Ich sprang auf und drückte mich an den Kühlschrank. Jean-Lino ging nachsehen. Ich schämte mich für meine Reaktion. Falls Lydie zu sich gekommen sein sollte, wäre das ja eine gute Nachricht, warum Angst haben? Nein, nein, der wiedererwachende Tote war schon immer schreckenerregend, die Literatur ist voll davon. Ich stellte mich in den Spalt der Küchentür und lauschte. Undramatische Geräusche, Jean-Linos italienische Stimme. Ich hörte, wie er die Schlafzimmertür schloss, er tauchte im unbeleuchteten Flur wieder auf. Eduardo hatte vom Nachttopfdeckel aus auf den Nachttisch springen wollen, aber da der Deckel gekippt war, hatte er eine Bruchlandung hingelegt und die Bettlampe umgerissen. Jean-Lino setzte sich wieder, ich ebenfalls. Er holte eine Chesterfield heraus. Darf ich?

– Natürlich.

– Er findet sich nicht zurecht. Eigentlich darf er nicht ins Schlafzimmer.

Dann tat ich etwas, was ich schon seit über dreißig Jahren nicht mehr gemacht hatte. Ich nahm eine Zigarette und steckte sie mir an. Rauchte sie direkt auf Lunge. Es brannte mir in der Kehle, und es schmeckte grässlich. Manchmal hatte Joelle und ich im Departement Indre in der Nähe ihrer Verwandten unsere Ferien verbracht. Wir durften in einem kleinen Bauernhaus in der Nähe von Le Blanc wohnen. Wir sagten immer, wir fahren zu den Landeiern. Eines Tages führte mein rechter Arm beim Abendessen auf einmal einen Veitstanz auf, unmöglich, die Gabel stillzuhalten, ich hatte tagsüber zwei Päckchen Camel geraucht, ich war dreizehn. Später habe ich noch mit Denner ein bisschen geraucht. Jean-Lino nahm mir die Zigarette aus der Hand und drückte sie in seinem Werbe-Aschenbecher aus. Dann traute ich mich noch etwas, das ich sonst keinesfalls je gewagt hätte: Ich strich ihm über die narbige Wange. Ich sagte, wovon kommt das?

– Die Narben?

– Ja.

– Akne. Ich hatte das ganze Gesicht voller Pickel.

Er betrachtete beim Rauchen die Küche. Woran dachte er? Ich rief mir die tote Lydie im Zimmer nebenan vor Augen. Es war ungeheuerlich und zugleich nichts. Im Haus war es still. Der Kühlschrank brummte unverdrossen. Als wir die Wohnung meiner Mutter auflösten, fanden wir in einer Schublade ihr ganzes Büro-Kleinzeug. Es war uralt und stammte noch aus der Zeit, als sie bei Sani-Chauffe das Kassenbuch geführt hatte. Ein Mäppchen mit Lineal, Vierfarbkugelschreiber, Heftklammern, einem jungfräulichen Papierblock, einer Schere, die noch hundert Jahre lang schneiden könnte. Die Dinge sind Schweinehunde, sagte Jeanne. Ich fragte Jean-Lino noch einmal, was passiert war.

Als sie hochgingen, hatte Lydie ihm vorgeworfen, sie vor aller Augen lächerlich gemacht zu haben. Dass er den Vorfall im Restaurant hervorgekramt und mit der Hühner-Karikatur garniert habe, sei bereits ein Fall von Verrat gewesen, und dazu noch der Umstand, dass er Rémi ins Spiel gebracht habe! Also Rémi hätte er nicht erwähnen dürfen, sagte Lydie, und schon gar nicht, um zu erzählen, dass er sie, seine Großmutter, ausgelacht habe, was überdies nicht einmal zutreffe. Jean-Lino, immer noch in aufgekratzter Stimmung, antwortete leichthin, er habe sich nichts Böses gedacht, habe das alles erzählt, um etwas Lustiges zum Gespräch beizutragen, wie es bei solchen Einladungen doch üblich sei, und es hätten doch auch alle gutherzig gelacht, er erinnerte sie daran, dass sie irgendwann selbst über Rémi und seine Hühnernummer gelacht hatte. Jetzt geriet Lydie erst recht außer sich, behauptete, sie habe damals nur gelacht (falls überhaupt), um ihn zu schützen, ihn, Jean-Lino, damit das Kind, das übersensible, nicht bemerke, wie unterirdisch diese Hühner-Imitation war. Nie hätte sie sich vorstellen können, fügte sie hinzu, diese Demütigung dann auch noch vor anderen Leuten wiedererleben zu müssen, und sie wies darauf hin, dass der Applaus vor allem von einem besoffenen und bösartigen Typen gekommen sei. Sie warf ihm vor, weder bemerkt zu haben, wie sie erstarrte, noch ihre diskreten Zeichen gesehen zu haben, und überhaupt fehle es ihm ihr gegenüber an Fingerspitzengefühl. Jean-Lino wollte etwas entgegnen, denn wenn es einen aufmerksamen, ja übervorsichtigen Mann gab, dann ihn, aber Lydie war dermaßen in ihren Vorurteilen befangen, dass sie nichts dergleichen hören wollte. Nein, dass er diese Hühnergeschichte erzählt habe und dazu leider Gottes auch noch mit dem einzigen Zweck dämlicher Belustigung, das zeige seine Gefühllosigkeit, wenn nicht gar Armseligkeit. Sie habe immer damit leben können, dass er ihre Lebensweise nicht übernahm, solange sie sich verstanden und respektiert gefühlt habe. Was aber offensichtlich nicht der Fall sei. Ja, manche Lebewesen haben eben Flügel anstelle der Arme! Und folglich flattern und fliegen sie. Jedenfalls tun sie das, sagte sie so, als meine sie damit Jean-Lino ganz im Speziellen, wenn die Gleichgültigkeit und Herzensträgheit der Menschen sie nicht daran hindert. Was daran bitte zum Lachen sei? Ihr sei unbegreiflich, wie man auf Kosten von Lebewesen lachen könne, deren Dasein von der Geburt bis zum Schlachthof ein einziges Elend sei, und wie man in dieses Lachen einen Sechsjährigen hineinziehen und zu einem künftigen Folterknecht machen könne. Die Tiere wollen nichts als leben, herumpicken, das grüne Gras der Wiesen fressen. Doch die Menschen kerkern sie ein, verbannen sie in Todesfabriken, wo sie sich kaum bewegen, nicht mal richtig umdrehen können und ihr Leben lang kein Tageslicht zu sehen bekommen, sagte sie. Das solle er dem Kind vor Augen führen, wenn er sein Bestes wolle, statt sich bei ihm mit derlei Niveaulosigkeiten einzuschmeicheln. Die Tiere haben keine Stimme, sie können ihre Interessen nicht vertreten, doch zum Glück, rühmte sie sich, gibt es auf der Welt Menschen wie Oma Lydie, die an ihrer Stelle Anklage erheben können: Genau das hätte er Rémi beibringen können, statt sie zu behandeln wie eine Idiotin. Und ganz allgemein warf sie ihm vor, sich auf ihre Kosten bei dem Kind einzuschleimen – über das Wort empörte Jean-Lino sich, es sei ganz und gar daneben, sagte er, und nur dazu gedacht, ihn unnötig zu demütigen –, ein anderer Trick sei ihm wohl nicht eingefallen, um wenigstens den Keim einer Verbrüderung mit dem Kleinen hinzubekommen. Sie sagte, sein Verhalten dem Kind gegenüber sei mitleiderregend, denn er bedeute Rémi nichts, schlankweg nichts, er werde nie Opa Lino für ihn sein. Sie zeigte sich empört, dass er unser Enkel zu sagen wagte, dabei sei er ein Niemand, das Kind habe echte Großeltern, auch wenn der eine Großvater tot sei und es zu dem anderen keinen Kontakt habe. Diese Anmaßung, noch dazu in ihrer Gegenwart und vor anderen Leuten, sei üble Gewalt, schließlich kenne er ihren diesbezüglichen Standpunkt genau, aber dann mache er sie obendrein in einer Situation lächerlich, in der sie sich nicht einmal wehren könne. Weiterhin verriet sie ihm, dass das Kind ihn verachte, ohne dass er es bemerke, denn Kinder hätten nun einmal keinen Respekt vor Leuten, die ihnen unbedingt gefallen wollten und ihnen in allem zu Willen seien, schon gar nicht ein Kind wie dieses, ergänzte sie, das durch seine Lebensumstände gereift und von überragender Intelligenz sei. Als Jean-Lino ihr Rémis jüngste Liebesbeweise entgegenzuhalten versuchte, scheute sie sich nicht zu sagen, alle Kinder seien kleine Huren, Rémi nicht weniger als andere. Und sie nutzte gleich die Gelegenheit, um ihn gespielt verständnisvoll daran zu erinnern, dass er in diesen Dingen ja keinerlei Erfahrung habe. Und dann sagte sie, ein Mann, der langsam wieder zum Kind werde, verliere in den Augen einer normalen Frau jeglichen Sex-Appeal, und was er mit Eduardo veranstalte, habe ihr schon gereicht. Widerwillig habe sie sich darein gefügt, im Privaten seine Regression mitansehen zu müssen, aber sie habe nicht damit gerechnet, dass er das jetzt auch vor aller Augen treibe. In einem Paar, sagte sie, muss jeder von beiden sich bemühen, dem anderen Ehre zu erweisen. Die Art, wie einer sich nach außen gibt, wirkt sich doch darauf aus, wie die Leute den anderen sehen. Was helfen ein veilchenblaues Hemd und eine schicke Brille, wenn einer Stummelarme hat und herumgackert? Wenn ich meine Korallen-Ohrringe und die roten Pumps von Gigi Dool anziehe, wenn ich zwei Patienten die Termine absage, sagte sie, um mir morgens noch die Haare nachtönen und die Maniküre machen zu lassen, dann nur, um mich mit dem Bild in Einklang zu bringen, das ich als deine Frau zu sein habe, und zwar dir zu Ehren. Das gilt für alle Lebensbereiche. Stattdessen, fuhr sie fort, säuft mein Mann wie ein Loch, wo wir uns ausgerechnet in Gesellschaft von feinen und intellektuellen Leuten befinden, äfft ein Huhn nach, erzählt munter herum, dass mein Enkel mich verspottet, dass der Kellner mich verspottet, stimmt, den hatte ich noch ganz vergessen, und macht mich selbst zum Gespött, indem er eine Geschichte verzerrt erzählt, zu einem Thema, das durchaus keinen Anlass zum Lachen bietet und dessen Tragweite offenbar kein Mensch erkennt. Jean-Lino merkte an (oder wollte es tun), dass mehrere Gäste ihm beigepflichtet hätten. Nein, nein, nein, sagte Lydie, eine Einzige, und das war bloß diese eiskalte Forscherin. Hast du gesehen, was für eine Fresse die gezogen hat, als ich sagte, dass ich singe? Nicht mal deine liebe Elisabeth, deine liebe Freundin Elisabeth hat was gesagt. All diese Leute, die angeblich was mit Wissenschaft machen oder so, die scheißen darauf. Die sind völlig seelenlos, ihr Hirn reicht nicht weiter als ihr Fach. Kann gut sein, dass einer von denen die Antibiotika marktreif gemacht hat, die jetzt in den Schweine-KZs eingesetzt werden. Der Durchgeknallte da hatte nicht mal unrecht. Den Leuten geht es nur darum, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Die furchtbaren Schlachthöfe sind denen scheißegal, sie vernichten die Natur, es ist ihnen scheißegal. Und dich interessiert das auch nicht, du willst doch nur runtergehen und deine verkackten Chesterfields rauchen.

Jean-Lino weiß nicht was tun. Sie mit ihrem Groll allein lassen und rauchen gehen. Oder bleiben und eine Versöhnung versuchen. Sie hatte sich an ihrem Schreibtisch niedergelassen, einem kleinen altertümlichen Sekretär im Wohnzimmer, und die Brille aufgesetzt, jetzt las sie auf dem Laptop ihre Mails mit der Miene einer Frau, die sich wieder beachtenswerteren Dingen zuwendet. Er hatte noch nie gesehen, dass sie nachts ihre Mails abrief. Das würde offenbar kein leichter Gang werden. Er beschließt, erst mal eine zu rauchen, zieht die Lederjacke an und geht die Treppe hinunter. Aus unserer Etage hört er Stimmen. Einige unserer Gäste sind im Aufbruch und plaudern noch, während sie auf den Fahrstuhl warten. Er nimmt an, dass meine Schwester und Serge dabei sind. Er hört Gelächter, er erkennt meine bezaubernde Stimme (das Wort benutzt er). Obwohl die Tür zum Treppenhaus geschlossen ist, geht er einige Stufen zurück, um nicht gesehen zu werden. Ihm ist alle Selbstsicherheit abhandengekommen. Er schämt sich. Vor einer Stunde noch war er ein Teil dieses fröhlichen Haufens, fühlte sich zugehörig, in manchen Augenblicken vielleicht sogar gemocht. Jetzt will er nicht einmal mehr riskieren, einem von ihnen unten über den Weg zu laufen. Wenn die hier weg sind, könnten immer noch andere kommen. Als er hört, wie der Fahrstuhl anfährt und unsere Wohnungstür sich schließt, geht er wieder hoch in den fünften. Er setzt sich auf die letzte Stufe, auf den abgewetzten Läufer, und zündet sich die Zigarette an. Zum ersten Mal raucht er im Treppenhaus. Darauf wäre er bislang nie gekommen. Er lässt den Abend Revue passieren. Er lächelt, wenn er an all die schönen Momente denkt, er hat nichts Spöttisches verspürt, als die anderen über seine Geschichte lachten, aber vielleicht ist er ja naiv. Eigentlich gehen sie nie aus, jedenfalls nicht zu dieser Art Abendgesellschaften. Aber nach dem anfänglichen Lampenfieber haben sie sich bald wohl gefühlt. Jetzt gibt es keinerlei Sicherheiten mehr für ihn. Er weiß nur, dass er glücklich war, und jetzt ist er es nicht mehr. Jemand hat ihm seine Fröhlichkeit weggenommen. Ich konnte das besser verstehen als irgendwer sonst, bei mir war er gerade an die Richtige geraten. Mein Vater musste jedes Mal Schläge austeilen, wenn er sich ärgerte. Eines Tages, als ich ganz vergnügt war, hatte ich beim Essen eine Kartoffel mit dem Messer aufgespießt und zum Mund geführt. Die Abreibung folgte auf dem Fuße, ich spüre noch heute, wie sie brannte. Nicht weil er mich geschlagen hatte, daran war ich gewöhnt, sondern er hatte meine Fröhlichkeit auf dem Gewissen. Jean-Lino fühlt sich ungerecht behandelt. Er sieht sich im schauderhaften Licht des Treppenhauses ganz geknickt in seiner Jacke auf dieser Stufe sitzen. Jetzt fällt ihm ein, was Lydie über Rémi gesagt hat. Er hatte sich bemüht, es zu überhören. Er hatte getrunken, das half. Aber jetzt war alles weg, die Freude, die Euphorie. Verachtete das Kind ihn wirklich? Jean-Lino konnte sich nicht vorstellen, dass ein Junge in Rémis Alter dieses Gefühl überhaupt kannte, aber Lydie hatte ja auch gesagt, dass er keine Ahnung von alldem habe. Er hatte auf Opa Lino verzichtet, er hoffte auf etwas anderes, etwas Gewachsenes, Tieferes. Als Rémi das letzte Mal bei ihnen war, an einem Wochentag während der Winterferien, da ging er mit ihm in den Jardin d’Acclimatation. In der Metro kaufte er ihm bei einem fliegenden Händler einen Laserstift. Es war eine lange Fahrt, sie mussten mehrmals umsteigen. Erst malte Rémi mit dem Stift Zickzack-Figuren auf Boden und Wände, dann griff er die Passagiere an. Jean-Lino ermahnte ihn, sich auf die Füße zu beschränken, aber er ließ den Strahl verstohlen bis zu den Gesichtern wandern und tat dabei so, als sähe er nicht hin. Die Leute schimpften, und Jean-Lino musste ihm den Stift bis zum Aussteigen wegnehmen. Rémi zog einen Flunsch. Sogar im Jardin d’Acclimatation trödelte er noch. Im Spiegelkabinett wachte er dann auf, wackelte hin und her vor den absurden Formen, die sein Spiegelbild und vor allem das von Jean-Lino annahm. Jean-Lino war in seinem Leben noch nicht hier gewesen, er staunte mehr als der Junge. Sie fuhren mit dem Boot auf dem Verzauberten Fluss, dann Autoscooter und Achterbahn, es waren nicht viele Besucher da, sie brauchten nirgends lange zu warten. Rémi steuerte Flugzeuge, an den Buden gewannen sie einen Plüschaffen, eine Wasserpistole, Seifenblasen und einen Flummi, Rémi aß eine Crêpe mit Schokolade, sie teilten sich noch eine Portion Zuckerwatte. Dann wollte Rémi auf einem Dromedar reiten, er hatte am Eingang ein Foto gesehen. Sie suchten die Dromedare, fanden sie aber nicht, und jemand erklärte ihnen, dass sie erst im Frühling zurückkämen, wie die Ponys. Wieder zog Rémi einen Flunsch. Sie gingen zum Spielplatz. Jean-Lino setzte sich auf eine Bank. Rémi daneben. Jean-Lino fragte, ob er nicht auf dem Riesenspinnennetz herumklettern wolle, Rémi wollte nicht. Er kauerte sich in seinen Anorak und ließ seine neuen Spielsachen ringsum verstreut liegen, als wären sie ihm wurscht. Jean-Lino sagte, er werde jetzt noch aufrauchen, dann würden sie gehen. Ein Junge kam an ihnen vorbei, etwa gleichaltrig mit Rémi, er spielte Eisenbahn und zeichnete mit einem Ast eine Linie in den Sand. Rémi blickte ihm nach. Der Junge kam wieder und blieb stehen. Er deutete auf die Bank und sagte, das ist der Bahnhof von Maleficia. Rémi fragte ihn, wo er den Ast gefunden habe, und sie zogen gemeinsam los zu einem kleinen Gebüsch. Zwei Minuten später rauschten sie im Eiltempo an Jean-Lino vorbei, Rémi war jetzt auch ein Zug. Nach einigem Gekurve ließen sie die Äste liegen und kletterten von der unteren Öffnung her in die Röhrenrutschbahn. Kichernd tauchten sie oben wieder auf und brachten nebenbei beim Abstieg noch die kleineren Kinder aus dem Gleichgewicht, die über die Leiter heraufkamen. Sie stellten alles Mögliche in dem Park an, buddelten im Sand bis zum Beton-Untergrund, palaverten an den Eckpfosten einer Blockhütte gelehnt, kletterten über das Riesenspinnennetz und baumelten gewagt daran herum. Jean-Lino hatte Rémi noch nie strahlen sehen. Noch von weitem konnte er die Glut des Kindes spüren, das dringende Bedürfnis nach Verbrüderung mit seinem neuen Freund. Und seine Sehnsucht, sich anzupassen, sich einzufügen. Jean-Lino war kalt. Dann und wann winkte er Rémi, der es nicht merkte. Allmählich hatte er es satt, auf der harten Bank zu warten. Es wurde langsam dunkel. Und er empfand etwas, das er sich selbst nicht eingestehen konnte, eine Art Verlassenheit. Als er allein auf der Treppe sitzt und an diesen Nachmittag im Jardin d’Acclimatation denkt, befällt ihn wieder ein melancholisches Gefühl. Er erinnert sich an das Spielzeug, das er selbst einsammeln und in einen extra am Kiosk gekauften Stoffbeutel stopfen musste. Rémi hatte ihn nicht nehmen wollen, also musste er ihn sich selbst an die Schulter hängen und nach Hause schaffen. Außer den Seifenblasen hat es kein Teil seither aus der Tasche herausgeschafft. In der Metro war Rémi an seiner Schulter eingeschlafen. Und auf dem Weg von der U-Bahn nach Hause hatte er auf der Straße seine Hand genommen. Was Lydie gesagt hat, nimmt diesen Bildern allen Glanz. Er weiß nicht mehr, was er denken soll. Ihre Worte sind in seinen Körper eingedrungen und lassen ihn unstillbar verbluten. Jean-Lino zerdrückt die Kippe auf dem Betonboden und schiebt sie unter den Läufer. Er findet seine Füße in diesen Mokassins lächerlich klein. Überhaupt fühlt er sich klein, körperlich und auch sonst.

An manchen Tagen springt mich schon beim Aufwachen mein Alter an. Unsere Jugend ist tot. Nie wieder werden wir jung sein. Dieses Nie-wieder ist das Schwindelerregende. Gestern habe ich Pierre vorgeworfen, er sei schlapp, gleichgültig, gebe sich mit wenig zufrieden, schließlich sagte ich, du lässt das Leben einfach so verstreichen. Er erwähnte einen Kollegen, Lehrer im Fach Wirtschaft, der letzten Monat nach einem Herzanfall gestorben war, er sagte, Max, der hat die Zähne ins Leben geschlagen, ein Projekt nach dem anderen, und was hat es ihm gebracht? Das macht mich wirklich fertig, wie soll das gehen, sich selbst nicht mehr als Projekt zu sehen? Aber vielleicht ist allein schon das Konzept von Zukunft schädlich. In der Grammatik mancher Sprachen gibt es diese Zeit nicht einmal. Seit einer Weile liegt The Americans auf meinem Nachttisch. Jetzt, wo ich es wiederentdeckt habe, blättere ich jeden Tag ein wenig darin. In Savannah geht eines Nachmittags im Jahre neunzehnhundertfünfundfünfzig, dem Entstehungsjahr aller Fotos in dem Buch, ein Paar über eine Straße. Er ist Soldat in Uniform, Hemd und Mütze. Er mag in den Fünfzigern sein, Pfeife zwischen den Zähnen, amerikanisch entspannt, obwohl er in die enge Kleidung gezwängt ist und der Hosengürtel tief in den Schmerbauch einschneidet. Die Frau ist trotz ihrer Absätze deutlich kleiner und hat sich bei ihm eingehakt, nach alter Manier, die Hand in der Ellbogenbeuge. Robert Frank hat sie von vorn aufgenommen, beide blicken ins Objektiv. Sie hat sich herausgeputzt mit einem hübschen, ihre Formen betonenden dunklen Kleid, das an den Taschen und am Kragen mit Borte abgesetzt ist, dazu Lackschühchen. Sie lächelt den Fotografen an. Sie wirkt älter als er, Entbehrungen haben ihr Gesicht gezeichnet, jedenfalls meine ich das zu sehen. Sofort vermutet man, dass sie nicht alle Tage am Arm eines Mannes spazieren geht, dass sie einen grandiosen Tag erlebt mit ihrer neuen Handtasche, ihrer jugendlichen Dauerwelle, dem schneidigen Typen mit der Offiziersmütze an ihrer Seite. Es ist für sie ein Sonntag des Lebens, wie man es manchmal erlebt, wenn das Glück über einen kommt. Als ich Lydie das erste Mal sah, durchquerte sie den Hauseingang an Jean-Linos Arm und trat nach draußen. Mitten am Nachmittag, ebenfalls todschick herausgeputzt und kerzengerade, stolz auf sich selbst, auf das Leben, auf ihren kleinen pockennarbigen Mann. Sie waren gerade eingezogen. Vielleicht ist sie nie wieder so strahlend zufrieden über diese Schwelle getreten. Wir tun das alle, ob Männer oder Frauen, wir stolzieren an jemandes Arm einher, als hätten wir als einziger Mensch auf Erden das große Los gezogen. Man muss sich mit diesen strahlenden Ausnahmemomenten zufriedengeben. Man kann im Leben nicht darauf hoffen, dass etwas andauert. Ich habe mit Jeanne telefoniert. Ihre Affäre lahmt. Der Rahmenbauer ist immer weniger bei der Sache und weicht immer öfter aus. Als unsere Mutter starb, wollte Jeanne das Unglück nutzen, um so etwas wie Gefühle in die Beziehung zu bringen. Der Typ erwies sich aber als weitgehend gleichgültig, und in den Tagen danach bombardierte er sie mit versauten Nachrichten. Er möchte sie zu Swingerpartys mitnehmen und anderen Männern anbieten. Wenn sie sich sträubt, wird er aggressiv. Fast täglich ruft Jeanne mich an, den Tränen nahe. Sie sagt, er hat mir Bilder in den Kopf gesetzt. Jetzt würde ich mir das ganz gern mal ansehen. Aber ich bin dem nicht gewachsen. Ich bin verletzlich. Ich bin einsam. Ich habe keine Rettungsleine. Für eine Rutschpartie in die Hölle braucht man eine Rettungsleine, aber wenn ich rutsche, bleibe ich unten.

Jean-Lino steht wieder in seiner Wohnung. Er zieht die Lederjacke aus und hängt sie im Eingang auf. Lydie sitzt immer noch am Laptop. Jean-Lino geht zu ihr ins Wohnzimmer. Sie hat die Schmetterlingsbrille aus Schildpatt auf der Nasenspitze und dreht sich nicht um. Er würde sie gern spüren lassen, dass eine radikale Veränderung stattgefunden hat, und ein paar endgültige Worte sagen. Aber er schwächelt, seine Gedanken sind verworren. Ihm fällt nichts ein. Auf dem gläsernen Beistelltisch stehen neben den Schnäpsen die Seifenblasen aus dem Jardin d’Acclimatation. Rémi liebte es, die Seifenblasen vom Balkon fliegen zu lassen. Bei Wind rannte er los, um nachzuschauen, ob sie es ums Haus geschafft hatten und an dem kleinen Eckzimmer vorbeiflogen. Nach der Rückkehr von jenem Ausflug hockte er bis zum Abendessen zwischen den Balkonpflanzen, den Kopf zwischen den Geländerstäben. Er ist ein echter Profi, er kann Riesenblasen zaubern und ganz winzige, traubenweise, schwangere und groteske. Bald war das Röhrchen leer, und Jean-Lino füllte eine Mischung aus Spülmittel und Wasser nach. Es war aber zu viel Spülmittel darin, die Blasen waren zu schwer und brannten auf der Haut. Rémi goss die Flüssigkeit den Passanten unten auf den Kopf. Die Leute fluchten, Rémi versteckte sich kichernd. Jean-Lino musste ebenfalls lachen. Lydie hatte rasch die Balkontür geschlossen und Rémi gefragt, warum er solche Dummheiten mache, dafür sei er zu groß. Rémi sagte, er habe die Flüssigkeit weggegossen, weil Jean-Linos Mischung auf der Haut und in den Augen brenne. Also schnauzte Lydie Jean-Lino an. Der Kleine wartete ohne erkennbare Regung ab, dass sich das Unwetter legte. Jean-Lino erinnert sich an Rémis gleichgültige Haltung. Er hatte sie für Beschämung gehalten, kindliche Scheu angesichts des Zanks unter Erwachsenen. Aber vielleicht war es ja schlimmer? Gleichgültigkeit, Verachtung? Was Lydie gesagt hat, nagt an ihm. Ihre Haare sind von derselben Farbe wie der Lampenschirm. Er findet, sie sieht ein bisschen aus wie eine Wahrsagerin. Sie hält sich kerzengerade, vom Hohlkreuz bis zu den Schulterblättern strahlt sie Feindseligkeit aus. Jean-Lino gießt sich einen Fernet-Branca ein und trinkt ihn gleich im Stehen, mitten im Wohnzimmer. Einen Augenblick lang fliegt ihn die Idee an, die Lampe zu packen und sie ihr über den Schädel zu ziehen. Lydie beschäftigt sich intensiv mit dem Bildschirm, macht daneben Notizen auf einem Block. Jean-Lino geht näher hin, er will mal sehen. Sie befindet sich auf einer Seite zum Schutz von landwirtschaftlichen Nutztieren, er erkennt einen Text über das Martyrium der Puten. Jäh packt er den Deckel des Laptops und klappt ihn zu, er sagt, du gehst uns auf den Sack mit deinen Hühnerhöfen, ich hab das alles so satt. Sie will den Laptop wieder aufklappen, aber er hält ihn zu. Verächtlich auflachend sagt sie, ich weiß, das ist dir alles scheißegal.

– Ja, absolut scheißegal, sagt Jean-Lino, ich scheiß total auf deine Hühner, Puten, Schweine, ich scheiß auf all diese Leute, ich scheiß darauf, wie die Hühner leben, ich esse gern dein bescheuertes Bio-Huhn, einfach, weil es besser schmeckt, aber abgesehen davon scheiß ich drauf, ich scheiß drauf, ob es unglücklich war, was weiß man schon darüber, ich scheiß drauf, dass es kein Tageslicht gesehen hat und nicht auf den Bäumen rumgehüpft ist wie eine Amsel und dass es sich nicht im Staub gewälzt hat, ich glaube nicht an ein Bewusstsein der Hühner, das Huhn ist dazu da, aufzuwachsen und dann geschlachtet und verputzt zu werden, fertig. Komm jetzt ins Bett.

Sie versucht sich zu wehren, aber er drängt sich zwischen den Tisch und sie. Er mag weder groß noch kräftig sein, aber er ist stärker als sie. Schließlich gibt sie auf. Sie schiebt den Stuhl nach hinten, um ins Schlafzimmer zu gehen, sie sagt, das ist also dein wahres Gesicht.

– Genau, das ist mein wahres Gesicht, jawohl! Endlich bemerkst du das auch mal! Du denkst wohl, du hast für mich Ehre eingelegt, als du so süßsäuerlich gefragt hast, wo das Hühnchen in dem Hühner-Cake her war, als du gesagt hast, dass du nur noch Hühnchen isst, bei dem du weißt, wie es aufgezogen wurde, als ob wir beim Chinesen wären und es könnte womöglich Rattenfleisch sein. Du hättest ja einfach nichts davon essen können, aber nein, du musst das Thema aufs Tapet bringen, musst dich aufspielen und uns unbedingt deine kleine Moralpredigt halten, damit auch ja alle wissen, wie tugendhaft du bist.

Er folgt ihr Richtung Schlafzimmer. Sie will verhindern, dass er es betritt. Unmöglich. Sie setzt sich aufs Bett und nimmt die Haarspangen heraus. Mit minuziöser Sorgfalt legt sie eine nach der anderen in ein Etui, als würde das ihre Aufmerksamkeit voll und ganz beanspruchen.

– Ich hab diese ständigen Einschränkungen so was von über, sagt Jean-Lino, den ihr manisches Hantieren wahnsinnig macht, diesen Terror hab ich so was von satt, wenn ich jeden Tag Huhn essen will, will ich jeden Tag Huhn essen, ohne dass du und deinesgleichen mich anscheißen, wenn ihr nur Körner und Salat fressen wollt, dann macht das meinetwegen, aber lasst andere damit verdammt noch mal in Ruhe.

– Geh aus meinem Schlafzimmer raus.

– Das ist auch meins.

– Du bist völlig besoffen.

– Eins versteh ich nicht, wo nimmst du die Zeit her für das ganze Mitleid? Wenn man schon Mitleid aufbringt, warum dann nicht für Menschen? Die Welt ist schrecklich. Die Leute krepieren vor unserer Tür, und du machst dir Sorgen um Geflügel. Es gibt eine Grenze für Mitleid. Du kannst dir nicht um alles Sorgen machen, es sei denn, du bist eine Heilige oder Abbé Pierre, abgesehen davon war der ein Arschloch, ein großes Herz für Clochards, aber auf die Juden hat er geschissen. Nicht mal der war ein Heiliger.

– Weißt du, was uns von den Tieren unterscheidet?, schreit Lydie. Nicht so viel!

Und sie schnipst mit den Fingern.

– Und jeden Tag wird es weniger. Frag mal deine Wissenschaftlerfreunde.

– Lass mich mit deinen Theorien in Ruhe.

– Die sind nicht von mir!

– Ja, los, los, zieh deine angewiderte Grimasse, verzieh den Mund, diese ganzen Fratzen, mach nur!

– Geh raus, Jean-Lino.

– Das ist mein Schlafzimmer hier.

– Ich will allein sein.

– Dann geh doch selbst raus.

– Sag dem Kater, er soll rausgehen.

– Nein, warum, der wohnt auch hier.

– In meinem Schlafzimmer wohnt der nicht!

– Lass ihn doch, er ist traurig, wenn er ganz allein ist.

– Diese Diskussion hatten wir schon.

– Der Ärmste. Warum hast du mit ihm gar kein Mitleid, wenn die Rechte der Tiere dich so beschäftigen?

Fuori, Eduardo!

– Du brauchst ihn nicht gleich anzuschreien.

– Hau ab, du Idiot!

Der Kater beäugt Lydie herablassend und regt sich keinen Millimeter. Lydie streckt das Bein aus und tritt heftig nach ihm. Der spitze Absatz ihres Gigi-Dool-Pumps trifft Eduardo an der Seite. Er kreischt vor Schmerz auf. Laut Jean-Lino erschüttert sein Maunzen sie beide, aber es ist zu spät. Als Lydie sich nach dem Tier bückt, greift Jean-Lino ihr in den von den Haarspangen befreiten Schopf und biegt ihr den Kopf nach hinten. Sie will sich umdrehen, sich losmachen, aber er weiß schon nicht mehr, was er tut, er hat ihre Haare in beiden Händen und schüttelt sie hin und her. Sie bekommt es mit der Angst zu tun. Er findet sie hässlich. Aus ihrem verzerrten Mund kommt kein verständliches Wort, nur schrilles Kreischen, das ihn zusätzlich irritiert. Jean-Lino will Ruhe. Aus dieser Kehle soll kein Ton mehr kommen. Er packt den Hals. Lydie strampelt. Sie bäumt sich auf. Er hat zu viel getrunken. Er dreht durch. Wer weiß. Er drückt ihr den Hals zu, mit den Daumen, sie soll nachgeben, sie soll sich hinlegen, er drückt zu, bis sich nichts mehr regt.

Er braucht einige Zeit, bis ihm klar wird, was gerade passiert ist. Erst denkt er, sie stellt sich tot, das wäre ja typisch. Sie hat früher schon kleine Anfälle oder Ohnmachten gespielt. Er schüttelt sie behutsam. Er spricht sie mit ihrem Namen an. Er sagt, sie soll aufhören mit dem Scheiß. Er lässt einen Moment in völliger Stille vergehen, damit Lydie denkt, er wäre aus dem Zimmer gegangen. Eduardo spielt das Spiel mit, bleibt absolut reglos, wie Raubtiere das können. Lydie verharrt in ihrer Erstarrung. Und dann machen ihre Augen ihn stutzig. Sie stehen offen. Er glaubt nicht, dass man diesen starren Blick unverändert so lange beibehalten kann. Der Gedanke an den Tod durchzuckt ihn. Sollte Lydie etwa tot sein? Er hält ihr einen Finger unter die Nasenlöcher. Nichts zu spüren. Weder Wärme noch ein Hauch. Dabei hat er doch gar nicht so fest zugedrückt. Er nähert sich ihrem Gesicht. Völlige Stille. Er kneift sie in die Wange, hebt eine Hand hoch. All das tut er scheu und voller Entsetzen. Die Tränen kommen. Er bricht zusammen.

Ich bin weinend über ihr zusammengebrochen, sagte er zu mir. Jetzt war der Tick an seinem Mund wieder da, stärker als vorher. Er entblößte sein Gebiss und bildete mit der Unterlippe ein »u«. Draußen war es noch dunkel, ich konnte es durch das Fenster sehen. Ihr Küchenfenster geht auf den leeren Himmel hinaus. Ich fragte mich, ob Lydie irgendwo da draußen schwebte (und uns durchs Fenster beobachtete). Manchmal beschleicht mich diese alte Angstvorstellung, die Toten könnten uns sehen. Die Schwester meines Vaters war nach ihrem Tod zurückgekommen und hatte den Kronleuchter im Wohnzimmer kaputtgemacht. Wir wussten, dass sie es war, denn sie hatten einander versprochen, dass derjenige, der als Erster starb, danach beim anderen etwas zerschlagen würde, um zu zeigen, dass er im Jenseits weiterlebte. Tante Micheline hatte zu dem Lüster aufgeblickt und gesagt, eins von den Schirmchen da würde ich mir gern mal vornehmen. Am Abend ihrer Beerdigung lag einer der Glasschirme in Scherben auf dem Tisch, ohne jeden Grund. Wahnsinn, das ist Tante Micheline! Aber wo ist sie jetzt?, hatten Jeanne und ich gefragt. Sie sind da, sie sehen alles, sagte meine Mutter. In der Folgezeit verdarb mir Tante Micheline alle meine Heimlichkeiten. Wo auch immer ich mich versteckte, sie war da. Eine Schulfreundin und ich verkrochen uns im Gebüsch, um uns gegenseitig unsere Muschis zu zeigen und anzufassen. Meine Tante beobachtete uns entsetzt. Kein Gebüsch der Welt konnte mich vor Tante Micheline schützen. Ich glaube, mein Vater treibt sich auch noch irgendwo herum. Aber bei seinem Tod war ich erwachsen, da störte mich das nicht mehr. Er war in den letzten Jahren milder geworden, er hatte etwas Unvollendetes an sich. Kurz nach seinem Tod machte ich meinen Doktor in Biologie. Ich freute mich, dass er das sah. Ich hob sogar das Manuskript meiner Arbeit hoch, damit er es betrachten konnte. Ich sagte, Jean-Lino, und was wollten Sie mit Lydies Leiche anfangen?

– In ihre Praxis bringen.

– Ist die weit weg?

– In der Rue Jean Rostand, zwei Minuten mit dem Auto.

– Ihre Psychotherapie-Praxis?

– Ja. Da hat sie gewohnt, bevor wir hier eingezogen sind.

Pause.

– Und dort, was wollten Sie dort tun?

– Da ist ein Fahrstuhl.

– Da hätten Sie sie reingetan?

– Ja.

– Ganz allein?

– Die Praxis liegt im ersten Stock. Da kann ich schnell hochlaufen.

– Und sie wäre angeblich in ihrer Praxis erwürgt worden?

– Jemand hätte sie auf der Straße verfolgt …

Pause. Er deutet das, was dann passiert wäre, mit unkoordiniertem Gefuchtel der Arme an.

– Mitten in der Nacht soll sie allein in ihre Praxis gegangen sein? Nach der Einladung bei uns?

– Wir hätten Streit gehabt, sie wäre weggegangen. Das hat es schon gegeben.

– Um dort zu schlafen?

– Ja. Aber sie kam jedes Mal wieder.

Das hatte er unbedacht gesagt, es löste bei uns beiden ein bedrücktes Gefühl aus. Meine Mutter hatte in ihrem Bett auf einmal ganz flach gewirkt, wie ein erschossener Vogel. Bei Vögeln glaubt man an keine Metamorphose. Man stellt sich bei ihnen keine allerletzte Wanderung vor, sondern akzeptiert das Nichts. Ich stand auf, ging zum Fenster und blickte in die Nacht von Deuil-l’Alouette hinaus. Nicht viel zu sehen, Laternen, Dächer, die Schatten der Gebäude, halb entlaubte Bäume. Eine banale Aussicht, die ebenso gut in zwei Sekunden hätte ausgelöscht werden können. Mir fiel Pierre ein, der uns allein gelassen hatte. Ich drehte mich um und fragte, sollen wir?

– Was?

– Lydie in ihre Praxis bringen? …

– Ich möchte Sie da nicht reinziehen …

– Wir bringen sie runter, ich helfe Ihnen, sie ins Auto zu laden, und verschwinde.

– Nein …

– Wir haben keine Zeit, lange rumzureden. Jetzt oder nie.

– Sie fahren mit ihr runter, das genügt.

– Sie können sie nicht allein ins Auto laden. Wo haben Sie den Koffer?

Er stand auf, ich folgte ihm in das kleine Zimmer, wo vermutlich Rémi sonst schlief, bei uns unten war es Emmanuels Zimmer gewesen. Er schaltete die Deckenlampe an, die ein bläuliches Licht verbreitete. Auf dem Bett lag allerlei Spielzeug. Jean-Lino nahm einen Hartschalenkoffer aus dem Schrank, ein Samsonite-Imitat. Ich fragte, haben Sie keinen größeren?

– Nein.

– Da passt sie auf keinen Fall rein.

– Der Koffer ist groß.

– Machen Sie mal auf.

Er legte den Koffer auf den Boden und öffnete ihn. Ich stieg hinein, versuchte mich hinzusetzen, konnte mich aber nicht einmal ansatzweise hineinfalten.

– Sie sind viel größer.

– Haben Sie keinen anderen?

– Ich glaube, Lydie würde reinpassen.

– Ganz sicher nicht! …

Ich nahm den Koffer, und wir gingen in das Schlafzimmer hinüber. Lydie lag noch ebenso da, ausgestreckt mit ihrem Schal um den Kopf. Wir klappten den Koffer auf, ein Blick, und es war klar, dass sie nicht hineinpassen würde. Mir fiel unser großer roter Stoffkoffer im Keller ein. Ich habe einen, der könnte passen, sagte ich.

Jean-Lino schaute verstört drein und schüttelte den Kopf. Er ging mir etwas auf die Nerven. Keinerlei Initiative.

– Soll ich ihn holen?

– Ich kann das nicht annehmen.

– Das Problem ist nur, der Koffer steht im Keller, und der Kellerschlüssel liegt in der Wohnung.

– Nein, Elisabeth, lassen Sie.

– Ich versuch’s. Wenn Pierre nicht aufwacht, ist es gut.

Ich ging über die Treppe in meine Wohnung hinunter und öffnete sacht die Tür. Ohne Licht zu machen, sah ich nach, ob Pierre noch schlief. Er schnurchelte. Ich schloss die Schlafzimmertür. Im Eingang zog ich die Schublade mit den Schlüsseln auf. Ich wühlte. Der Kellerschlüssel war nicht da. Ich dachte ganz ruhig nach. Dann fiel mir ein, dass ich tagsüber unten gewesen war, um den Hocker zu holen. Dabei hatte ich einen Pullover mit Taschen getragen. Jetzt lag der Pullover im Schlafzimmer auf einem Stuhl. Ich ging wieder zurück, schnappte mir den Pullover, vorsichtig, damit der Schlüssel nicht herausfiel, und hastete die Treppe hinunter. Unser Keller liegt am Ende eines Ganges. Der Boden dorthin ist etwas sandig. Es ärgerte mich, dass ich mit meinen Fellpantoffeln da drüber musste, ich ging auf Zehenspitzen. In dem Koffer steckten noch ein anderer und ein paar Taschen, ich leerte alles aus. Auf dem Rückweg durch den Gang erlosch das Licht. Ich machte es nicht wieder an. Blind stieg ich die steile Kellertreppe hoch und öffnete die Tür zum Hauseingang einen Spalt weit. Kein Licht, kein Mensch. Der Fahrstuhl war da, ich fuhr hoch zu Jean-Lino. Die Wohnungstür stand offen. Das Ganze so schnell wie ein Profi. Ich war ganz schön stolz, wie kaltblütig ich war.

Jetzt lag der rote Koffer aufgeklappt am Fuß von Lydies Bett. Den anderen hatte Jean-Lino weggeräumt. Der rote war größer, nachgiebiger. Jetzt schien es kein unmöglicher Plan mehr zu sein. Auf dem Nachttisch brannte eine hübsche Kerze, er hatte sie angemacht, während ich unten war. Da standen wir beide, ohne ein Wort zu sagen, Jean-Lino wieder mit hängenden Armen und vorgestrecktem Kopf. Worauf warteten wir noch?! Nach einer Weile fragte er, sind Sie katholisch, Elisabeth?

– Ich bin gar nichts.

Er machte die Hand auf, in der ein Kettchen mit einem vergoldeten Medaillon der Heiligen Jungfrau lag.

– Das möchte ich ihr umlegen.

– Bitte.

– Ich kriege den Verschluss nicht auf.

– Geben Sie her.

Die Schließe hatte sich in ein paar Kettengliedern verfangen.

– Das dauert Stunden, sagte ich.

Er rupfte mir den Anhänger aus der Hand und machte sich mit seinen ungeschickten Fingern verbissen daran zu schaffen.

– Wir haben für so was keine Zeit.

Er hörte nicht mehr hin. Genervt fummelte er an der Kette herum, die Hände zwei Millimeter vor der Brille in einer krebsartigen Haltung, den Mund angewidert verzerrt.

– Was machen Sie denn, Jean-Lino!

Er wirkte außer sich. Ich versuchte, seine Hände aufzubiegen, am Ende schlug ich ihn.

– Ich will etwas tun!

– Ja, was denn?

– Ein Ritual …

– Was denn für ein Ritual? … Sie haben eine Kerze angezündet, das ist doch sehr schön so.

– Ich habe den Anfang des Schma Jisrael gesprochen.

– Des was?

– Des jüdischen Gebets.

– Na bitte.

– Aber Lydie ist katholisch.

– Das höre ich zum ersten Mal.

– Sie hat auch an andere Dinge geglaubt, aber es war ihr wichtig, katholisch zu bleiben.

– Dann schlagen Sie ein Kreuz!

– Ich weiß nicht, wie das geht.

– Kommen Sie, Jean-Lino, wir tun sie jetzt in den Koffer!

– Gut. Ich reiße mich zusammen.

Ich stellte mich ans Fußende. Jean-Lino griff unter Lydies Schultern durch. Er sagte, wir müssen sie sozusagen in die Hocke bringen und dann runterschieben. Mir war es sehr lieb, dass er so schnell wieder technisch dachte. Ich hatte noch nie einen Toten bewegt. Berührt und auf die Wange geküsst, das ja. Bewegt nicht. Sie trug keine Nylonstrümpfe, der Kontakt mit der bloßen Haut erschütterte mich, da sie noch warm war. Wir drehten sie ohne Mühe auf die Seite. Dann rollte sie halb auf den Bauch und streckte sich dabei wieder aus, als wollte sie uns necken. Bevor wir sie in den Koffer kippen konnten, mussten wir sie wieder in Hockstellung bringen. Ich spürte, dass Jean-Lino die Operation allein bewältigen wollte. Er kam um den Koffer herum, hob die Oberschenkel an, indem er unter dem Rock hindurchgriff, und zog sie nach vorn, so dass die Knie einknickten. Dann griff er um die Taille, damit auch sie nachgab. Schließlich beugte er ihren Oberkörper nach vorn. Das alles rasch und behutsam. Lydie ließ ihn ohne Gegenwehr gewähren mit ihrem Schal um den Kopf und dem friedlichen Bäuerinnengesicht. Am Ende hätte man sie für ein kleines Mädchen halten können, das in Embryostellung auf dem Bett schlief. Ich spürte, dass Jean-Lino zögerte, sie hinunterzukippen, also bot ich meine Hilfe an, damit sie nicht allzu unsanft in den Koffer fiel. Schließlich lag sie zerzaust und zerknittert darin. Wir mussten sie neu arrangieren und alles in den Koffer zwängen, was über den Rand quoll. Der Eindruck kindlicher Unbeschwertheit war verloren. Lydie war verdreht und zusammengedrückt. Auf dem roten Innenfutter sah das aus dem Schal quellende Lockenhaar aus wie eine merkwürdige Traube Beeren. Wir hatten ihr die Schuhe ausziehen und sie in die Ritzen stecken müssen. Ich sah, wie Jean-Lino litt, und übernahm es, den Reißverschluss zuzuziehen. Um den Koffer aber vollends zu schließen, mussten wir drücken und uns draufsetzen. Das tat ich. Ich spürte, wie die nachgiebige Masse des Körpers unter meinem Hintern zusammensackte. Ich sagte, helfen Sie mir, er nahm den zweiten Verschluss und zog zu.

– Das ist so grässlich.

– Sie ist tot, Jean-Lino, es macht ihr nichts aus.

Er ging nicht ganz zu, auf der Seite blieb eine klaffende Öffnung. Jean-Lino setzte sich ebenfalls auf den Koffer. Ich stand auf, um mich so schwer wie möglich auf den Hintern fallen zu lassen, Jean-Lino desgleichen, wir standen auf und ließen uns fallen und gewannen so einen Zentimeter Reißverschluss nach dem anderen. Am Ende legte ich mich der Länge nach darauf, Jean-Lino in der Gegenrichtung auch, beide fuhrwerkten wir auf den Beulen herum wie mit Nudelhölzern auf Teig. Als der Reißverschluss über die letzten Zähne glitt, waren wir völlig erledigt. Jean-Lino stand vor mir auf. Zehnmal hintereinander strich er seine Haarsträhnen glatt. Jetzt noch Handtasche und Mantel, sagte er und setzte seine Brille wieder auf. Ich folgte ihm ins Wohnzimmer. Lydies Tasche stand weit geöffnet neben dem Sekretär am Boden. Ich warf einen Blick auf den Notizblock neben dem Laptop, entzifferte die Wörter Geschwüre, Kannibalismus, gefolgt von 25.000, dann einem Pfeil mit unterstrichener Beschriftung, Leben und Sterben eines Vogels. Frankensteinartige Manipulationen. Genetisch bedingtes Leiden. Der Stift lag schräg darüber. Die Lampe mit dem safrangelben Schirm brannte. Ich hatte ihre Schrift noch nie gesehen. Diese aus dem Gedächtnis geschriebenen, leicht geneigten Wörter ließen mich Lydies Existenz intensiver spüren als jemals irgendein Moment ihres physischen Daseins. Die Bewegung des Aufschreibens, die Worte als solche und der unbekannte Adressat. Geheimnisvoller noch das Wort Vogel. Das Wort Vogel für ein Geflügel. Jean-Lino hockte vor der Handtasche und kontrollierte den Inhalt. Er nahm das Mobiltelefon vom Tisch und tat es hinein. Eduardo war hergekommen und schaute zu. Mich befiel auf einmal eine schreckliche Angst. Ich begriff absolut nicht mehr, was wir da trieben. Ich hatte das Bild vor Augen, wie ich hier, nur ein paar Stunden war es her, die Petition gegen die Kükenschredderung unterschrieb, einen Stuhl in der Hand, und Lydie Gumbiner öffnete Schubladen auf der Suche nach Dingen, die sie mir geben konnte. Mir schwindelte angesichts des so kurzen Übergangs zwischen Leben und Tod. Eine Bagatelle. Jean-Lino holte den grünen Mantel, den ich gut kannte, aus einem Schrank. Ein langes Modell, russischer Schnitt, schmale Taille und nach unten hin ausgestellt. Ich hatte sie immer in diesem Mantel und in Stiefeletten über den Parkplatz laufen sehen. Alle Winter wieder tauchte irgendwann dieser Mantel auf, das gehörte zum Wechsel der Jahreszeiten in Deuil-l’Alouette. Ich hatte auch einmal einen knöchellangen Mantel getragen, zu Zeiten der Maxi-Mode, an die ich mich aber nie ganz hatte gewöhnen können. Einmal war mir der untere Saum zwischen zwei Stufen einer Rolltreppe in den Galeries Lafayette hängen geblieben. Die Mechanik hatte sich sofort verhakt und einen Notstopp ausgelöst. Ich stand in meinem Mantel da und wartete, dass mich jemand befreite, ohne auf die Idee zu kommen, dass ich ihn ja ausziehen könnte. Jean-Lino ging wieder ins Schlafzimmer. Es rumpelte, dann war aus dem Flur das Geräusch von Rollen zu hören. Mein roter Koffer tauchte in der Tür auf. Gebläht, monsterhaft, der Teleskopgriff maximal ausgezogen.

Fragt man Etienne, wie es mit seinen Augen steht, sagt er alles unter Kontrolle. Den Ausdruck hat er von seinem Vater, einem Polizeipräfekten. Ich habe ihn immer sagen hören, alles unter Kontrolle, auch wenn nichts funktionierte. Die Sache mit seinen Augen ist absolut nicht unter Kontrolle, er hat feuchte Makula-Degeneration, also die schlimme Form, bei der die Spritzen nichts helfen, anders als bei der trockenen. Wir fragen Etienne nicht oft nach seinen Augen. Wir wollen nicht, dass das zum ständigen Thema wird. Andererseits können wir auch nicht umhin, uns Sorgen zu machen. Eine subtile Balance zwischen Zurückhaltung und Aufdringlichkeit. Als er letztes Wochenende allein zu Hause war, meinte Etienne, er könne den Thermostaten der Heizung nach Gefühl regeln, ohne Brille oder Taschenlampe. Er drehte das Rädchen in die falsche Richtung. Als Merle zurückkam, war die Wohnung ein Glutofen. Alles unter Kontrolle dient dazu, ein gerade geöffnetes Kapitel zu schließen. Der Satz sagt überhaupt nichts über die Realität aus, nicht einmal über die seelische Befindlichkeit dessen, der ihn äußert. Es ist eine Art existentielle Habachtstellung, letztlich recht praktisch. Und auch lustig. Der Körper tut, was er will, die Zellen benehmen sich nach Gutdünken. Was ist am Ende wirklich ernst? Jüngst haben wir uns gemeinsam an einen Vorfall aus der Zeit erinnert, als ihr Ältester noch auf dem Gymnasium war. Irgendwann erhielten Merle und Etienne eine Vorladung zum Direktor, in der stand, Paul Dienesmann hätte sich in Auschwitz unmöglich benommen. Etienne ließ seinen Sohn antreten und sagte, sitzend, mit tiefernstem Gesicht – wir lachen immer noch darüber –, anscheinend hast du dich in Auschwitz unmöglich benommen? Genauere Nachfragen ergaben, dass Paul in dem Bus von Krakau nach Birkenau den Kasper gegeben und damit bei seinen Kameraden ein dem Gedenken und der inneren Einkehr nicht dienliches Klima hergestellt hatte. Das Wort innere Einkehr habe ich gefressen. Das Prinzip ebenso. Seit die Welt mit Riesenschritten auf ein unbeschreibliches Chaos zusteuert, ist es schwer in Mode. Politiker und Bürger (noch so ein genial hohles Wort) ergehen sich unablässig in innerer Einkehr. Ich ziehe frühere Zeiten vor, als man noch den Kopf des Feindes auf einen Stecken gespießt nach Hause trug. Nicht mal die Tugend ist ernsthaft. Heute früh rief ich, bevor ich ins Pasteur ging, im Altenheim der Tante an, um mich nach ihr zu erkundigen. Nach dem Gespräch dachte ich, du bist wirklich aufmerksam, du denkst an andere. Zwei Sekunden später dachte ich, wie jämmerlich, wegen einer solchen Selbstverständlichkeit so selbstzufrieden zu sein. Und dann sofort, schau mal, wie selbstkritisch, bravo. Das letzte Wort behält stets der große Beglückwünscher. Wenn Denner als Kind nach der Beichte aus der Kirche Saint-Joseph des Épinettes trat, sog er auf dem Vorplatz immer tief die Luft ein und dachte, ha, jetzt bin ich ein Heiliger. Und dann sofort, während er noch die Stufen hinabschritt, oh Scheiße, Todsünde Stolz. Wie man es auch sieht, die Tugend bleibt nicht intakt. Sie kann nur ohne unser Wissen existieren. Denner fehlt mir. Auf einmal fehlt mir ein Mann, der vor dreißig Jahren gestorben ist. Einer, der nichts von meinem Leben weiß, weder meinen Beruf kennt noch meinen Mann oder meinen Sohn, noch den Ort, an dem ich wohne, oder Orte, die ich gesehen habe, nicht mal mein Aussehen nach all den Jahren. Und auch alles mögliche andere nicht, das wir uns damals nicht hätten träumen lassen. Wenn er heute auftauchte, wir würden uns gemeinsam schieflachen. Über alles. Ob es wohl irgendwo am Himmel einen kleinen Denner-Stern gibt? Manchmal bilde ich mir ein, ich könnte ihn kurz erspähen. Joseph Denner war vier Jahre älter als ich. Groß, muskulös, Anarcho und Säufer. Sein Vater war Koch. Mit vierzehn war er Tellerwäscher am Bahnhof von Colmar. Ich weiß das noch, weil Denner es gern erwähnte. Joseph liebte und bewunderte seinen Vater, aber nicht seine Mutter, die für ihn ein kleinbürgerliches und knickeriges Ungeheuer war. Sie wohnten in drei miteinander verbundenen Dienstmädchenkammern in der Rue Legendre, das Badezimmer diente auch als Küche, sie legten ein Brett auf die Badewanne, als Arbeitsfläche. Ich erinnere mich an ein winziges Wohnzimmer mit schrägen Wänden, dahinter, abgeteilt durch ein stets geschlossenes vergoldetes Gitter, das ebenso winzige Elternschlafzimmer. Dort drin stand in einem Schrank der Schnaps. Über dem Gitter wölbte sich der Türbogen, der Zwischenraum war offen. Mit übernatürlichen Kriechkunststücken glitt Denner horizontal da rein und klaute Whisky. Er hatte zwei Jahre Militärdienst bei einem Strafbataillon in Deutschland abgeleistet. Jetzt schlug er sich als Gitarrist beim Pax Quartet durch, einer mehr oder weniger katholischen Band, die ihn aus Nächstenliebe behielt. Er glaubte an das Abenteuer; während wir im Pub Miquel unsere Carlsberg-Bierchen schlürften, träumten wir gemeinsam vom Bergsteigen, von Machu Picchu und kamen nie weiter als bei nächtlichen Eskapaden mal ans Meer. Er war schnell beleidigt und launisch dazu. Niemand von uns wagte ihm zu widersprechen, wir waren alle jünger als er. Ich habe noch ein paar von seinen Büchern, Vian, Genet, Buzzati. Er liebte diese Autoren. Ich habe die Bücher immer aufgehoben, egal wo ich war, abseits in einer Ecke, neben der kleinen Sammlung Fotobücher, die wir gemeinsam angelegt hatten, Frank, Kertész, Cartier-Bresson, Winogrand, Weegee, Weiss, Arbus (die klauten wir im Buchhandel, in der Librairie Pereire; Denner hatte bei einer Geschäftsauflösung einen Jagdrock mit großer Rückentasche ergattert). Auf manchen Fotos von Garry Winogrand gehen die jungen Frauen mit Lockenwicklern im Haar auf die Straße, darüber ein Kopftuch. Das verleiht ihnen eine schicke Schlagseite ins Nonchalante, Edelnuttenhafte, wirklich sehr sexy. Eine Zeitlang machte ich das auch. Frisuren haben mich immer interessiert. Man kann sich die Welt nicht als solche vorstellen, auch nicht die Menschen. Eine Vorstellung von den Dingen kann man sich nur bilden, wenn man sie berührt hat. Alle großen Ereignisse nähren das Denken und den Geist, wie es das Theater kann. Aber leben kann man nicht von großen Ereignissen oder großen Ideen, nur von alltäglichen Dingen. Ich selber habe in meinem Inneren nur das wirklich behalten, was ich einmal in Reichweite hatte, mit meinen Händen berühren konnte. Alles unter Kontrolle.

Jean-Lino? … Der Koffer war wie von allein bis in den Eingang gelangt. Stille. Ich ging nachsehen. Jean-Lino stand im Flur, ein wenig wie Schattentheater vor dem Licht aus dem Schlafzimmer.

– Alles in Ordnung?

– Elisabeth.

– Sie machen mir Angst.

– Wenn mir irgendwas passieren sollte, Sie sind nicht wieder zu mir hochgekommen. Sie wissen von nichts.

– Gut.

– Und der Koffer ist meiner.

– Gut.

Er zog seine Zara-Lederjacke über und setzte den Hut vom Pferderennen auf. Handtasche und Mantel legte er auf den Koffer.

– Der Typ hätte sicher den Geldbeutel mitgehen lassen …

– Ja. Ich schaffe ihn weg … Ah, Momentchen …

Er ging noch einmal ins Schlafzimmer und kam mit einem Paar Lammfellhandschuhe heraus.

– Gehen wir.

Wir traten aus der Wohnung. Jean-Lino zog die schwere Fracht. Ein paar Augenblicke standen wir regungslos auf dem Treppenabsatz vor der Wohnung und lauschten, um sicherzugehen, dass wir niemanden überhört hatten. Ich rief den Fahrstuhl. Er war sogar noch auf der Etage. Wir schoben den Koffer hinein. Jean-Lino öffnete die Tür zur Seitentreppe. Kein Laut. Wir verabredeten flüsternd, dass ich mit dem Hinunterfahren ein wenig warten würde, so dass wir gleichzeitig unten ankamen. Er schaltete das Licht an und hastete die Treppe hinunter. Ich stieg in den Fahrstuhl, ließ die Tür noch ein wenig offen. Die Kabine ist sehr eng, ich hatte kaum Platz. Der grüne Mantel fiel zu Boden, ich hob ihn auf und klemmte ihn zwischen die Stäbe des ausgezogenen Koffergriffes. Ich wollte die Riemen der Handtasche über den Griff ziehen, aber das ging nicht. Ich ließ die Tür zugleiten und drückte auf EG. Ich betrachtete meine Füße, meine karierte Schlafanzughose, meine Kunstfell-Pantoffeln. Ich fuhr hinunter, allein mit einer Leiche. Keinerlei Panik. Ich fand mich irrsinnig toll. Ich mochte mich. Ich dachte, dir ist ein Platz in der Armee im Schatten oder in der Aktionsdivision des Geheimdienstes sicher. Elisabeth ist wieder da. Erdgeschoss. Jean-Lino erwartete mich schon. Schweratmend und konzentriert. Genauso umwerfend wie ich. Er griff sich den Koffer. Der Mantel fiel wieder hin, ich hob ihn auf. Jetzt trug ich die Handtasche und den Mantel. Auf den Fliesen veranstalteten die Kofferrollen einen grässlichen Lärm. Der Wagen stand gleich draußen, ich sah ihn hinter dem Mäuerchen. Ich hatte den Weg genau geplant, bis hin zum Umrunden der Büsche. Ich drückte auf den Türöffner, Jean-Lino zog die Tür auf und blockierte sie mit dem Koffer. Hinter dem Haus wurde ein Motor gestartet. Dann hörten wir von draußen ein leises Geräusch, schmatzende Absätze auf dem nassen Boden, und sahen von rechts mit gegen den Wind gesenktem Kopf die Tochter von den Leuten aus dem Zweiten ankommen, wohl von einer Party. Jean-Lino machte einen Schritt rückwärts, trat beiseite, um sie durchzulassen. Die Tochter sagte guten Abend, wir erwiderten den Gruß. Sie sprang in den wartenden Aufzug.

Was hatte diese blöde Kuh bemerken können? Alles. Die große Dürre aus dem Vierten hielt einen Mantel und eine Handtasche im Arm, dabei trug sie Fellpantoffeln und einen Hello-Kitty-Schlafanzug, bei ihr war der Typ aus dem Fünften mit Filzhut und Handschuhen, und er zog einen riesigen Koffer. Wer weiß, wohin dieses Duo morgens um drei unterwegs war. Alles. In dem Augenblick, wo er der jungen Frau begegnet, will Jean-Lino so tun, als ob nichts wäre, als könnte diese restlos banale Begegnung keinerlei Störung in seinem Bewegungsablauf verursachen. Nachdem er sie durchgelassen hat, schiebt er den Koffer weiter Richtung Ausgang. Draußen hat er schon fünf Meter zurückgelegt, als ich mich an ihn klammere. Sie hat uns gesehen!