– Was hat sie gesehen?

– Uns. Mit dem Koffer!

– Man darf ja wohl mit einem Koffer rausgehen.

Es regnet wieder, ein scheußliches Geniesel.

– Aber nicht heute Nacht. Heute Nacht sollten Sie zu Hause geblieben sein!

Ich spüre, dass ich ihm auf die Nerven gehe. Er ruckt am Koffer, will weitergehen, ich halte ihn zurück.

– Wer soll sie ausfragen?

– Die Polizei!

– Wie sollen die auf sie kommen?

Ich winde den Mantel wieder um die Stäbe des Griffes und ziehe am Koffer, um ihn zurück ins Haus zu bringen. Er blockiert ihn.

– Weil es Ermittlungen geben wird! Sie werden natürlich die Nachbarn vernehmen.

– Gehen Sie hoch, Elisabeth, ich komme schon zurecht.

– Aber sie hat mich auch gesehen! Unser Plan ist im Arsch!

– Und was sollen wir tun?

Er ist verstört.

– Erst mal wieder reingehen.

– Wegen der blöden Schlampe sitzen wir jetzt in der Scheiße?!

Er schreit. Er tickt aus.

– Die stech ich ab!

– Jean-Lino, kommen Sie …

Er lässt los. Ich packe den Teleskopgriff und ziehe. Der Mantel fällt zu Boden, der Koffer rollt darüber, bremst mich aus und hätte mich fast zu Fall gebracht. Dieser Scheißmantel, der alle zwei Minuten runterfällt! Zurück in den Hauseingang. Der Mantel ist total versaut. Alles ist nass. Jean-Lino hat nichts mehr in den Händen und sieht aus, als hätte er sich als Trapper verkleidet. Er zieht ein plattgedrücktes Päckchen aus seiner Jacke und zündet sich eine Zigarette an. Er sagt, was hatte die blöde Kuh um die Tageszeit hier zu suchen?

– Wir können hier nicht endlos rumstehen.

– Ich stopf der Schlampe das Maul.

– Kommen Sie, wir gehen ins Treppenhaus und denken nach.

Ich zog den Koffer zur hinteren Wand und stellte ihn in die Ecke neben dem Eingang zur Treppe.

– Kommen Sie, Jean-Lino.

Ich fasste ihn beim Ärmel seiner Lederjacke und schob ihn Richtung Treppe. Er ließ es geschehen und ging die wenigen Schritte steifbeinig wie ein Roboter. Ich setzte mich auf die untersten Stufen, dorthin, wo er sich vor Rémi hatte fallen lassen. Jean-Lino sog tief den Rauch ein, wieder diese Mundbewegung, und starrte dabei den Koffer an. Im nächsten Augenblick wankte er zu ihm hin und streichelte ihn mit seinem Lammfellhandschuh. Von links nach rechts, mehrmals, ein stummes Gedicht. Dann sank er wimmernd auf die Knie, schlang die Arme rechts und links um den Koffer und presste die Wange an den Stoff. Er fabrizierte verzerrte Küsse, halb ins Leere. Zwischen uns lag der Türrahmen. Durch diese Umgrenzung erhielt das Bild erst seine ganze Dimension. Abgrund und Sinnlosigkeit. Warum hatte nicht irgendeine Hand diese junge Frau aufgehalten? Ein kleiner Schubs des Himmels, um ihren Aufbruch um eine Minute zu verzögern, sie noch kurz im Auto sitzen zu lassen, noch für einen Satz? Statt Jean-Lino Manoscrivi, den sanftesten aller Männer, und Lydie Gumbiner, klein und zusammengekrümmt in ihrer Festkleidung, hier im kalten Hauseingang im Stich zu lassen? Wer da glaubt, das Leben sei Teil eines geordneten Ganzen, ist fein raus.

Mir war kalt, und ich legte den grünen Mantel wie eine Decke über meine Beine. Jean-Lino hatte den Koffer losgelassen. Er hockte zusammengekauert auf seinen Beinen am Boden, mit hängendem Kopf, die Hände im Nacken gefaltet. Ich wartete eine Weile, dann ging ich zu ihm, legte ihm die Arme um die Schultern und half ihm auf. Dann hob ich seinen Hut und die Brille auf, die auf die Bodenfliesen gefallen waren. Wir begaben uns zu den Stufen, also zwei Meter weiter, setzten uns da hin, wo ich gesessen hatte. Jean-Lino stand sofort auf, um den Koffer zu sich zu holen, er passte gerade so durch die Tür und nahm dann den gesamten Raum am Fuß der Treppe ein. Wir saßen eng beisammen, wir drei, ich hatte den Mantel zum Schutz über uns gebreitet. Das erinnerte mich an die Hütten, die man als Kind baut. Alles muss ganz dicht bei einem sein, Decke, Wände, Dinge, Körper, der Raum muss so klein sein, wie es geht. Die äußere Welt, in der Sturm und Gewitter toben, ist nur noch durch einen Spalt sichtbar.

Er musste mal pinkeln. Das war der erste Satz, den er sagte, ich muss dringend mal pinkeln.

– Dann gehen Sie raus.

Er rührte sich nicht.

– Ich habe zu viel getrunken. Ich habe mich aufgeführt wie der letzte Idiot.

– Gehen Sie nur, Jean-Lino, ich bleibe hier.

Das Treppenhauslicht ging aus. Wir saßen ein wenig im Dunkeln, dann schaltete ich es wieder an. Ich hatte die Eingangshalle noch nie in diesem Licht gesehen und auch die Details nicht. Das Lüftungsgitter, die schmutzigen Scheuerleisten. Ein jämmerliches Fegefeuer. Mir kam ein Satz aus einem Buch von Bill Bryson in den Sinn, Kein Raum ist im Laufe der Geschichte so tief gesunken wie der Hauseingang. Jean-Lino ging hinaus, ich weiß nicht wohin, ich blieb bei dem Koffer sitzen. Ich zog den Mantel über, er war mir viel zu eng, die Ärmel reichten mir bis zum halben Unterarm, und er ließ sich nicht zuknöpfen. Er war ungefähr von derselben Farbe wie der Läufer. Ich überlegte. Was jetzt? Hochgehen und Lydie aufs Bett legen, als ob nichts wäre. Den Koffer nehmen und in meine Wohnung gehen, und Jean-Lino ruft die Polizei. Zwecklos. Die junge Frau aus dem Zweiten hatte uns zusammen gesehen. Was auch immer in dem Koffer gewesen sein mochte, Jean-Lino war aus dem Haus gegangen, nachdem er seine Frau erwürgt hatte, und ich war in die Sache verwickelt. Ich überdachte den Ablauf der Ereignisse. Jean-Lino war zu uns heruntergekommen. Er informierte uns über das Unglück. Wir wollten es nicht glauben. Pierre und ich gingen hoch, um Lydies Leiche zu sehen. Pierre zwang mich, wieder runterzugehen und mich nicht weiter einzumischen. Jean-Lino hatte seine Frau umgebracht. Wir hatten nichts damit zu schaffen. Er sollte die Polizei rufen und sich stellen. Pierre war eingeschlafen, ich wieder hinaufgegangen. Und wenn ich nicht hinaufgegangen wäre? Wenn ich stattdessen zu Hause geblieben wäre, voller Angst (und Neugier), und aus dem Fenster und durch den Türspion nach der geringsten Bewegung gespäht hätte? Warum durch den Türspion? Aus Angst vor einer Irrsinnstat von Jean-Lino Manoscrivi? Nein. Nein. Einfach, weil ich nicht die ganze Zeit am Fenster hängen wollte. Dann und wann sah ich durch den Spion, falls ich draußen etwas verpasst haben sollte. Und so … Und so sah ich den Fahrstuhlknopf blinken. Ich öffnete die Tür, hörte jemanden die Treppe hinuntergaloppieren, rief meinen Freund Jean-Lino. Schnappte mir meine Schlüssel und rannte selbst eilig die Treppe hinab, kam unten an, als er gerade einen dicken roten Koffer zum Ausgang schleifte … Und beschwor ihn, diese Dummheit zu unterlassen. Da kam die Frau aus dem zweiten Stock herein … Immerhin war ich in Pantoffeln und Schlafanzug, durchaus nicht erwartbar bei einer, die möglicherweise plante, in Nacht und Regen hinauszugehen … Das war plausibel. Das sollte glaubwürdig klingen. Auch für Pierre. Nein. Er kannte den Koffer. Den Koffer kannte er bestens. Der gehörte sogar mehr oder weniger ihm. Wie sollte man Pierre erklären, was der rote Koffer hier zu suchen hatte? Ganz zu schweigen von der Fracht. Hatte ich ihn den Manoscrivis für eine bevorstehende Reise geliehen? Oder um etwas zu transportieren? Ja, sehr gut: Ich hatte ihn ihnen geliehen, um etwas in Lydies Praxis hinüberzuschaffen. Ohne Pierre Bescheid zu sagen? Natürlich. Ich setze ja meinen Mann nicht eigens in Kenntnis, wenn ich einen Koffer verleihe. Oder besser … Besser: Wir wussten von gar nichts. Jean-Lino ist nie zu uns heruntergekommen, wir waren nie oben. Ich hatte eine Party veranstaltet. Ich gehe runter, um Müll wegzubringen, und wem laufe ich da über den Weg? In der Eingangshalle? Jean-Lino Manoscrivi! Er schleppt den Koffer hinter sich her, den ich Lydie geliehen hatte … Um den Inhalt schere ich mich nicht? Nein. Jean-Lino sagt, er wolle den Koffer für den nächsten Tag schon ins Auto tun. Da kommt die Nachbarin aus dem Zweiten nach Hause. Sie sieht uns, wie wir gerade aus dem Haus wollen … Ich aber nicht. Ich will nicht aus dem Haus, ich bin rein zufällig dabei und begleite meinen Freund nur zur Haustür. Ganz einfach. Ich brauche nur noch Pierre zu briefen. Er wird verstehen, dass das so zu unserem Besten ist.

Er kam zurück. Ich hörte die Haustür und erkannte seinen Schritt. Er setzte sich wieder neben mich an den beengten Platz, mit pitschnassem Schädel, er hatte den Hut hiergelassen. Es musste jetzt aus Eimern gießen. Seine Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn und standen ab. Er sagte, wie lautet jetzt die Ansage?

– Wir können wieder hochgehen …

Wie sollte ich ihm beichten, in welchem Ausmaß ich ihn im Stich lassen wollte?

– … Aber es hilft nichts, wir werden ja niemals erklären können, was wir beide hier unten wollten.

Er hatte die Handschuhe ausgezogen (sie lugten aus den Seitentaschen der Lederjacke hervor wie zwei wollige Ohren). Tief gebeugt saß er auf der Stufe, seine Stirn berührte fast den roten Stoff, mit den Fingern beschrieb er rätselhafte Kurven. Seine hageren Wangen leuchteten. Erst dachte ich, es sei das Regenwasser, aber er weinte. Als er klein war, nahm sein Vater dann und wann nach dem Abendessen das Buch der Psalmen hervor und las eine Passage laut vor. Wegen des Lesebändchens ging das Buch immer an derselben Stelle auf. Sein Vater kam nie auf die Idee, es woanders einzulegen, und so las er immer dieselben Verse, die vom Exil handelten. An den Wassern zu Babylon saßen wir und weineten, wenn wir an Zion gedachten. Jean-Lino erinnerte sich gut an das Buch, die goldbraune Farbe, das zerfasernde Bändchen und vor allem den Stich auf der Titelseite: Menschen mit ermatteten Gesichtern, halbnackt, sie drängen sich übereinander am Rande eines lauen Gewässers, am Ast eines Baums hängt eine Harfe. Er hatte mir erzählt, dass er nie den Zusammenhang zwischen der Textstelle und der Illustration erkannt habe. Wenn sein Vater die Worte aussprach, hörte Jean-Lino das Grollen des Plurals, den Wassern, er sah dürre Äste, die unter dem Himmel der Niederlage peitschend aneinanderschlugen. Sich hinsetzen und weinen, das bedeutet für ihn, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, allein zu sein und zu warten. Er hatte keine religiöse Bildung erfahren. Die Manoscrivis begingen mit der Familie seiner Mutter manche Feiertage, sahen sie aber vor allem als Gelegenheit, gefilte Fisch zu essen. Jean-Lino begriff den Sinn der vom Vater gelesenen Verse kein bisschen (sein Vater ebenso wenig, meinte er), aber er hörte diese Sätze aus der Vergangenheit gern. So fühlte er sich sogar in der Cour Parmentier als Teil der Geschichte der Menschheit und verbunden mit den Herumgestoßenen, Vertriebenen. Was hatte diese blöde Kuh im Grunde wirklich wahrnehmen können? Ich rief mir die Szene ins Gedächtnis, sah mich selbst dicht hinter der Glastür, hinter Jean-Lino, Handtasche und Mantel im Arm. Handtasche und Mantel im Arm! Lydies Handtasche und den langen grünen Mantel, den das ganze Viertel kannte … Die Version mit dem Müll konnte ich vergessen. Zurück zur vorherigen Fassung. Ja, ich hielt die Handtasche und den Mantel. Ich hatte Jean-Lino beides entrissen, um ihn an einer Dummheit zu hindern. Jean-Lino, murmelte ich, wir müssen die Polizei rufen.

– Ja.

– Ich habe eine bestimmte Idee, wie wir erklären könnten, dass ich auch dabei war …

– Ja …

Ich erläuterte die Geschichte. Warum Lydie den Koffer hatte, wie er völlig aufgelöst zu uns runterkam, unser Besuch oben, um festzustellen, ob sie wirklich tot war, mein Spähen durch den Spion, die Beschwörung im Hauseingang. Er zeigte keinerlei Reaktion, ihm war das alles wurscht. Es ärgerte mich, dass es ihn nicht weiter interessierte, mich aus der Affäre zu ziehen. Er bringt seine Frau um, ich tue alles, um ihm zu helfen, und jetzt, wo es schiefgegangen ist, ist ihm alles wurscht. Ich schüttelte ihn, hören Sie mich, Jean-Lino? Es geht jetzt nicht mehr um Sie, es geht um mich. Es ist wichtig, dass wir dieselbe Version der Sache erzählen.

– Ja, das ist wichtig …

Er wühlt in einer Brusttasche, fördert Fahrscheine und Kugeln aus bunter Alufolie zutage. Und ein undurchsichtiges Blatt mit selbstklebenden Pfeilen, das er mit allem anderen auf den Boden schmeißt.

– Können Sie wiederholen, was ich eben gesagt habe? Was sage ich, wenn ich in den Hauseingang komme und Sie mit dem ganzen Zeug sehe?

– Sie reißen mir die Handtasche und den Mantel weg …

– Und? …

– Und Sie sagen, Sie sind verrückt …

– Nein, das sage ich nicht gleich, erst sage ich: Was tun Sie da? Und was ist in dem Koffer?

Er blickt zu Boden und auf die Papierfetzen.

– Ja …

– Hören Sie mir überhaupt zu, Jean-Lino?

– Sie sagen, und was ist in dem Koffer …

– Und danach sage ich, Sie sind verrückt, tun Sie das nicht!

– Ja, ja natürlich, Elisabeth, ich entlaste Sie völlig, ganz und gar …

Er schüttelt den Kopf, der Tick an seinem Mund ist wieder da, und zwar gründlich. Nicht gerade dazu geeignet, mich zu beruhigen.

– Haben Sie Ihr Handy dabei?

– Nein.

Ich öffne Lydies große Handtasche und nehme ihr Mobiltelefon heraus.

– Wir können das hier nehmen …

– Wozu?

– Um die Polizei zu rufen.

Er betrachtet das Ding. Ein Android mit gelber Klappe und einem Strass-Stein, an dem eine Feder baumelt. Sofort tut es mir leid, dass ich das so unsanft gesagt habe. Alles ist aus den Fugen. Hätte ich nur auf Pierre gehört und wäre in unserer Wohnung geblieben. Jean-Lino wirkt, als wäre er ganz woanders. Eine Zeitlang ist er stumm, dann sagt er mit erloschener Stimme, ich werde also nie das Mückenlabor zu sehen bekommen.

– Eines Tages schon.

– Wann?

– Wenn Sie zurückkommen.

Er zuckt mit den Schultern. Ich hatte versprochen, ihn ins Institut Pasteur mitzunehmen und ihm das Museum zu zeigen, vor allem aber das Insektarium. Jean-Lino war neugierig auf die magischen Orte des Wissens. Er wollte dorthin gehen, wo man Leben studiert. In seinem Einkaufsmarkt verkümmerte er in den Gängen zwischen den großen kalten Biestern: Waschmaschinen, Dunstabzüge, Herde und Tiefkühler bargen keinerlei Geheimnis. Er träumte davon, in die Welt des Lebendigen, Gefährlichen Eingang zu finden. Ich hatte ihm vom Insektarium erzählt, ein paar stickig warmen Räumen im Tiefgeschoss, wo Hunderte Larven in weißen Becken lebten und noch mal so viele Mücken aus der ganzen Welt in mit Gaze verschlossenen Schachteln. Halb Labor, halb Waschküche, aller möglicher Trödel und eine Nähmaschine für die Gazetücher. Ich hatte ihm erzählt, dass wir die Larven mit Katzenkroketten füttern und dass die männlichen adulten Exemplare Zuckerwasser saugen und nicht stechen. Die Weibchen hingegen, hatte ich ihm erklärt, die stechen sehr wohl und laben sich alle drei Tage am Blut einer armen Maus, die wir in ihren Käfig tun. Jean-Lino hatte gerufen, kein Wort davon zu Lydie! Ich hatte erläutert, dass die Maus betäubt war, aber das interessierte ihn schon nicht mehr. In Wirklichkeit wollte er das Privileg eines Besuches in der Höhle der Stechmücken ganz für sich allein genießen und nicht teilen.

– Wir hätten längst hingehen sollen.

– Das holen wir nach.

– Wahrscheinlich arbeiten Sie dann nicht mehr dort.

– Dann kann ich trotzdem noch hingehen.

– Wahrscheinlich leben wir bis dahin nicht mehr.

– Gut, das reicht, wir können nicht die ganze Nacht hier sitzen. Wie geht die Nummer von der Polizei noch mal? 17?

Ich nahm Lydies Mobiltelefon wieder zur Hand und öffnete direkt die Notruffunktion. Da schrie Jean-Lino auf: Eduardo!

Na logisch. Eduardo ließ sich nicht bis in alle Ewigkeit umgehen.

– Um Eduardo wird sich jemand kümmern.

– Wer denn? Der Tierschutzverein? Auf gar keinen Fall, auf gar, gar keinen Fall! Außerdem ist er krank!

– Wir nehmen ihn.

– Sie lieben ihn nicht!

– Aber wir können ihn pflegen. Und wenn er bei uns nicht glücklich ist, geben wir ihn in gute Hände, zu Leuten, die ihn lieben.

– Sie wissen doch gar nicht, wie Sie mit ihm umgehen müssen!

Ich warf das Handy auf den Koffer, stand auf und versuchte, mich aus dem Mantel zu winden.

– Was machen Sie?

– Ich lasse Sie hier sitzen.

Er stand ebenfalls auf.

– Gut, dann bringen wir Eduardo jetzt zu Ihnen.

Seine Wangen hatten sich gerötet, die Augen hinter dem gelben Brillengestell waren weit aufgerissen. Mir war klar, alles gute Zureden würde hier nichts helfen, und ich sagte, gut, aber dann schnell. Wir schlossen die Tür zum Treppenhaus, damit der Koffer nicht zu sehen war (für wen eigentlich, morgens um drei?), und gingen zu Fuß hoch, immer mehrere Stufen auf einmal. In seiner Wohnung angelangt, eilte Jean-Lino direkt in das kleine Zimmer, aus dem er ebenso rasch mit einer Stoffreisetasche wieder herauskam. Wir gingen in die Küche. Er steckte eine Packung Kroketten in die Tasche und erläuterte, dass das nicht diejenigen seien, die Durchfall verursachten, seiner Meinung nach war der Kater geheilt oder wenigstens aus dem Gröbsten raus, nur noch zwei Tage Medizin, die Hefe und die Kapseln gegen die Nierensteine konnte man vergessen, nicht aber das Revigor 200. Das Rezept und ein Zettel mit Namen und Adresse des Tierarztes kamen auch in die Tasche. Dann holte er einen Feliway-Zerstäuber aus dem Schrank und warf ihn in die Tasche, das Spray sollte, sagte er, während wir ins Wohnzimmer eilten, die Wohlfühl-Pheromone ersetzen, so dass das Tier sich in seinem neuen Zuhause geborgen fühlen konnte. Ich verstand nicht mal die Hälfte. Im Wohnzimmer sammelte er Spielzeug auf, Bälle und Gummimaus, dann drehte er sich im Kreise, bis er endlich einen langen Stecken entdeckte, an dessen Ende ein Schwanz aus Leopardimitat und Federn befestigt waren. Er liebt seine Angelrute, sagte er und stopfte alles in die Tasche. Er ist ein Jäger, man muss mindestens dreimal täglich mit ihm spielen, befahl er auf dem Rückweg in die Küche. Können Sie das Katzenklo nehmen? Ich griff mir die Kiste. Jean-Lino hob Eduardo hoch, der zwischen seinen Beinen herumstrich. Und auf einmal sah ich den Tisch, ich sagte, Moment! Meine Zigarette lag im Aschenbecher! Meine kaum angerauchte lange Zigarette. Ich hatte zu viele Gerichtsshows gesehen, um nicht zu erkennen, dass sie mir zum Verhängnis werden konnte. Ich steckte die Zigarette in eine Tasche des Mantels und blickte mich um, ob ich noch weitere Spuren hinterlassen hatte. Eduardo miaute und bleckte seine Katzenzähne. Wir gingen die Treppe hinunter, Jean-Lino voran, ich hinterdrein. Ich öffnete die Wohnungstür. Kein Geräusch. Dann stellte ich das Katzenklo in die Küche und schloss die Flurtür, die zum Schlafzimmer führt. Im Eingang setzte Jean-Lino Eduardo und die Tasche ab. Er entdeckte eine Wandsteckdose und steckte sofort den Feliway-Zerstäuber ein. Er blieb auf allen vieren, mit krummem Rücken in seiner engen Lederjacke, nahm die Schnauze des Katers in die Hände und flüsterte auf ihn ein, dabei rieb er die Nase an seinem Fell. Ich drängte zum Aufbruch, getrieben von der schrecklichen Vorstellung, Pierre könnte auftauchen. Kurz erwog ich, mir andere Schuhe anzuziehen, verwarf das aber als rettungslos idiotisch. Als wir schon gehen wollten, zog Jean-Lino noch ein T-Shirt aus der Tasche, das wohl ihm selbst gehörte, und legte es zusammengedreht vor Eduardo.

Wir nahmen wieder die Treppe. Er ließ seine Füße auf die Stufen sacken wie ein Schlafwandler, saft- und kraftlos. Unten angekommen, setzten wir uns an dieselbe Stelle. Ich nahm Lydies Mobiltelefon zur Hand, und obwohl ich in der ganzen Situation nicht mehr sonderlich durchblickte, sagte ich, Jean-Lino, es muss sein. Außerdem ist der Akku fast alle.

– Wo wollte ich angeblich mit dem Koffer hin?

– Nirgendwohin! Sie wollten nirgendwohin. Sie wissen nicht mal, warum Sie sie in den Koffer getan haben. Sie haben einen Filmriss.

– Filmriss …

Ich wählte die 17 und hielt ihm das Telefon hin. Eine Stimme vom Band sagte, Sie sind mit dem polizeilichen Notruf verbunden, darauf folgte eine kurze furchterregende Ansage. Dann läutete es. Es läutete ohne Antwort. Jean-Lino legte auf.

– Da nimmt keiner ab.

– Unmöglich. Versuchen Sie es noch einmal.

– Und was soll ich sagen? … Ich habe meine Frau umgebracht?

– Nicht, ich habe meine Frau umgebracht, nicht einfach so.

– Was dann?

– Machen Sie es etwas förmlicher. Sagen Sie, ich rufe an, weil mir etwas furchtbar Dummes passiert ist …

Er ruft wieder an. Erneut die Ansage. Ihr Anruf wird aufgezeichnet, Missbrauch wird verfolgt. Gleich meldet sich eine echte Frau. Polizeilicher Notruf, ja bitte? Jean-Lino starrt mich entsetzt an. Ich vollführe eine jener Gesten, die das Gegenüber beruhigen sollen. Völlig zusammengekrümmt, den Kopf dicht auf den Knien, sagt Jean-Lino, ich rufe an, weil mir etwas furchtbar Dummes passiert ist …

– Und was?, fragt die Stimme.

– Ich habe jemanden umgebracht …

– In welcher Gemeinde befinden Sie sich?

– Deuil-l’Alouette.

– Ist Ihnen die Adresse bekannt, an der Sie sich aufhalten?

Jean-Lino antwortet leise. Die junge Frau lässt ihn den Namen der Straße wiederholen. Sie fragt, ob es seine eigene Wohnadresse sei. Sie wirkt ruhig und freundlich.

– Befinden Sie sich in einem Gebäude oder auf öffentlichem Gelände?

Hinter ihrer Stimme ist das Klickern einer Tastatur zu hören.

– Ich bin im Hauseingang.

– Im Eingang des Hauses, in dem Sie wohnen?

– Ja.

– Gibt es einen Türcode?

– Ich weiß nicht mehr …

– Sind Sie allein?

Jean-Lino richtet sich auf. Kopfloser Schrecken. Ich bedeute ihm, er solle mich erwähnen.

– Nein …

– Wer ist bei Ihnen?

Meine Lippen artikulieren stumm Nach-ba-rin.

– Meine Nachbarin.

– Nur eine Person.

– Ja.

– Monsieur, was ist passiert? …

– Ich habe meine Frau umgebracht …

– Ja, und? …

Er dreht sich zu mir um. Mir fällt nichts ein, was ich ihm soufflieren könnte.

– Wo ist Ihre Frau? Ist sie in diesem Moment bei Ihnen? …

Er versucht zu antworten, aber kein Laut kommt heraus. Seine Unterlippe hat sich wieder in Bewegung versetzt, ein ununterbrochenes Wabbeln. Wie der Unterkiefer eines Molchs.

– Wie heißen Sie, Monsieur?

– Jean-Lino Manoscrivi.

– Jean … Lino?

– Ja …

– Sind Sie bewaffnet, Jean-Lino?

– Nein. Nein, nein.

– Ihre Nachbarin auch nicht?

– Nein.

– Haben Sie Alkohol oder Drogen zu sich genommen? …

– Nein …

Er sieht, dass ich pantomimisch darstelle, mit ein paar Freunden ein Gläschen zu trinken.

– Ein wenig Alkohol …

– Nehmen Sie Medikamente zur Behandlung einer psychischen Erkrankung? …

Das Gespräch brach ab. Der Akku war leer. Jean-Lino blickte das schwarze Display an, dann klappte er die Hülle zu und zog das Kettchen des Strass-Steins um das gelbe Plastiketui, um die Feder an den rechten Platz zu bringen. Ich legte ihm den Arm um die Schultern. Jean-Lino setzte seinen Hut auf. Als säßen wir wartend in einer Ecke auf dem Bahnhof. Mit dem langen, zu engen Mantel, den Pantoffeln aus Kunstfell und dem unförmigen Koffer. Zigeuner auf der Durchreise. Bereit, sonst wohin verfrachtet zu werden. Er sagte, die Frau war aber nett. Ich sagte, ja, die war nett. Und er, was soll ohne mich nur aus ihr werden, also aus meiner Tante? Sie hat nur mich, sonst niemanden.

Niemanden haben. Die Helden von The Americans wirken, als hätten sie niemanden. Das kennzeichnet sie. Sie befinden sich am Rande der Straßen, der Bänke und Säle, auf der Suche nach etwas, das sie nicht finden werden. Dann und wann einmal stehen sie strahlend in einem vergänglichen Licht. Sie haben niemanden. Der Zeuge Jehovas hat niemanden. Er geht mit seiner Aktentasche durch die Straßen, sie ist randvoll mit Zeitschriften, die Tasche lässt ihn erwachsen aussehen und dient ihm als Ziel. Wenn man mit der Gewissheit aufwächst, dass man niemanden hat, kann man sich später nur schwer umgewöhnen. Selbst wenn jemand deine Hand nimmt und sich um dich kümmert, kommt es kaum jemals vor. An Sonn- und Feiertagen schickten Jean-Linos Eltern ihn in der Avenue Parmentier auf den Hinterhof. Da schlug er dann die Zeit tot. Hockte auf dem Pflaster und grub Rinnen, wo Gräser sprossen, oder bastelte mit Kleinteilen herum, die der Uhrmacher weggeworfen hatte. Andere Kinder waren nicht da. Niemanden haben, das bedeutet nicht einmal sich selbst haben. Wenn dich jemand liebt, liefert er dir damit einen Existenznachweis (oder Konsistenznachweis). Auch wenn man sich allein fühlt, kann man nicht ohne eine gewisse soziale Fabel leben. Als ich zwölf wurde, erwartete ich, dass die Liebe mir meine verlorene Hälfte wiedergäbe (die wir angeblich besaßen, bevor Zeus uns in zwei Hälften zerteilte), da ich aber ungewiss war, ob so etwas je eintreten würde, setzte ich außerdem noch auf Ruhm und Ehre. Ich war ziemlich gut in Naturwissenschaften, also entwarf ich für mich eine Zukunft als Forscherin: Mein Team hatte ein revolutionäres Mittel zur Epilepsie-Behandlung entwickelt, und ich erhielt eine weltweite Auszeichnung, à la Nobelpreis. Jeanne war meine Managerin. Sie saß auf dem Bettsofa, neben sich Rosa, eine Puppe, die Thérèse Parmentolo darstellte – eine Mitschülerin, die unter dieser Krankheit litt –, lauschte meiner Ansprache und unterbrach sie bisweilen durch Applaus. Hinterher kam Thérèse Parmentolo (die ich ebenfalls darstellte) zu mir, um sich zu bedanken. Manchmal frage ich mich, ob nicht alles, was wir sind, auf einer Abfolge von Imitationen und Projektionen beruht. Obwohl ich dann doch keine Forscherin wurde, sondern zu etwas Zuflucht genommen habe, das mehr Sicherheit versprach, höre ich oft, ich hätte mich aus meiner Gesellschaftsschicht hochgearbeitet oder sei über meine Lebensbedingungen hinausgewachsen. Wie idiotisch. Ich bin einfach bloß vor der Inkonsistenz geflohen. Die Leute rufen beim Polizeinotruf an, um sich zu unterhalten, weil sie sonst niemanden haben, das hat mir ein Gesetzeshüter verraten, wortwörtlich. Das betrifft sogar die Mehrzahl der Anrufe bei der 17. Sie hatten eine Frau, die mehrmals pro Woche anrief. Vor dem Auflegen sagte sie jedes Mal, grüßen Sie die Truppe von mir. Joseph Denner spielte mir immer melancholische Stücke auf der Gitarre vor. Céline von Hugues Aufray oder Eleanor Rigby von den Beatles, das er mit seiner schwachen Stimme beinahe völlig zersang; schlechte Aussprache und ohne ein Wort zu verstehen, All the lonely people … Where do they all belong … Ich war all diese Heimatlosen. Grüßen Sie die Truppe von mir. Als wäre sie jemand, der zu dieser Truppe dazugehören könnte.

Dann sagt Jean-Lino, wir hätten Rémi zu den Mücken mitnehmen können. Er holt sein Päckchen vor, schüttelt eine Zigarette heraus und nimmt sie mit den Lippen. Er ist klein und zart. Die lange Nase zeigt spitz gen Boden, die gelbe Brille passt nicht zum Hut. Man könnte immer noch über ihn lachen. Der Rauch steigt am Koffer entlang und hüllt uns ein. Hüllt das narbige Gesicht ein, hüllt die Gedanken ein, die Welt wird zu einer riesengroßen dunstigen Masse. Dann hörten wir von draußen Stimmen, jemand schlug an die Glastür. Ich stand auf. Ich trat über die Schwelle der Tür zur Seitentreppe. Sie waren da. Drei Typen hinter der Eingangstür. Ich glaube, sie sind da, sagte ich und ging aufmachen. Drei Männer kamen herein, gekleidet mehr oder weniger wie Jean-Lino, nur weniger poetisch. Polizei. Sie sprachen sofort Jean-Lino an, der von hinten aufgetaucht war. Er hatte seinen Hut abgenommen, trug ihn in der Hand, den Arm hielt er peinlich berührt abgeknickt vor dem Leib. Sie sind Monsieur Manoscrivi?, fragte einer der Beamten.

– Ja …

– Sie haben den Notruf angerufen??

– Ja …

Uniformierte Polizisten drängten hinterdrein. Eine Frau und zwei Typen, mit ihren Mützen.

– Sie haben Ihre Frau umgebracht? … Wo ist Ihre Frau jetzt?

– In dem Koffer …

Er deutete zum Treppenhaus, und zwei der Männer gingen nach dem Koffer sehen.

– Sie rühren sich nicht von der Stelle. Sie kommen mit auf die Wache. Und Sie auch, Madame.

Sie legten uns Handschellen an. Die Frau tastete mich am ganzen Körper ab und durchsuchte die Taschen von Lydies Mantel. Münzen, ein Stofftaschentuch und die Zigarette, die ich bei Jean-Lino geraucht hatte. O Gott. Aber nein, nicht weiter schlimm, die kannst du hier unten auf der Treppe geraucht haben, während wir auf die Polizei gewartet haben. Einer der Gesetzeshüter sagte zu mir, kommen Sie, Madame, unterhalten wir uns ein wenig. Er nahm mich beim Arm, um mich aus dem Haus zu führen. Ich sagte, wo gehen wir hin?

– Zum Einsatzfahrzeug.

– Kann ich mich umziehen?

– Im Augenblick nicht, Madame.

Die Frau sprach in ein Walkie-Talkie. Ich hörte »Wir haben den Hauseingang betreten. Der Verdächtige hat bestätigt, dass er seine Frau getötet hat. Die Leiche soll sich in einem Koffer befinden. Eine weitere Person war bei ihm, wir haben die Befragung beider Personen begonnen und werden beide mitbringen. Wir bräuchten hier vor Ort noch wen von der Kripo.« Ich sagte, wo werden wir hingebracht?

– Auf die Wache.

– Zusammen? Ich deutete auf Jean-Lino.

Ohne eine Antwort zog der Polizist mich mit.

– Ich hab gar keine richtigen Schuhe an!

– Das macht nichts, dann brauchen wir Ihnen keine Schnürsenkel abzunehmen.

Jean-Lino verschwand beinahe zwischen den Männern.

– Sehe ich ihn dort wieder?

– Kommen Sie, kommen Sie, wir müssen jetzt los.

– Aber nachher sehe ich ihn?

– Das weiß ich nicht, Madame.

Er wurde immer ungeduldiger. Ich rief mit einer Stimme, die ich von mir selbst nicht kannte, in einem schrillen, reißenden Ton, der nur mit ungewohnter Mühe herauskam und mir regelrecht weh tat, Jean-Lino, bis gleich! Der Bulle drehte mich um, schob mir die Hand unter den linken Arm und stieß mich an der Schulter nach draußen. Mir war so, als würde ich bei den Männern hinten eine Bewegung wahrnehmen, als sähe ich flüchtig Jean-Linos Gesicht, hörte vielleicht sogar meinen Namen, aber sicher bin ich nicht. Mit gesenktem Kopf ging ich im Griff des Mannes über den regennassen Parkplatz, die karierte Pyjamahose rutschte, sie war mir etwas zu weit, aber ich konnte sie nicht hochziehen. Da stand auch schon das Polizeiauto, quer in der Einfahrt. Er ließ mich hinten rechts einsteigen und setzte sich auf die andere Seite. Dann nahm er Stift und Notizbuch heraus. Er fragte mich nach Namen, Adresse, Geburtstag und -ort. Er notierte das alles sorgfältig und langsam. Ein Drittel der Seite wurde von einer Illustration eingenommen, weiß auf schwarzem Grund, sie zeigte einen Schlüssel und den Schriftzug BRUET, Schlosser/Glaser. Ich sagte, und wer benachrichtigt meinen Mann?

– Wir werden Sie in Gewahrsam nehmen und Sie über Ihre Rechte belehren.

Ich begriff nicht ganz, was das heißen sollte. Oder was es mit Pierre zu tun hatte. Aber ich war zu müde, um es verstehen zu wollen.

– Sie haben eine Partnerschaft mit einer Schlosserei?

– Die geben uns gratis Notizbücher, um Reklame für sich zu machen.

– Aha …

– Eigentlich arbeiten wir mit Vertragsunternehmen. Aber das hindert sie nicht daran, uns ständig welche rüberzuschieben.

– Wozu brauchen Sie einen Glaser?

– Zu nichts. Diese Unternehmen machen beides, Glaserei und Schlosserei. Wir kriegen auch Kugelschreiber und Kalender von ihnen … Die Kalender sind gut gemacht, man kann sie auch als Notizblock nehmen. Gar nicht dumm!

Er griff sich in die Brusttasche und zog einen blau-weiß-roten Kugelschreiber mit einem anderen Logo heraus.

– Der kommt von der Konkurrenz … Ich gebe ihn Ihnen nicht, das wäre sinnlos, auf der Wache wird Ihnen sowieso alles abgenommen.

– Die wollen wohl öffentliche Aufträge bekommen?

– Pff, keine Ahnung. Die machen eben Reklame. Hier, da hab ich noch einen … Die wollen damit auf sich aufmerksam machen … Uns kommt das zupass, wir sind so mies ausgestattet, da steht die moldauische Polizei noch besser da …

Mir gefiel, wie ruhig der junge Mann war, wie gelassen gegenüber meiner Situation. Ein etwas rundlicher Junge in Emmanuels Alter, bartloses Gesicht, kurzrasierte Haare. Große, helle Augen, sie waren ein wenig gerötet. Er tat mir wohl. Einen Moment lang war ich versucht, den Kopf an seine Schulter zu lehnen. Dann versuchte ich, durch die Glasscheibe in den Hauseingang zu spähen, aber der Winkel war ungünstig, das Licht der Straßenlaterne störte. Ich sah zu unserer Wohnung hoch. Bei den Manoscrivis brannte noch Licht. Bei uns war alles dunkel, aber ich konnte das Schlafzimmer nicht sehen, es geht zur anderen Seite hinaus. Mir fiel der Kater ein, der irgendwo stecken musste, und fragte mich, wo ich wohl die überzähligen Gläser unterbringen sollte, die jetzt noch auf der Truhe aufgereiht standen. Dieser Wahn mit den Gläsern, das konnte man doch keinem erklären. Nachdem ich mich in Sachen Stühle beruhigt hatte, musste ich durch Deuil-l’Alouette zum Bus laufen, zum Discounter fahren und fünf Schachteln Ballongläser anschaffen, davon zwei in Sondergröße, als Burgundergläser ausgewiesen, außerdem zwei Schachteln Champagnerflöten, dabei hatte ich ja schon die Élégance-Flöten. Diese Gläser standen jetzt alle in Wartestellung auf einem lächerlichen Deckchen, diese Gläser für verschiedene Zwecke, als hätten wir Gäste, die in diesen Dingen pedantisch sind und die ich in meiner Verspießerung zufriedenstellen wollte, all diese Gläser würden in keinen Schrank passen, dazu kamen auch noch die aus der Spülmaschine, und der Gedanke an sie suchte mich heim, sie ballten sich zu einem monströsen Bild und bildeten Knäuel der Panik. Aber das sind, so dachte ich, während ich durch die regennasse Scheibe auf den Parkplatz spähte, das sind wahnhafte Sorgen und Erwartungen, wie sie alten Menschen zu schaffen machen. Sich von einem hypothetischen Problem stressen lassen. Meine Mutter holte schon zweihundert Meter vor der Bushaltestelle ihren Fahrschein hervor. Sie ging weiter, den Fahrschein gezückt, fest mit ihrem Wollhandschuh gepackt. Desgleichen mit dem Geld in egal welcher Kassenschlange beim Einkaufen. Das kann mir auch passieren. Man muss sich für jede Eventualität rüsten, das Gelände sichern. Wenn meine Mutter für ein paar Tage nach Achères (hinter Asnières) zu ihrer Cousine fuhr, stand der Koffer eine Woche vorher bereits offen da, die ersten Sachen schon darin. Das mache ich auch so, mit einem kaum vernünftigeren Vorlauf. Fast gleichzeitig trafen zwei Wagen ein. Männer stiegen aus. Eine Art Menschentraube bildete sich vor dem Hauseingang. Ich fragte, wer ist das?

– Der Kriminalkommissar und die SpuSi.

– Die SpuSi?

– Spurensicherung.

Die Traube löste sich auf. Zwei Uniformierte kamen auf uns zu, die anderen gingen ins Haus. Die Typen in Jeans und Lederjacke kamen gleich wieder heraus und eilten zu dem Zivilfahrzeug, kurz sah ich Jean-Lino, kleiner als die anderen, in Zara-Jacke und Bundfaltenhose. Die Türen knallten, der Wagen fuhr los, beleuchtet und geräuschvoll.

Trauben bilden sich, Trauben lösen sich auf. So kann man das Leben der Menschen beschreiben. Wir fuhren ebenfalls los, mit dem Notruf-Wagen. Ich sah uns in den Fensterscheiben, mit Blaulicht und Sirene. Es hat etwas Irreales, wenn man sich selbst so rasend schnell vorbeifahren sieht, wie wenn der eigene Zug sich in einem anderen spiegelt. Auf der Wache wurde ich ins Untergeschoss verfrachtet und auf eine metallene Bank gesetzt, an der Handschellen festgeschweißt waren. Jetzt war ich nur noch an einer Hand gefesselt. Ich wartete eine Weile, dann wurde ich in ein Büro geführt, wo man mir sagte, ich hätte das Recht zu schweigen, einen Arzt hinzuzuziehen, einen Anwalt und meine Familie zu benachrichtigen. Ich bat darum, dass Pierre angerufen würde. Ich sagte, ich hätte keinen Anwalt, sie könnten nehmen, wen sie wollten. Eine Frau durchsuchte mich nochmals und fuhr mir mit einem Wattestäbchen durch die Mundhöhle. Im Flur fragte sie mich, ob ich auf die Toilette wolle, bevor ich hinter Gitter käme (hinter Gitter!). Primitive Hockklos. Vor wenigen Stunden hast du in deinem schwingenden Rock eine Orangentarte geschnitten, dachte ich. Ich betrat die abgeschabte Zelle. Eine Sitzbank an der Rückwand, auf dem Linoleumboden eine Matratze, darauf eine zusammengefaltete orange Decke. Die Frau sagte, ich könne mich jetzt ein wenig ausruhen, bis der Anwalt komme, so gegen sieben Uhr. Sie verschloss die Tür mit einem bemerkenswerten Krachen und Scheppern von Riegeln und Schlössern. Die Wand zum Flur inklusive der Tür bestand aus nichts als Glas und Gitterstäben. Ich setzte mich auf die Bank. Ob Jean-Lino hier irgendwo in der Nähe war? Und die arme Lydie in ihrem Koffer … Der Schal schief, die Haare wild durcheinander, der Rock zerdrückt. All dieser Zierat, von einer Sekunde auf die nächste unnütz geworden. Die roten Gigi Dools, ins Grab geworfen. Vor einem Monat ist ein Kollege von Pierre gestorben, Etienne rief an, um Pierre zu benachrichtigen, aber ich nahm ab. Er sagte, Max Botezariu, sagt dir das was? – Ich erinnere mich an den Namen. – Er ist gestorben. In der Metro tot umgefallen. Ich sagte, schöner Tod. – Ach ja, wünschst du dir für dich selbst so einen Tod? – Ja. – Willst du ihn nicht lieber kommen sehen, dich vorbereiten können wie bei La Fontaine, der sich nahen fühlt’ den Tod, rief seine Kinder? – Nein. Ich habe Angst vor dem Verfall. Am anderen Ende herrschte kurz Stille, dann sagte er, trotzdem, es ist besser, im Kreise seiner Lieben einzuschlafen. Oder vielleicht besser nicht. Ich legte mir die orange Decke über die Knie. Sie kratzte. Ich schlang mir die Mantelschöße um die Beine, als Trennschicht.

Dann wollen wir mal … In dem Verschlag, in dem die Unterredung mit dem Anwalt stattfindet, ist alles grau. Bodenfliesen, Wände, Tisch, Stühle. Alles. Die beiden Stühle sind am Boden festgeschraubt, der Tisch auch. Kein Fenster. Grässliches Licht. Vorher hatten sie mir noch einen Karton Orangensaft und einen trockenen Keks gegönnt. Gilles Terneu, Rechtsanwalt. Er hatte langes, nach hinten gebürstetes meliertes Haar, dazu eine säuberlich getrimmte Kombination von Oberlippenbart und Goatee. Ein gepflegter Mann, hätte meine Mutter gesagt, der schon im Morgengrauen auf seine korrekte Erscheinung achtet. Ich schämte mich ein wenig wegen meiner Kitty-Hose und der Pantoffeln, vor allem aber wegen des Mantels, der nur bis zum halben Unterarm reichte. Er öffnete seine Aktentasche, holte Notizblock und Stift heraus, dann sagte er, gut … Madame, wissen Sie, aus welchem Grund Sie hier sind? So erschöpft ich auch war, das wusste ich immerhin noch. Ich schilderte ihm den Hergang. Also das heißt die minimale offizielle Version.

– In was für einer Verbindung genau stehen Sie zu diesem Mann, Madame?

– Wir sind befreundet.

– Madame, vergessen Sie nicht, dies ist eine Kriminalsache. Die Ermittler werden peinlich genau nachforschen. Auch in Ihrem Privatleben. Glauben Sie nicht, Sie könnten in diesem Stadium etwas verschweigen. Es würde doch irgendwann rauskommen.

– Wir sind befreundet.

– Befreundet.

– Er ist ein Nachbar, mit dem ich mich angefreundet habe.

– Hatten Sie einen Verdacht?

– Wie meinen Sie?

– Als Sie durch den Türspion geschaut haben.

– Als mein Mann zu ihm sagte, er solle die Polizei rufen, da wirkte er so zögerlich auf mich …

– Sie waren nicht sicher, ob er tatsächlich die Polizei rufen würde …

– Nein … Ich war nicht völlig sicher, dass er die Polizei rufen würde … Und als ich sah, dass der Fahrstuhl hinunterfuhr … ich hatte nichts gesehen oder gehört, auch draußen nicht, ich schaute auch aus dem Fenster …

– In Nachtkleidung?

– Ja.

– Und Ihr Mann? Hat er nicht gehört, dass Sie hinuntergehen?

– Mein Mann schlief.

– Schläft er immer noch?

– Ich weiß nicht. Ich habe darum gebeten, ihn zu benachrichtigen.

– Hat Ihr Mann Zweifel, was die Natur Ihrer Verbindung zu diesem Mann angeht?

– Nein. Nein, nein.

– Uns steht hier und jetzt nicht viel Zeit zur Verfügung, Madame, wir haben eine halbe Stunde, und danach werden Sie von den Polizeibeamten befragt, möglicherweise auch mit Ihrem Nachbarn konfrontiert, Monsieur …

– Manoscrivi.

– Manoscrivi. Wir müssen natürlich hoffen, dass die beiden Versionen sich nicht widersprechen … Denken Sie, er könnte etwas anderes sagen?

– Nein … Es gäbe keinerlei Grund dazu.

– Gut. Anwaltlicher Rat läuft meist darauf hinaus, gegenüber der Polizei möglichst wenig zu sagen, um nicht unnötig auf eigene Äußerungen festgelegt zu werden. Nun gut, Ihre Version klingt plausibel, vielleicht tun Sie gut daran, auszusagen. Ich meine damit, über die Einzelheiten zu sprechen. Aber, Madame, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass alles, was Sie da gleich sagen, Ihnen später als Erstaussage entgegengehalten wird.

– Es entspricht aber der Wahrheit … Da ist noch eine Sache, von der ich Ihnen nicht erzählt habe … Sie ändert nichts, aber ich will alles erzählen … Eigentlich sind es sogar zwei Punkte … Unten, als ich unten im Hauseingang war und ihn überreden wollte, dass er die Polizei ruft, da kam eine Nachbarin …

– Sie kennen die Frau?

– Ja, eine junge Frau, wir grüßen uns, die Tochter der …

– War sie nicht überrascht, Ihnen um drei Uhr früh zu begegnen?

– Sie grüßte uns, sie war ganz offenbar ausgegangen …

– Ist Ihre Freundschaft im Hause bekannt?

– Das weiß ich nicht … Ja, wahrscheinlich.

– War sie überrascht?

– Nein, nein, überhaupt nicht.

– Die Situation war ziemlich banal.

– Banal. Sie wollte ganz offensichtlich ins Trockene, sie ging schnell in den Aufzug, das Ganze hat zwei Sekunden gedauert. Nur eine kurze Begegnung … Und das andere: Bevor er die Polizei rief, wollte Monsieur Manoscrivi seinen Kater in Sicherheit bringen. Also sind wir wieder hochgegangen, haben das Tier geholt und in unsere Wohnung gebracht. Der Kater ist jetzt bei uns.

– Sie nehmen aber doch sehr regen Anteil am Leben dieses Mannes …

– Ja …

– Und Sie bleiben dabei, es ist nichts als Freundschaft.

– Ja.

– Denken Sie nicht, Sie haben vielleicht Spuren einer Verbindung hinterlassen, die von einer anderen Natur ist, als Sie es beschreiben?

– Nein.

– Sie haben sich nicht vielleicht Mails geschrieben? Ihr Posteingang wird untersucht werden.

– Nie eine Mail.

– Und was glauben Sie, empfindet er vielleicht etwas … Sind Sie auf derselben Wellenlänge?

– Dazu kann ich nichts sagen, aber er hat nie etwas Derartiges …

– Es gibt keinerlei materiellen Beweis dafür, dass es eine Liebesbeziehung war, die Sie jetzt umdeklarieren als …

– Keinerlei.

– Ihr Mann zum Beispiel ist nie eifersüchtig auf diese Beziehung gewesen?

– Niemals.

– Sie haben keinerlei Grund, diesem Mann bei etwas zu helfen, das man als kriminell bezeichnen müsste?

– Aber nein.

– Man wird Sie fragen: Sie erfahren, dass dieser Mann seine Frau umgebracht hat … Wie weit wären Sie gegangen, wenn er Sie um Hilfe gebeten hätte?

– Er hat mich nicht um Hilfe gebeten.

– Wenn er Sie gebeten hätte …

– … was denn für eine Hilfe?

– Nein, Madame. Darauf müssen Sie antworten: Ich habe ihm nicht geholfen, der Beweis: Ich habe ihm zugeredet, die Polizei zu rufen. Wer hat bei der Polizei angerufen? Er oder Sie?

– Wir beide.

– Was meinen Sie mit wir beide? Wer hat das Telefon gehalten?

– Er. Ich habe die 17 gewählt und ihm das Telefon gegeben …

– Ah! Sie haben die 17 gewählt.

– Ja.

– Wenn die Nachbarin Sie nicht gesehen hätte, hätten Sie dann die 17 gewählt?

– … ja, natürlich.

– Madame, mit dieser Antwort sollten Sie nachher nicht zögern.

– Ja. Natürlich.

– Das ist wichtig.

– Ja, ja.

– Also. Sie wussten, dass er fliehen wollte …

– Nein, das wusste ich nicht.

– Als Sie hinuntergingen …

– Als ich den Fahrstuhlknopf blinken sah, habe ich gerufen. Ich habe gerufen, und weil keine Antwort kam, obwohl der Fahrstuhl direkt unter mir war, und ich wusste, dass man mich hören konnte, habe ich die Tür zum Treppenhaus aufgemacht. Da hörte ich schnelle Schritte, und ich weiß, dass Monsieur Manoscrivi die Treppe benutzt, als Einziger im Haus. Da dachte ich, was geht da vor. Ich bin runtergegangen, habe die Tür zum Hauseingang geöffnet und gesehen, wie der große rote Koffer aus dem Fahrstuhl kam. Da war mir klar, was los war … Weil der Koffer so riesig und ausgebeult war … Aber als ich hinunterging, wusste ich nicht, was mich erwartete …

– Allerdings warteten Sie auf die Polizei, die aber nicht kam.

– Genau … Aber im Fahrstuhl hätte jemand anderer sein können …

– Und da haben Sie sofort gesagt: Hör auf damit!

– Ja. Nein, ich habe gesagt: Was machen Sie da? Was ist in dem Koffer?

– Schon bevor Sie der jungen Nachbarin begegneten, haben Sie sofort versucht, ihn zu überreden, dass er nicht flieht.

– Als Allererstes habe ich ihm die Tasche weggerissen, er trug eine Handtasche, und auf dem Koffer lag ein Mantel, ich habe beides an mich genommen, ich habe gesagt, was machen Sie da, sind Sie wahnsinnig geworden! Und dann kam die Nachbarin … Dass sie kam, hat es dann leichter gemacht …

– Hat er Ihnen gesagt, dass seine Frau sich in dem Koffer befindet? …

– Nein … Ich erinnere mich nicht … Das war irgendwie klar.

– Und Sie hatten keine Mühe, ihn zu überreden …

– Ich hatte keine Mühe, äh … Nein … Ich hatte keine Mühe, ihn zu überreden.

– Aber ohne Ihr Eingreifen wäre er verschwunden.

– Das kann ich nicht wissen.

– Die Nachbarin, war die für ihn entscheidend? Wenn sie nicht gekommen wäre, dann wäre es Ihnen nicht gelungen, ihn zu überreden?

– Das kann ich nicht beantworten.

– Sie wissen es nicht.

– Nein.

– Seit wann kennen Sie einander?

– Seit drei Jahren.

– Ein freundschaftliches Verhältnis.

– Ja. Wir sind Freunde.

– Eine sehr nahe, intime Freundschaft? … Voller Vertrauen?

– Nein … Wir siezen einander.

– Hat er Ihnen von den Schwierigkeiten mit seiner Frau berichtet?

– Nein. Es gab keine. Glaube ich jedenfalls. Er hat nie etwas in der Richtung gesagt.

– Wie ist Ihr Verhältnis zu seiner Frau?

– Sehr herzlich. Sie war auch bei meiner Einladung. Es war sehr angenehm.

– Sie können sie gut leiden?

– Ja …

– Wie verhält man sich zu einem Paar, wenn man mit einem von beiden befreundet ist? Sind Sie sicher, dass es nie … Halten Sie es für möglich, dass seine Frau eifersüchtig war angesichts Ihres guten Verhältnisses zu dem Mann?

– Er hat mir ein wenig davon berichtet, was nach der Einladung vorgefallen ist, und das hatte mit mir nichts zu tun …

– Nichts?

– Nichts.

– Haben Sie das Ehepaar heute zum ersten Mal eingeladen?

– Ja …

– Also eine besondere Beziehung zu dem Mann, die aber nicht auf Vertraulichkeiten beruht.

– Nein.

– Worauf denn dann?

– Sie beruht auf Vertraulichkeiten, aber die beziehen sich auf Dinge aus der Vergangenheit … aus der Kindheit, seiner und meiner, auf das Leben im Allgemeinen, aber über unsere Ehen haben wir nie gesprochen. Wir haben auch schon etwas zu viert unternommen, mit meinem Mann. Lydie trat als Sängerin in Jazzclubs auf, das war ihr Hobby, und Jean-Lino hat uns mitgenommen. Wir haben das alle sehr genossen.

– Also eine Beziehung ohne alle Heimlichkeiten … Madame, seien Sie mir nicht böse, wenn ich noch einmal nachhake. Sollte man entdecken, dass es sich mit dieser Freundschaft doch nicht so verhält, wie Sie es beschreiben, dann würde es für Sie ab dem Moment sehr schwierig werden.

– Unsere Beziehung ist geklärt.

– Ihr Mann wird vernommen werden. Wird er Ihre Aussage bestätigen, was die Natur dieser Beziehung betrifft?

– Gewiss doch.

– Sie sind da ganz sicher, Sie schließen aus, dass Ihr Mann in irgendeiner Weise Eifersucht äußert? Sie wissen ja, eine freundschaftliche Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau kann …

– Nein. Keine Eifersucht.

– Verzeihen Sie die Frage, Madame, aber ist jemals strafrechtlich gegen Sie ermittelt worden?

– Nein.

– Und gegen Ihren Mann?

– Auch nicht.

– Und Ihren Nachbarn?

– Nein. Nicht, dass ich wüsste, nein.

– Sind Sie sicher?

– Was meinen Mann und mich angeht, ja.

– Und Sie vertrauen Ihrem Nachbarn voll und ganz?

– Ja.

– Wie haben Sie reagiert, als Sie erfuhren, dass er seine Frau getötet hat? … Haben Sie sich um ihn gesorgt? Angst um ihn gehabt?

– Ja.

– Aber Sie glauben, seine Gründe für die Tat, die er Ihnen angegeben hat, können vor Gericht bestehen … Sie dachten, es ist für ihn besser, sich zu stellen?

– Ja. Ich glaube, da hat sich etwas Irrsinniges abgespielt. Vielleicht hängt es mit dem Verlauf der Einladung bei uns zusammen, wir hatten ja alle ein bisschen getrunken … Ich halte das für einen ganz schrecklichen Unfall. Eine Handlung im Affekt. Er hatte ganz sicher nicht die Absicht, seine Frau umzubringen.

– Es ist also besser, er sagt aus.

– Oh ja.

– Können Sie sich vorstellen, dass er Sie der Mithilfe zur Flucht beschuldigen könnte? Oder, den Leichnam seiner Frau verschwinden zu lassen?

– Nein.

– Madame, in dem Moment, da Sie beide zusammen gesehen werden, Sie mit dem Mantel, der Tasche, kann der Eindruck entstehen, Sie wollten ihm helfen. Diesen Eindruck müssen wir beseitigen. Er kann Sie da tatsächlich nicht beschuldigen?

– Nein.

– Wessen könnte die junge Nachbarin Sie beschuldigen?

– Die Nachbarin kann nur sagen, was sie gesehen hat. Und ich werde es bestätigen. Sie hat uns beide im Hauseingang gesehen, er nah an der Tür, ich hinter ihm, mit dem Mantel und der Tasche.

– Unterhielten Sie sich gerade?

– Nein. Wir hatten sie kommen gehört. Wir sagten nichts. Ehrlich gesagt waren wir wie versteinert. Ich war versteinert, immerhin befand sich eine Tote in dem Koffer.

– In der Tat.

– Ich war versteinert um seinetwillen, aber auch um meinetwillen, um offen zu sein. Mir war natürlich bewusst, dass das eine Situation war … eine Situation, in der ich mich besser nicht befunden hätte. Umso mehr, als der Koffer uns gehört.

– Der Koffer gehört Ihnen?

– Ja. Ich hatte ihn Lydie vor ein paar Tagen geliehen. Sie wollte Sachen in ihre Praxis bringen.

– Haben Ihre Nachbarn keinen Koffer?

– Sie wollte Wäsche und Kissen transportieren, die viel Platz brauchen. Ein zusätzlicher großer Koffer, das sollte ihr einen Weg ersparen.

– Und wusste Ihr Nachbar von dieser Leihgabe?

– Keine Ahnung. Er wird den Koffer in seiner Wohnung gesehen haben.

– Gut. Ich erinnere Sie daran, alles, was Sie gleich der Polizei erzählen, wird protokolliert und für Sie künftig verbindlich sein. Alles hängt von Ihrer Ehrlichkeit ab und von Ihrer Überzeugungskraft. Ihre Darstellung ist schlüssig. Sie wirkt wahrhaftig. Aber ich weise Sie darauf hin, dass die Ermittlungen sehr umfänglich sein werden, man wird Ihre Wohnung durchsuchen, Ihren Mann vernehmen … Was sind Sie von Beruf, Madame?

– Ich bin Patentingenieurin am Institut Pasteur.

– Sind die Gäste Ihrer Einladung Zeugen irgendeines Vorfalls gewesen? Irgendwelcher Differenzen bei dem Ehepaar? Sie werden ganz sicher befragt werden.

– Ich weiß nicht … Ich habe etwas mitbekommen, aber ich weiß nicht, ob ich es erwähnen sollte … Ich weiß nicht, was er dazu sagen würde …

– Hören Sie, Madame, wenn Sie den Eindruck vermitteln, nicht kooperativ zu sein und Dinge zu verschweigen, um ihn zu schützen, dann begeben Sie sich auf ein Terrain, wo …

– Gut, also das Gespräch kam irgendwann auf ein Thema, das ihr sehr am Herzen lag, ich erzähle es Ihnen, Herr Anwalt, obwohl es lächerlich wirken könnte, es ging um Bio-Hühnchen. Er hat sich über sie lustig gemacht, weil sie mal in einem Restaurant den Kellner gefragt hatte, ob das Huhn auf einem Ast gesessen hat, also ich meine, ob es ein normales Leben geführt hat, so was in der Art … Er wollte die Runde mit der Schilderung amüsieren, und danach konnte man spüren, dass es zwischen den beiden etwas frostig war.

– Sie nehmen an, dass der Konflikt an diesem Punkt begann.

– Das ist möglich … Als sie zu Hause waren, hat sie ihm vorgeworfen, sie vor den anderen gedemütigt zu haben. Der Streit wurde hitziger, und irgendwann, ich kann es nicht erklären – er wird das besser können als ich –, hat sie dem Kater einen Fußtritt gegeben … Er hat sie gepackt, hat zugedrückt …

– Sie wollen sagen, die beiden streiten sich, weil sie Tierrechte verteidigt, und dann bringt er sie um, weil sie dem Kater einen Fußtritt verpasst.

– Ich glaube, dass Tiere mit alldem nichts zu tun haben. Ich meine, sie waren sich im Grunde nicht uneinig … Wenn ein Ehepaar sich streitet, dann dienen Meinungen oft als Vorwand … Ich glaube nicht, dass sie dem Kater weh tun wollte. Er wollte sie angreifen, aber doch nicht umbringen. Vielleicht ist sie ja auch an einem Herzanfall gestorben. Er ist kein Verbrecher, er ist ein sehr sanfter Mann.

– Sie tun sich keinen Gefallen damit, Madame, wenn Sie ihn so engagiert verteidigen.

– Ich sage es ja nur Ihnen.

– Gut, aber es ist nicht notwendig, derart seine Partei zu ergreifen. Sie hatten gutnachbarschaftliche Beziehungen, aus denen freundschaftliche wurden. Sie kommen ihm zu Hilfe, damit er nicht vor seiner Verantwortung flieht, denn das fänden Sie noch schlimmer. Punkt. Ihnen muss klar sein, Sie sind der Beihilfe zum Mord verdächtig und darüber hinaus, eine Leiche verschwinden zu lassen.

– Was droht mir dafür?

– Sie sind nicht vorbestraft. Sie haben eine feste Arbeit. Alles hängt davon ab, was er sagt. Ist Ihr Mann benachrichtigt worden?

– An sich schon.

– Und was wird Ihr Mann sagen? … Warum haben Sie, als Sie in der Wohnung dieses Mannes waren, nicht sofort verlangt, dass er die Polizei ruft?

– Wir haben es verlangt. Also mein Mann hat es verlangt.

– Und Sie sind wieder in Ihre Wohnung gegangen, obwohl er die Polizei noch nicht gerufen hatte?

– Er sagte, er wolle allein sein, er brauche einen Moment. Mein Mann fand auf einmal, wir hätten da nichts zu suchen, wir hätten unsere Pflicht getan und es sei nicht unsere Aufgabe, die Polizei zu rufen. Dann gingen wir runter.

– Warum kam Monsieur Manoscrivi eigentlich zu Ihnen herunter, nachdem er seine Frau umgebracht hatte?

– Ich glaube, er hielt es allein nicht aus …

– Wissen Ihre Arbeitskollegen von ihm?

– Nein.

– Und Ihr Verhalten während des Abends gab nicht den geringsten Anlass zu …

– Nein.

– Die Nachbarin kann nicht von einem zweideutigen Verhalten berichten? Sie standen nicht zu dicht beieinander, als sie Sie sah?

– Nein. Also in normaler Entfernung zueinander.

– … die Polizei könnte folgenden Verdacht schöpfen: Der Umstand, dass die Nachbarin Sie gesehen hat, hat Sie gezwungen, die Polizei zu verständigen, was Sie eigentlich gar nicht vorhatten. Was können Sie dagegen vorbringen?

– Was sollte ich denn da wollen in Schlafanzug und Pantoffeln, ohne alles …?

– Wie viel Zeit lag zwischen dem Moment, als Sie hinuntergingen, und dem, als er die Polizei rief?

– Eine halbe Stunde vielleicht … wenn überhaupt. Gerade so viel, um ihn zu überreden, den Kater zu holen und zu uns zu bringen.

– Also hat doch das Auftauchen der Nachbarin ihn bewogen, sich zu stellen.

– Da könnte ich nicht das Gegenteil behaupten.

– Waren Sie oft in seiner Wohnung?

– So gut wie nie. Einmal vielleicht. Ja, heute. Ich meine, gestern, mit Lydie, um Stühle zu holen. Sie hat mir für die Einladung Stühle geliehen.

– Gut. Man wird Sie einem Verhör unterziehen. Das wird nicht unbedingt ein Vergnügen, möglicherweise wird man versuchen, Sie aus der Fassung zu bringen, oder zwei Leute auf einmal befragen Sie, es gibt zwar keinen Verdacht auf Mithilfe bei dem Delikt selbst, aber doch hinterher, also dass Sie versucht haben könnten, den Leichnam verschwinden zu lassen und so weiter. In dem Teil sollten Sie also wachsam sein. Dass Ihre Aussagen schlüssig sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Sie über die erlaubten vierundzwanzig Stunden hierbehält. Wenn Monsieur Manoscrivi Ihre Version bestätigt und Ihr Mann nichts äußert, was irgendwie für Verwirrung sorgt, dann sollten Sie heute Abend wieder draußen sein.

Ich war am frühen Abend wieder draußen. Pierre kam mich abholen. Er war am Nachmittag vernommen worden. Ich gab den grünen Mantel ab. Ich war frei. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Jean-Lino seinen Alleingang bestätigt. Jetzt war er verschwunden, von einem schwarzen Loch verschluckt. Im Auto machte Pierre ein saures Gesicht. Statt mich zu trösten. Er wirkte abgespannt und traurig. Er sagte, diese Geschichte gefalle ihm nicht. Ich sagte, kaum vorstellbar, dass die irgendwem gefällt. Er fragte mich, was ich wirklich gemacht hätte.

– Das, was ich erzählt habe. Niemand versteht, wie du hast einschlafen können, sagte ich.

– Ich war hinüber, ich hatte zu viel getrunken.

– Vom Badezimmer hast du nichts gesagt?

– Du scheinst mich wirklich für saublöd zu halten.

– Ich hatte Angst, du könntest es tun, um mir aus der Patsche zu helfen …

– Hast du ihm geholfen!?

– Nein!

– Dann erklär mir das mit dem Koffer. Gib mir eine gute Erklärung.

– Den hab ich Lydie geliehen, die wollte ein paar Sachen in ihre Praxis schaffen.

– Wann?

– Ich weiß nicht genau … Vor ein paar Tagen.

– Er sieht einen Koffer bei sich herumstehen, er denkt, ach schau, die Größe passt, da tu ich meine Frau rein?

– Das konnte ich nicht vorhersehen.

– Mein Delsey, verdammte Scheiße!

– Tut mir leid …

– Und der Kater, na bravo. Ich hätte fast einen Herzschlag gekriegt. Dann hätte es heute Nacht zwei Tote gegeben.

Kurz bevor die Polizei ihn anrief, war er aufgestanden, um mich zu suchen. Im Eingang war er auf etwas Weiches getreten. Eduardos Schwanz, der unter einer Kommode hervorschaute. Eduardo stieß einen schrillen Schrei aus. Zu Tode erschrocken betätigte Pierre den Lichtschalter und entdeckte den Kater, der ihn seinerseits entsetzt beäugte, die Schnauze flach am Boden, der Leib unter der Kommode. Als wir auf dem Parkplatz ankamen, blickte ich am Haus hoch. Unser Stockwerk, das darüber. Die Äste der Mimose schwankten sacht. Ich sagte, wer kümmert sich jetzt um die Pflanzen?

– Was für Pflanzen?

– Lydies Balkonbepflanzung.

– Niemand. Die Wohnung ist versiegelt worden.

Das fand ich furchtbar. Die Mimose, die Krokusse, die Knospen, das ganze keimende Leben, das ich am Vorabend in den verschiedenen Kübeln gesehen hatte. Und ich sah sie vor mir, Lydie, wie sie sich über ihren kleinen Garten beugt und die unfassbar weiße Krokusblüte zwischen die Finger nimmt, um sie mir zu zeigen. Wir stiegen aus. Der Laguna stand noch am selben Platz. Der Hauseingang war leer. Unpersönlich wie gehabt. Wir nahmen den Aufzug. Unsere Wohnung war pikobello. Pierre hatte die Küche geputzt und einen Platz für das Katzenklo frei gemacht, der Tisch war für zwei gedeckt. So etwas Liebes hatte ich nicht erwartet. Und endlich konnte ich weinen.

Ich weiß nicht, wie oft ich danach noch verhört wurde. Die Ermittler von der Polizeiwache, die von der Kriminalpolizei, der Persönlichkeitsermittler (er nannte sich anders, ich habe vergessen, wie; mir blieb schleierhaft, ob er meine Persönlichkeit erforschte oder die von Jean-Lino), der Untersuchungsrichter. Zum Hergang gab es immer mehr oder weniger dieselben Fragen. Mit ein paar Varianten. Warum wir dem mutmaßlichen Täter einen Cognac angeboten hätten, statt seiner Frau zu Hilfe zu eilen? Ob wir den Leichnam berührt hätten? (Gott sei Dank hatte ich ihr den Schal umgebunden, ich sagte auch, ich hätte ihre Beine berührt, während Pierre den Puls suchte.) Der Untersuchungsrichter, ich kann ihn gut leiden, fragte mich wortwörtlich, wie es komme, dass mein Mann nichts Besseres zu tun hatte, als ins Bett zu gehen, wo er gerade die Leiche seiner Nachbarin entdeckt hatte? Und natürlich kehrte, wie vom Anwalt vorhergesagt, in allerlei verschiedenen Formulierungen die Frage wieder, was wir getan hätten, wenn nicht ein Dritter dazugekommen wäre? Ein Gebiet aber gab es, das Gilles Terneu nicht sondiert hatte und auf dem alle bis zum Erbrechen herumritten, nämlich mein Vorleben. Was steckte hinter der Erzählung dieser Frau, Elisabeth Jauze, geboren als Elisabeth Rainguez in Puteaux? In der Bullensprache nennt man das offenbar das vollständige Persönlichkeitsprofil. Alles, was man sorgfältig begraben hat, wird ans Licht gezerrt. Alles, was man jemals ausradiert hat, muss man fein säuberlich wieder hinschreiben. Kindheit, Eltern, Jugendzeit, Studium, Wege und Abwege. Mit einem lächerlichen Eifer beugten sie sich über mein Leben. Das ist jedenfalls mein Eindruck. Ein lächerlicher Eifer, um falsches Material zu fabrizieren. Eine kleine soziologische Fingerübung, die sie den Akten beiheften werden und die nichts aussagt. Außer dass die Justiz ordentlich gearbeitet hat. In mir aber rief das bestimmte Bilder wach, ich wusste gar nicht mehr, dass sie noch irgendwo schlummerten. Das Café in Dieppe, die große schlafende, für das Fest geschmückte Film-Jukebox, die wir im Nebel aufweckten, ich hatte nicht gewusst, dass ich das noch in mir trug. Man kann nicht erkennen, wer die Leute sind, wenn man von der Landschaft absieht. Die Landschaft ist von kapitaler Bedeutung. Die Landschaft ist unsere wahre Herkunft. Das Zimmer und der Stein ebenso wie der Ausschnitt des Himmels. Das in Außenaufnahmen zu sehen hatte Denner mich gelehrt: wie die Landschaft den Menschen beleuchtet. Und wie dieser umgekehrt ein Teil von jener ist. Und ich kann sagen, dass ich an Jean-Lino genau das immer so gemocht habe, nämlich die Art, wie er die Landschaft in sich trug, ohne sich je dagegen zu wehren.

Am nächsten Tag ging ich ins Büro, als ob nichts passiert wäre. Ich aß mit Danielle in der Kantine. Am Telefon hatten wir einander nur mitgeteilt, dass es einiges zu erzählen gebe. Wir fanden einen Platz am Fenster, wir stellten unsere Tabletts ab, ich sagte, so, wer fängt an?

– Du.

– Du wirst auf deine Kosten kommen.

Sie war ganz Ohr.

– Erinnerst du dich an das eine Ehepaar von Samstagabend, eine Frau mit orangeroter Mähne und ihr Mann?

– Ja, eure Nachbarn.

– Unsere Nachbarn. Er hat sie in der Nacht erwürgt.

– Sie ist tot?

– Tja.

Jeder andere hätte eine betrübte Miene aufgesetzt. Nur meine gute Danielle nicht, die strahlte.

– Neeein!?

Sie wusste nichts von meiner freundschaftlichen Verbindung zu Jean-Lino. Ich berichtete von der Nacht (die offizielle Version, versteht sich). Ermutigt von ihrer wohltuenden Oberflächlichkeit, bemühte ich mich um eine effektvolle Schilderung. Das Klingeln, der Kater, der Koffer, der Hauseingang, die Polizisten, die vergitterte Zelle … Hin und wieder sagte Danielle, ja Wahnsinn, oder etwas in der Art. Sie war hingerissen.

– Und was habt ihr mit dem Kater vor?

– Keine Ahnung. Ich habe nicht den geringsten Draht zu ihm.

– Ihr könnt ihn meiner Mutter unterjubeln.

– Deiner Mutter? …

– Sie wohnt in Sucy im Erdgeschoss, mit einem kleinen Rasenstück davor, das Tier wird sich wohl fühlen.

– Und deine Mutter?

– Das wird sie ein bisschen von Jean-Pierre ablenken. Sie liebt Katzen, sie hatte schon öfter welche.

– Sprich mit ihr …

– Ich rufe sie heute Abend an.

– Und bei dir so? … Mathieu Crosse? …

Ich hatte den Namen noch nicht ganz ausgesprochen, da überfiel mich schon das Bedauern. Das hier war Klatsch gegen Tratsch als Begleitmusik zur Zitronentarte, der durchgeknallte Nachbar gegen den potentiellen Liebhaber. Pardon, Jean-Lino. Aber Danielle ist feinsinnig. Statt die Nacht von Samstag auf Sonntag en détail zu schildern und dem typisch weiblichen Hang zur farbigen Schilderung einer amourösen Anekdote nachzugeben, bei der noch dem kleinsten Wort oder unbedeutendsten Detail Gewicht verliehen wird, spielte sie die Sache herunter. Etwas, das uns hätte Spaß machen oder eine unerschöpfliche Erzählung hätte sein können, wurde zu einer beinahe traurigen kleinen Geschichte. Sie hatte Mathieu Crosse in ihrem Wagen mitgenommen und vor dem Haus, in dem er wohnte, in zweiter Reihe geparkt. In höflicher Zurückhaltung (wegen ihrer, so meinte sie, Beinahe-Trauer) hatte er sie nicht aufgefordert, mit hochzukommen. Von dieser Rücksicht gerührt und nach ein paar unbeholfenen Umarmungen von Autositz zu Autositz hatte sie ordentlich eingeparkt. Er gestand ihr, dass sein sechzehnjähriger Sohn über das Wochenende bei ihm wohnte. Der Junge war ausgegangen, konnte aber jederzeit nach Hause kommen. Eins ergab das andere, irgendwann saßen sie in der Wohnung wie zwei Einbrecher, voller Angst, ertappt zu werden. Gegen vier Uhr morgens kam der Junge, sie musste das Feld räumen und trollte sich mehr oder weniger verwirrt nach Hause. Gefällt er dir denn?, fragte ich.

– Ich weiß nicht.

– Lügnerin.

– Ich mag ihn.

Ich informierte sie, dass die Kripo sie ebenso wie Mathieu und alle anderen Gäste als Zeugen vernehmen würde. Sie war alles andere als dagegen.

Als Einziger legte Georges Vapereau keine Überraschung an den Tag. Die Frau hat doch geradezu darum gebettelt, dass man sie totschlägt, sagte er. Claudette El Ouardi legte kurz ihre Zurückhaltung ab und meinte, sie habe schon bemerkt, dass bei den Manoscrivis etwas nicht ganz rund laufe. Das sei ihr bereits vor der Tür aufgefallen, als er sich mit einem fast unverständlichen Scherz einführte. Später sei ihr seine euphorische Begeisterung peinlich gewesen, als Gil Teyo-Diaz Mimi aufzog. Seine Darstellung des flatternden Hühnchens habe sie irritiert, weil das so ordinär war, aber auch wegen des Themas. Dass die Sache so furchtbar enden könnte, habe sie zwar nicht gedacht, aber schon gespürt, dass diese Clownerie von Irrsinn umweht war. All das sagte sie mit unbewegter Stimme am Telefon, und mir wurde klar, wie viel näher ich mich jemandem wie Jean-Lino fühlte als einer Claudette, deren Förmlichkeit ich bislang auf eine Art wissenschaftliche Introvertiertheit zurückgeführt hatte, jetzt aber erschien sie mir plötzlich beklagenswert konformistisch. Jeanne hatte, bevor sie ein langes Elend wurde und ihre Berufung aufgab, Ballettunterricht genommen. Mit meinen Eltern besuchte ich eine Vorstellung am Schuljahresende. Sie absolvierte vorn auf der Bühne ein kleines Solo, das von allen beklatscht wurde. Danach gab es noch Erfrischungen im Speiseraum des Jugendzentrums. Meine Eltern trafen auf andere Eltern, die ihnen allerlei Komplimente machten. Mein Vater war so etwas nicht gewohnt. Er wollte sich mit Scherzen aus der Affäre ziehen. Erst lächelten die Leute höflich. Ich spürte, dass seine Witze ziemlich daneben waren, aber er kam immer mehr in Schwung und schien es nicht zu bemerken. Irgendwann lachte er mit roten, geblähten Nasenlöchern, er hoffe, bald könne er sie auf der Straße tanzen lassen und einen Hut dazustellen. Da wandten die Leute sich ab, und wir vier standen allein da. Ein anderes Mal hatte mein Musiklehrer aus dem Gymnasium einen Ausflug ins Olympia zu einem Konzert von Michel Polnareff organisiert. Mein Vater fuhr mich und zwei Klassenkameradinnen mit deren Mutter dorthin. Im R4 von Sani-Chauffe, den wir immer benutzten, sagte er, ich wüsste aber ganz gern mal, warum das staatliche Schulsystem euch da hinschickt, dass ihr diese Schwuchtel beklatscht! Als meine Freundinnen in die Pubertät kamen und er einer von ihnen bei uns begegnete, tätschelte er ihr den Hintern oder griff ihr an die Brust: Hoho, da wächst ja ganz schön was, bald bist du ein großes Mädchen, Caroline! Die Freundin lachte krampfhaft, ich sagte, na hör mal, Papa! Er kicherte, was denn, ich prüfe die Ware, da ist doch nichts dabei. Heute würde er direkt in den Knast wandern. Ich habe mich oft für meinen Vater geschämt, habe es aber nie über mich gebracht, gegen ihn zu sein. Mich haben Allerweltsmenschen noch nie interessiert. Abgesehen von Danielle und danach Emmanuel und Bernard haben wir niemandem Genaueres über die Sache erzählt. Über meine Beteiligung oder meinen Aufenthalt auf der Wache habe ich zu keinem Menschen etwas gesagt. Nicht mal zu Jeanne, die sowieso viel zu sehr von ihrer erotischen Leidenschaft in Anspruch genommen ist. Catherine Mussin sagte als Einzige die Ärmste, als von Lydie die Rede war. Die anderen sahen den Vorfall als abstrakt schrecklich an und interessierten sich vor allem für Details und Beweggründe. Ich muss gestehen, dass es mir ein gewisses Vergnügen bereitete, darüber zu berichten. Übermittler einer Sensationsnachricht zu sein ist durchaus nicht unangenehm. Aber damit hätte man es bewenden lassen sollen. Wieder auflegen und sich in keinerlei Tratsch verwickeln lassen. Es ist nichts Reines in den menschlichen Beziehungen. Die Ärmste. Ich frage mich, ob das Wort passt. Eigentlich lassen sich die Kriterien unseres Daseins nur auf Lebende anwenden. Einen Toten zu bedauern ist absurd. Schicksalhaftes allerdings kann man bedauern. Die Mischung aus Leid und wahrscheinlicher Sinnlosigkeit. Ja. In diesem Sinn passt die Ärmste. Die Ärmsten kann ich sagen über meinen Vater, meine Mutter, Joseph Denner, über das Paar aus Savannah und den Zeugen Jehovas vor der gewaltigen Wand, über manche Toten, schwarz auf weiß aus meinen Büchern, über die auf San Michele neben den künstlichen Blumen wie Könige Herausgeputzten, die zu Lebzeiten, das ahnt man, auch nicht immer auf Rosen gebettet waren, die zahllosen Unbekannten von früher, all jene, deren Tod von den Gazetten in den absoluten Nonsens gezerrt wird. Mir kommt ein Satz in den Sinn, den Jankélévitch über seinen Vater sagte, Welchen Sinn soll dieser Spaziergang haben, der ihm am Firmament des Schicksals auferlegt wurde? … Muss man Lydie Gumbiner als arm bezeichnen? In ihrer bunten Welt hatte Lydie Gumbiner über den Scherereien des Lebens gestanden. Wenn ich an sie denke, sehe ich sie unweigerlich in Bewegung, sie läuft wie eine kleine, eilige Frau von George Grosz mit schwingender Kleidung über den Parkplatz, oder sie klopft sich aufs Dekolleté, von ihrem Haar umwirbelt. In ihrem Faltblatt hatte sie geschrieben, Stimme und Rhythmus sind wichtiger als Wörter und Sinn. Lydie Gumbiner hatte gesungen, gekämpft, ihr Pendel geschwungen, auf ihre Weise hatte sie das Nichts bemäntelt.

Danielles Mutter erklärte sich bereit, Eduardo aufzunehmen. Wir verabredeten, ihn am nächsten Sonntag nach Sucy-en-Brie zu bringen. Mittlerweile hatte ich auch etwas erledigt, das mir auf dem Herzen lastete. Nach genauer Betrachtung der Fassade unseres Hauses ging ich zu Monsieur Aparicio im sechsten Stock, einem ausgesprochen wortkargen pensionierten Postbeamten. Als ich an der Tür der Manoscrivis vorbeikam, sah ich die Wachssiegel und den gelben Aufkleber, in der Zeile Vergehen stand Totschlag. Monsieur Aparicio ist weitgehend kahl, aber sein Nackenhaar ist zu einem schütteren Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein kleines modisches Detail, das mich zu meinem Schritt ermutigte. Ich erläuterte ihm meinen Plan, bei ihm einen Gartenschlauch mit Gießpistole anzubringen, um damit von seinem Balkon aus die Pflanzen der Manoscrivis zu gießen. Ich möchte Ihnen nicht zumuten, das selbst zu tun, Monsieur Aparicio, sagte ich, ich komme selber hoch und erledige das, wenn ich darf, so zweimal die Woche, zu einer Tageszeit, die Ihnen passt, frühmorgens oder abends. Ein paar Minuten später, nachdem er sich meine Ansprache angehört hatte, bat er mich herein. Wir gingen in sein Wohnzimmer, er öffnete die Balkontür, und wir beugten uns über das Geländer. Schauen Sie mal, sagte ich, wie hübsch diese Bepflanzung ist. Aber der Regen kommt nicht mal an die Mimose. Auf seinem Balkon standen ein Fahrrad und ein Tisch, darauf Werkzeug, in Sachen Grün zwei, drei erdverschmierte Töpfe und ein alter Farn. Wo schließen wir den Schlauch an?, fragte er. In der Küche, antwortete ich.

– Dann brauchen wir mindestens fünfzehn Meter.

– Ja, stimmt! Danke, Monsieur Aparicio!

Er hat mir seither nie auch nur einen Kaffee angeboten, und unser Gespräch beschränkt sich mehr oder weniger auf das Wetter. Dafür bin ich ihm doppelt dankbar. Erstens, weil er nie auf dem Drama herumgeritten ist (auch nicht an dem Tag, als die Ermittler von der Kripo die Nachbarn befragten), und dann, weil er die Bewässerung immer mir überlässt. Ich kaufte einen dehnbaren Qualitätsschlauch mit Universalanschluss und regulierbarer Sprühpistole, mit der man den Balkon von oben duschen kann. Aparicio steckt ihn selbst auf den Wasserhahn an seiner Spüle und wickelt ihn ab, bevor ich komme. Er könnte es jederzeit selbst tun und sich von der Bindung an unsere Verabredung befreien. Aber offenbar hat er gespürt, dass ich geradezu einen Fetisch daraus mache, und respektiert das.

Nach seinem Umzug zu uns hatte Eduardo sich in eine feindliche Verdrossenheit zurückgezogen. Er irrte von einem Möbelstück zum anderen, verkroch sich darunter oder duckte sich in dunkle Winkel. Immerhin ließ er sich darauf ein, etwas zu fressen, und Pierre hatte ihm die letzten Revigor-200-Tabletten verabreichen können, indem er sie zerdrückte und mit Thunfischpastete vermischte. Als ich am Vorabend unserer Expedition nach Sucy heimkam, bot sich mir folgende Szene dar: Der lange Stecken ragte aus dem Klo heraus, von wo er bewegt wurde. Im Flur verfolgte Eduardo matten Blickes das Gewedel des Leopardenschwanzes, floh aber, als er mich kommen sah. Pierre saß nackt auf der Toilette, auf sein magnetisches Schachbrett und die dazugehörige Aufgabe konzentriert, in der Hand den Stock, mit dem er weiter wedelte. In Deuil-l’Alouette haben wir eine Tierhandlung, wo man alles an Katzen- und Hundebedarf kriegt. Dort kaufte ich einen Transportkäfig aus Hartplastik für den Umzug zu Danielles Mutter, Größe M für neununddreißig Euro, er sollte es etwas bequemer haben. Wir stellten alles im Eingang bereit, Jean-Linos Stofftasche mit sämtlichem Zubehör inklusive T-Shirt, dazu das Katzenklo und den neuen Transportkäfig, der mit geöffneter Gitterklappe auf seinen Insassen wartete. Eduardo brauchte den Käfig nur zu sehen, schon verabscheute er ihn. Er wollte abhauen, aber Pierre packte ihn und rief, mach die Türen zu! Er versuchte, ihn vor der Klappe festzuhalten. Wir wollten ihn hineinschieben, aber Eduardo wehrte sich, die Vorderpfoten starr nach vorn gestemmt. Er rutschte ein wenig über das Parkett, gleichzeitig glitt der Käfig weg. Wir versuchten, ihm gut zuzureden, ich glaube fast, wir rangen uns ein paar Worte auf Pseudoitalienisch ab. Eduardo wollte sich mit allen Mitteln befreien, strampelte und wand sich und biss Pierre in den Arm. Pierre schnauzte mich an. Ein paarmal ließ er ihn los, und wir mussten von vorn anfangen. Wir taten Spielzeug, den Feliway-Zerstäuber und Kroketten in den Käfig. War dem Tier völlig schnuppe. Nach zwanzig Minuten mühsamen Ringens kam Pierre auf die Idee, den Käfig senkrecht zu stellen, das Gitter nach oben. Schwitzend und entnervt schnappte er sich Eduardo und versenkte ihn von oben in der Öffnung, den Kopf voran. Es war ein fast übernatürlicher Augenblick, als Kopf und Vorderpfoten endlich drin waren. Pierre hielt den Käfig fest und rief, hilf ihm, hilf ihm! Ich stopfte ihn mit geschlossenen Augen hinein, so gut ich konnte. Rasch schlossen wir die Klappe. Der Käfig war voller zerbröselter Kroketten, Eduardo kreischte, aber er war drin.

Die Tante erkannte mich nicht wieder. Sie saß in einem nachträglich angebauten fensterlosen Speisesaal neben ihrem Rollator, einen Sabberlatz um den Hals, allein vor einem Teller Fisch und Quetschkartoffeln. Ich hatte nicht erwartet, sie um achtzehn Uhr beim Essen anzutreffen. Es kostet mich viel Mühe, diesen menschenverachtenden Zeitplan hinzunehmen. Ich sehe darin eine Abschiebungsmaßnahme. Man kann nur hilflose Leute dazu zwingen, zu einer solchen Uhrzeit zu essen, die man schnellstmöglich ins Bett stecken will (im Krankenhaus liegt man ja schon drin). Ich stellte mich ihr vor, ich sagte, dass ich schon einmal mit Jean-Lino dagewesen sei. Sie musterte mich gründlich. Manchmal liegt im Blick alter Menschen eine gewisse eisige Autorität. Sie hieß Benilde. Ich hatte ihren Namen an der Rezeption erfahren, Benilde Poggio, wagte aber nicht, sie so anzusprechen. Am Empfang hatte es geheißen, ah, die Dame aus den Dolomiten! Ich kenne die Dolomiten dank der Bücher von Dino Buzzati. Denner las Le montagne di vetro, Bergsteigerporträts, Klagen über die Verschandelung der Natur. Über Hänge, an denen er nicht mehr wandern würde. Es war geradezu Denners Nachttischbuch. Er las mir ganze Kapitel laut vor. Manche waren Meisterwerke. Ich erinnere mich an einen Text anlässlich der Bezwingung des Mount Everest. Ganz oben im Turm der alten Festung gab es einen kleinen Saal, den noch nie jemand betreten hatte. Irgendwann wurde die Tür geöffnet. Der Mann trat ein, und er sah. Es gibt kein Geheimnis mehr. Die Dame aus den Dolomiten hat lange, dicke, etwas knotige Hände. Die Finger bewegen sich gemeinsam, als wären sie aneinandergeklebt. Sie entgrätete mit der Gabel den Fisch, der bereits entgrätet war. Ich fragte, ob ich sie störe. Ich sagte, Sie möchten vielleicht in Ruhe essen? Sie schob die Kartoffeln zu einem Teppich zusammen und führte ihn zum Mund. Ihr Kopf schien mir weniger zu zittern als beim letzten Mal. Sie kaute und beobachtete mich dabei. Dann und wann hob sie den Latz zu den Lippen. Ich fand, dass der Friseur beim Lila ein bisschen zu tief in den Farbtopf gegriffen hatte, und auch mit der Dauerwelle hatte er übertrieben. Sie hatten wohl einen hauseigenen Friseur im Heim. Ich begriff selbst nicht mehr, was ich hier wollte. Was ist das für ein Wohltätigkeitswahn, eine Unbekannte zu besuchen, die nicht mal weiß, wer man ist? Sie trug eine lange Strickjacke mit Taschen, kramte in einer davon herum und beförderte ein mit einer dünnen Kordel verschlossenes Plastiktütchen zutage. In einer unbekannten Sprache sagte sie, ich solle mal daran riechen. Es roch nach Kümmel. Ist das Kümmel?, fragte ich. Si, cumino. Dann sollte ich noch einmal daran schnuppern. Ich sagte, dass ich Kümmel sehr gern mag, auch Koriander. Sie bat mich, das Tütchen zu öffnen. Der Knoten war ziemlich fest, sie bekam ihn mit ihren arthritischen Fingern nicht auf. Sie bedeutete mir, dass ich ihr etwas Kümmel in die Hand schütten sollte. Nur eine Prise, so zeigte sie zitternd. Jetzt hielt sie mir die Hand hin, auf dass ich abermals daran roch, und schüttete das Gewürz dann lachend auf den Fisch. Ich lachte ebenfalls. Sie sagte etwas, das ich nicht ganz verstand, aber ich hörte Lydies Namen heraus. Offenbar hatte Lydie ihr das Tütchen geschenkt. Ich hatte nie eine Verbindung zwischen dieser Tante und Lydie gezogen. Wie dumm von mir. Lydie war Jean-Linos Frau, natürlich kannte sie die Tante, wie auch nicht? Sie schob mir das Zitronenjoghurt hin, das auf ihrem Tablett bereitstand, mitsamt dem Löffel. Vom Flur her waren Stimmen zu hören, Türen, Rollen. Es waren abendliche Geräusche, woran auch immer das zu erkennen war. Eingeschlossene Geräusche, die nirgends ein Echo haben würden. Ich dachte an den Besuch mit Jean-Lino zurück, wie sie da von den Hühnern erzählt hatte, die ins Haus kamen und sich überall niederließen. Diesmal sprach die Tante nicht von Hühnern und auch nicht von Glocken. Sie hatte sich den Lebensgewohnheiten fern der Berge unterworfen, tausend Meilen von den großen Schatten entfernt, die dort wachsen und wieder schrumpfen. Sie hatte sich an die glatten Wände mit den Holzgeländern gewöhnt, sich darein gefügt, die Zeit an irgendeinem Ort zusammenschmelzen zu sehen.

Die Unveränderlichkeit der Berge betrachtete Buzzati als ihren größten Vorzug. Der Grund, so finde ich, besteht darin, dass der Mensch nach einem Zustand vollkommener Ruhe strebt, schreibt er. Etienne Dienesmann war mit seinen Kindern auf denselben Pfaden gewandert wie einst mit seinem Vater. Sie picknickten unter denselben Wänden, hoben den Blick zu derselben Gipfelkette. Der Vater lebte nicht mehr, hier jedoch blieb alles in kristallener Kälte an Ort und Stelle. Jeden Sommer fühlte er inmitten des Lachens, wie unbedeutend er war. Irgendwann konnte er das ohne jede Verbitterung spüren.

Lieber Jean-Lino, bevor ich Ihnen meine Grübeleien über das Schicksal der Dinge schildere, sollten Sie wissen, dass Eduardo in Sucy-en-Brie bei der Mutter von Danielle (Sie haben sie bei uns kennengelernt, die Dokumentarin, die von der Beerdigung ihres Stiefvaters kam) angeblich ein sympathischer Kater geworden ist. Genau dieses Wort wurde verwendet. Ob Tiere ihr Wesen ändern? Ich tippe eher auf ein Arrangement zwischen zwei Trauernden zur gegenseitigen Steigerung des Wohlbefindens. Ich weiß, dass Sie sich Sorgen um ihn machen und von seinem Umzug gehört haben. Laut den jüngsten Nachrichten verbringt er seine Tage auf einem Fensterbrett im Erdgeschoss, wie die Alten im Süden, die beobachten, wie das Leben vor ihrer Tür abläuft. Er thront über einem kleinen Flecken Erde, wo sich echte Vögel und echte Mäuse in aller Sicherheit tummeln, denn entgegen den Befürchtungen seines neuen Frauchens verlässt er seinen Ausguck niemals. Falls das nicht genügt, um auf ihn stolz zu sein, so brauchen Sie sich immerhin keine Sorgen um ihn zu machen. Letzten Monat ist meine Mutter gestorben. In ihrer Wohnung fand ich in einer Schachtel einen Nussknacker, den ich in der Fünften für sie gebastelt hatte. Als Experiment durften wir Mädchen ein Jahr lang am Werkunterricht mit Holz und Metall im Jungengymnasium teilnehmen. Metall wollte keine, ein paar von uns hatten sich auf Holz gestürzt, um dem Nähunterricht zu entgehen. Der Lehrer war ein Chinese mit Toupet, ein Verrückter. Wir hörten immer fünfzehn Minuten vor Ende der Schulstunde auf, damit wir das Werkzeug aufräumen und in Reih und Glied ausrichten konnten. Falls der Langhobel auch nur einen Millimeter weit aus dem Fach herausschaute, schrie er herum und verpasste den Jungen Ohrfeigen. Wir verbrachten so gut wie das ganze Schuljahr mit dem Nussknacker. Die Jungen bauten ein Modell, wo die Nuss zwischen zwei Flächen geklemmt wurde, eine Art Presse, die Mädchen bastelten etwas, das aussah wie ein Pilz. Meiner war zweifarbig, der eichelförmige Hut dunkelbraun gestrichen. Bevor ich ihn meinem Vater schenkte, hatte ich Nüsse mit in die Verpackung getan. Als er ihn sah, rief er zuerst, das Ding sieht ja aus wie ein Pimmel!, dann stellte er fest, dass das Gerät funktionierte, und war hingerissen. Mein Vater liebte Werkzeug und respektierte den Handwerker. Er zeigte den Nussknacker überall herum, das heißt seiner Schwester Micheline und Konsorten, dann noch ein, zwei Kollegen, die manchmal auf ein Glas zu uns kamen. Er wollte wissen, wie ich das Gewinde zugefeilt und ob ich einen Gewindebohrer verwendet hätte. Er sagte, gebt mir mal Elisabeths Pimmel, dann schritt er mit allem, was eine Schale hatte, zur Demonstration. Er sagte, gutes Drehmoment, sanfter Druck, unversehrter Kern. Es genierte mich nicht, dass er ihn einen Pimmel nannte, ich lachte sogar mit. Das ging eine Weile so, dann geriet der Nussknacker in Vergessenheit. Er lag wohl noch eine Zeitlang auf einem Obstteller in der Küche, dann verschwand er. Ich hätte nie gedacht, dass er irgendwo überdauert hatte. Ich hatte ihn selbst schon vergessen. Jetzt liegt er gerade vor mir, in Reih und Glied mit einem Pfefferstreuer jüngeren Datums. Er wirkt erstaunlich entspannt. Warum gehen manche Dinge zugrunde und andere nicht? Wenn meine Schwester bei der Haushaltsauflösung den Schuhkarton aufgemacht hätte, sie hätte ihn, ohne zu zögern, mit dem ganzen anderen alten Krempel weggeschmissen. Lydie glaubte an das Schicksal der Dinge. War es denn so ganz undenkbar, dass der Rosenquarz ihres Pendels sich ihr tatsächlich offenbart hatte? (Nebenbei muss ich Ihnen sagen, dass ich fast so weit bin, in Zukunft im Restaurant und auch beim Metzger – wo ich immer seltener hingehe – nachzufragen, ob die Hühnchen geflattert, die Schweine im Matsch gespielt haben usw., und dass ich, seit ich die Heftchen von Lydies Verein bekomme, wohl nie wieder ertragen werde, ein Tier im Zirkus oder in einer ähnlichen Situation zu sehen.) Jean-Lino, trotz der Erlaubnis des Untersuchungsrichters haben wir beide nie mehr als ein paar kurze Worte miteinander wechseln können, und trotz meiner Bemühungen, es anders zu machen, waren sie meinerseits furchtbar gekünstelt. Keiner meiner Briefe, ich meine, keiner, der innerlich authentisch gewesen wäre, ist je in die Post gegangen, keiner auch nur fertig geworden. Bis jetzt habe ich den rechten Ton nicht finden können. Auch diesen hier werde ich wohl nicht absenden. Also kann ich ganz frei sprechen, so, wie wir es immer gehalten haben, ohne auf die Ungleichheit unserer Lebensumstände oder auf Ihre seelische Verfassung Rücksicht zu nehmen. Es ist ganz gleich, ob ich wirres Zeug über einen Nussknacker fasele oder Ihnen beispielsweise gestehe, dass ich in der ersten Zeit nach meiner Rückkehr (meiner Rückkehr!) dagegen ankämpfen musste, mich verlassen und deprimiert zu fühlen, ein ganz typisches Gefühl, wenn ein Zeitraum endet und sich schließt. Keine Manoscrivis mehr über uns. Die Manoscrivis im Fünften gehörten zur natürlichen Ordnung der Dinge. Im Vergleich zu dem, was in der Welt so passiert, klingt das lächerlich, ich weiß. Aber mit Ihnen ist ein unsichtbares Gut verschwunden, an das man sonst gar nicht denkt, das selbstverständliche Leben.

Wir standen auf dem Balkon und beobachteten die Ankunft des Mannschaftswagens und der Polizeiautos. In Wahrheit stand das halbe Haus an den Fenstern. Ich beugte mich über das Geländer und blickte nach oben. Aparicio war auch da, zog sich aber zurück, wollte nicht entdeckt werden. Die Tatrekonstruktion war auf dreiundzwanzig Uhr angesetzt, zur nächtlichen Stunde, damit sie, wie es hieß, unter Originalumständen stattfand. Außerdem hatte man uns mitgeteilt, wir müssten dieselbe Kleidung anziehen wie an jenem Abend. Ich legte die Boxershorts und das Kitty-Set auf das Bett bereit wie Kostüme für eine Aufführung. Rund ein Dutzend Personen betraten das Haus, darunter eine Frau, die eine Tasche und einen kleinen Klapptisch trug. Zwischen zwei Uniformierten stieg Jean-Lino in Handschellen aus dem Mannschaftswagen. Ihn von hier oben zu sehen, mit seiner Zara-Jacke und dem Hut von der Pferderennbahn, zog mir den Boden unter den Füßen weg. Mir kam das alles wie ein einziger großer Irrtum vor. Aus der Perspektive des Todes und des Universums gesehen – so fühlte ich mich auf einmal beim Blick auf die Dinge vom Balkongeländer aus –, erschien mir dieses ganze Trallala um einen völlig harmlosen, gefesselten und als er selbst verkleideten Mann wie eine groteske Farce.

Der Untersuchungsrichter wollte mit, so nannte er es, dem Aufbruch vom Fest beginnen. Für die erste Szene fand er es nicht nötig, dass wir uns anzogen wie vor drei Monaten. Die Protokollantin saß auf dem Treppenabsatz an ihrem Klapptisch vor einem kleinen Laptop. Aufnahme Nummer eins, diktierte der Richter, Polizeibeamtin in der Rolle von Madame Gumbiner. Eine winzige Frau mit Locken stellte sich in Pose, die Arme angelegt, in einer zu weiten Jacke mit Schößen. Jean-Lino stand, genauso ausgestopft wirkend, am Aufzug, in veilchenblauem Hemd und mit kürzeren Haaren. Ohne Handschellen. Ich fand, er sah jünger aus. Die neue Allerweltsbrille mit Metallgestell ließ ihn frischer wirken. Die Tür zum Treppenhaus war geöffnet, ein Teil der Polizisten hielt sich dort auf. Auf dem Treppenabsatz erkannte ich den leitenden Ermittler der Kriminalpolizei und einen der Polizisten, die bei der Verhaftung im Hauseingang dabei gewesen waren. Der Richter wollte wissen, in welcher Reihenfolge die Beteiligten die Wohnung verlassen hatten. Keiner von uns dreien konnte sich daran erinnern. Nach einigem wirren Hin und Her einigten wir uns mehr oder weniger darauf, dass Lydie als Erste aus der Tür gegangen war, hinter den El Ouardis, die man für keine Verkörperung würdig befunden hatte. Der Richter postierte das neue Ehepaar Manoscrivi sowie Pierre und mich für das erste Foto in der Tür. Madame Gumbiner und Monsieur Manoscrivi verlassen die Wohnung des Ehepaars Jauze – hinter Monsieur und Madame El Ouardi, die in den Fahrstuhl steigen. Der Richter betonte mir gegenüber die Wichtigkeit der Abfolge. Das Fotoalbum werde während des Prozesses vorgeführt, erklärte er, ein pädagogisches Instrument des Vorsitzenden Richters. Später, als er Monsieur Jauze begibt sich wieder ins Schlafzimmer, um sich hinzulegen aufnehmen lässt, wird er sagen, die Geschworenen sollen begreifen, dass Sie allein waren, das ist wichtig. Nach diesen Präliminarien gingen alle nach oben. Pierre und ich setzten uns ins Wohnzimmer. Pierre fragte mich in ätzendem Tonfall, ob ich beim Warten Nachrichten schauen wolle. Ich hatte nicht die geringste Lust dazu. Er nahm sein Schachbrett und vertiefte sich in die Lösung eines Schachrätsels. Ihm war das alles zuwider, ganz besonders, dass er bei jeder erneuten Episode wieder mit der ganzen Affäre behelligt wurde. Als wir die Vorladung zur Rekonstruktion erhielten, schwor er Stein und Bein, er werde nicht teilnehmen. Tatenlos saß ich neben meinem Mann auf dem Sofa und betrachtete unsere Wohnung, die zu normalen Zeiten nie so aussah wie jetzt. Die Kissen schön prall aufgeschüttelt in gleichmäßigem Abstand, wild aufgetürmte Bücherhaufen in diskrete Stapel verwandelt. Der Boden glänzt, nichts liegt herum. Als hätte meine Mutter alles gewienert. Angesichts der Gerichtsbarkeit: Hände an die Hosennaht. Von oben waren Schritte und Stimmen zu hören. Ich sagte, ob er jetzt die Polizistin erwürgt?

– Hoffentlich nicht.

Ich legte mich hin, den Kopf in seinem Schoß, eine für ihn sehr unbequeme Stellung. Ich fragte, ob er sie jetzt wohl in den Koffer steckt?

– Erst muss er noch mal zu uns kommen.

Er stellte das magnetische Schachbrett auf meinem Busen ab und legte mir den Zeitungsausschnitt mit dem Schachrätsel aufs Gesicht. Auf dem Treppenabsatz hatte Jean-Lino sich verhalten wie ein Fremder. Mechanische Bewegungen, ausweichender Blick. Als wären sämtliche Verbindungen gekappt, sogar die zu den Wänden des Hauses. Auf so eine Kälte war ich nicht gefasst gewesen. In den schlimmsten Jahren, kurz vor der Pubertät, schickten sie mich sommers immer nach Corrençon-en-Vercors in eine Ferienkolonie. Dort blieben wir weitgehend uns selbst überlassen, ich verbummelte die Zeit, alle anderen kamen mir selbständiger und frecher vor als ich. Manchmal gelang es mir, Anschluss zu finden und mich mit dem einen oder anderen Mädchen anzufreunden. Da wir in verschiedenen Städten wohnten, sahen wir einander erst im nächsten Jahr wieder. Ich freute mich darauf. Aber dann war keine von ihnen mehr wie vorher. Sie waren abweisend, hochnäsig, als hätte uns nie etwas verbunden. Das traf mich umso mehr, als ich so sehr auf dieses Wiedersehen gesetzt hatte. Unversehens bewegte ich mich etwas ruckartig, ein paar Bauern rutschten vom Brett. Ich schlüpfte ins Schlafzimmer und in meine Kluft, mein Hello-Kitty-T-Shirt, die ordentlich gebügelte karierte Hose und die Kunstfell-Pantoffeln. Nebenan hörte ich Pierre maulen.

Dann klingelte Jean-Lino bei uns, mit seinem ganzen Gefolge. Pierre öffnete ihm in blassrosa Boxershorts. Ich zeigte mich in meiner Staffage. Wir gingen ins Wohnzimmer. Jean-Lino besetzte erneut den marokkanischen Stuhl. Wie beim letzten Mal saß er höher als wir, fast genauso marmorn blass, heute aber wohlfrisiert und ohne Tick am Mund. Passend zum makellosen Wohnzimmer. Wir machten den Cognac auf. Tranken aus leeren Gläsern. Löschten die Lampe. Ich schaltete die Deckenlampe an, löschte die Deckenlampe, knipste die Stehlampe an. Ich räumte die aufgeräumten Dinge noch einmal auf. Ich holte meinen heißgeliebten Rowenta. Pierre nahm ihn in die Hand und ging damit auf Jean-Lino los. Jean-Lino ließ sich in aller Ruhe ansaugen. Je stärker der Richter die Welt in Ordnung zu bringen trachtete, desto mehr schien alles von rasendem Irrsinn geprägt. Unter dumpfem Schweigen begab sich unsere kleine Prozession ins Treppenhaus. Pierre voran, mit einer Langsamkeit, die, so wurde mir zwischen den Zeilen klar, meinen Kooperationseifer bremsen sollte. Zwischen zwei Treppenabschnitten wurde vom Absatz der Manoscrivis her ein Foto gemacht. Die Siegel waren entfernt worden. Wir betraten die Wohnung, wo wir im Halbdunkel von zehn Personen erwartet wurden. Wir gingen auf das Schlafzimmer zu. Durch den Türspalt sah ich Lydies Füße mit den roten Riemchen-Pumps. Als ich das Zimmer betrat, erlitt ich einen regelrechten Schock. Lydie lag unter dem Foto von Nina Simone, ohne ein Haar auf dem Kopf, mit unförmigem, kahlem Gesicht. Eine grässliche Puppe, angetan mit Rüschenrock und den Gigi Dools. Würden Sie uns demonstrieren, wie Sie sich davon überzeugt haben, dass Madame Gumbiner tatsächlich nicht mehr am Leben war? Pierre fühlte ihr den Puls, ich fummelte ihr an den Beinen herum, wie ich es in meinen Aussagen geschildert hatte. Ein unangenehmer Kontakt mit kaltem, dichtem Schaumstoff. Ich wand ihr den Schal um, einen anderen aus derselben Schublade. Als ich den Knoten anzog, schrumpfte der Kopf. Aufnahme Nummer vierzehn: Madame Jauze bindet den Schal, während Monsieur Manoscrivi Madame Gumbiners Mund zuhält. Jean-Lino vollführte die Bewegungen ohne die geringste Absicht, es gut zu machen. Er schien die Puppe zu hassen. Es berührte mich eigenartig, den Nachttopf wiederzusehen, die Zinn-Eule, die Standuhr, selbst Nina Simone in ihrem Strippenkleid. Das alles war die Vergangenheit. Ich wusste, ich sah es zum letzten Mal. Monsieur Jauze, können Sie sich an Ihre genaue Position im Raum erinnern, als Sie Monsieur Manoscrivi aufforderten, die Polizei zu rufen? Pierre vollführte eine kleine Umdrehung in seinem Röckchen und den Mokassins, dann sagte er, hier. Was waren Ihre letzten Worte, bevor Sie die Wohnung verließen?

– Daran erinnere ich mich nicht, sagte Pierre.

– Und Sie, Monsieur Manoscrivi, erinnern Sie sich?

– Nein …

– Madame Jauze? … Sie sagten, Ihr Mann habe Monsieur Manoscrivi nahegelegt, nicht zu lange zu warten, bis er die Polizei ruft.

– Ja. Genau das.

– Könnten Sie uns demonstrieren, wie Sie Monsieur Manoscrivi verlassen haben?

Pierre und ich gingen aus dem Schlafzimmer. Vor dem Badezimmer hielt der Untersuchungsrichter uns an. Sie gehen einfach so? Sie sagten, Ihr Mann habe Sie mit etwas Nachdruck dazu bringen müssen, die Wohnung zu verlassen.

– Das stimmt.

– Würden Sie uns das zeigen?

Wir gingen wieder ins Schlafzimmer. Pierre ergriff mein Handgelenk mit seinen Stahlfingern und zog mich zum Flur. Ich ließ mich führen, verließ Jean-Lino vor einem Hintergrund aus geblümten Vorhängen, er stand neben dem gelben Samtsessel.

Alle wollten sie durch den Spion schauen. Der Untersuchungsrichter, der leitende Ermittlungsbeamte, der Anwalt Jean-Linos und der Nebenkläger. Ein jeder konnte mit dem gebührenden Ernst konstatieren, dass man in der Tat den Fahrstuhlknopf blinken sah. Der Hauseingang war für unsere Ankunft bereit. Die Protokollantin klebte mit Klapptisch und Laptop vor der müllraumseitigen Wand. Die junge Frau aus dem Zweiten wartete kaugummikauend neben der Tür. Jean-Lino stand geduldig neben der Fahrstuhltür. Sie hatten ihn aufgefordert, Hut und Jacke anzuziehen, auch die Lammfellhandschuhe trug er wieder. Der grüne Mantel hing zu beiden Seiten seines angewinkelten Armes hinab, linkisch hielt er Lydies Handtasche am Gurt. Auf Aufforderung des Richters öffnete er die Fahrstuhltür und zog den Koffer heraus, der mir weniger prall vorkam als mit Lydie darin. Offenbar war die Puppe biegsamer, ein Glücksfall für Jean-Lino, da er ja diesmal das Eintüten ganz allein bewältigen musste. Und das hier haben Sie gesehen, als Sie aus dem Treppenhaus kamen?, fragte mich der Richter.

– Ja.

– Das haben Sie anders ausgesagt. Unter Randziffer D111 werden Sie mit der Aussage zitiert, Madame Gumbiners Mantel habe auf dem Koffer gelegen …

– Ah ja. Sehr gut möglich.

– Wo befand sich der Mantel?

– Auf dem Koffer.

– Einverstanden, Monsieur Manoscrivi?

– Ja.

– Würden Sie uns zeigen, wie genau der Mantel auf dem Koffer lag?

Jean-Lino platzierte den Mantel auf dem Koffer. Ich bestätigte, dass es so gewesen sei. Der Richter ließ das im Protokoll vermerken und ordnete das Foto an. Monsieur Manoscrivi, würden Sie uns schildern, was Madame Jauze sagte, als sie Sie sah?

– Sie fragte, was in dem Koffer sei.

– Und was antworteten Sie?

– Nichts. Ich bewegte mich auf die Haustür zu.

– Würden Sie uns schildern, wie Madame Jauze Sie zurückhielt?

– Sie nahm die Handtasche und den Mantel an sich.

– Madame Jauze, würden Sie uns zeigen, wie Sie Handtasche und Mantel an sich nahmen?

Ich nahm den Mantel und dann auch die Handtasche, die er immer noch mit gebeugtem Arm hochhielt. Endlich sahen wir einander an. Und ich fand in seinen Augen wieder, was ich so mochte. Über jeder noch so großen Traurigkeit das Flämmchen des Schalks. Foto Nummer zweiunddreißig: Monsieur Manoscrivi sieht zu, wie Madame Jauze Mantel und Handtasche an sich nimmt.

Als der Mannschaftswagen losfuhr, drückte Jean-Lino sich ans Fenster. Sie hatten ihm die Handschellen wieder angelegt. Er beugte sich vor, als wollte er mir zuwinken. Ich stand in meinen Pantoffeln vor der Glastür und winkte mit dem ganzen Arm, bis der Wagen gegenüber um die Hausecke bog. Als alle den Ort verlassen hatten, blieb ich noch einen Augenblick allein draußen stehen. Der Parkplatz war menschenleer. Eine schöne sternenklare Nacht in Deuil-l’Alouette. Bevor der Wagen verschwand, hatte er zwischen den geparkten Autos gewendet, um in der Gegenrichtung wegzufahren. Jean-Lino saß immer noch zu mir gewandt, doch wegen der Dunkelheit und der Entfernung konnte ich sein Gesicht nicht mehr erkennen, nur die schwarze Form des Hutes, dieses altmodischen Accessoires, das ihn hervorgehoben hatte und ihn jetzt wieder in die Anonymität der Masse zurückzuwerfen schien. Die Geschichte schrieb sich fort, über unsere Köpfe hinweg. Was auch geschah, es ließ sich nicht aufhalten. Einerseits war wirklich Jean-Lino Manoscrivi hier vorbeigefahren, andererseits irgendein Mann, der fortgebracht wurde. Mir fiel ein, dass Jean-Lino, immer wenn sein Vater in der Cour Parmentier den Psalm vorlas, ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer schattenhaften Gemeinschaft empfunden hatte. Ich schaute zum Himmel auf und zu allen, die sich dort befanden. Dann ging ich allein wieder hoch. Über die Treppe.