7
Richard war zurück in Berlin. Die Strecke von Hamburg hatte er mit dem Zug bewältigt, es ging weitaus schneller als zu Pferde, auch wenn er die langsamere Art des Reisens genoss. So blieb ihm Zeit, um nachzudenken, und davon brauchte er viel. Sein Vater war krank. Immer wieder klagte er über Schmerzen in der Brust. Es war das Herz, daran bestand kein Zweifel. Er durfte sich nicht aufregen, dann würde es ihm womöglich noch lange gut gehen.
Doch alles,
was Richard sagte, regte ihn auf. Und so war es nur gut gewesen, dass er wieder Distanz zwischen sich und den Senior bringen konnte. Doch die Probleme waren ihm gefolgt, in Form mehrerer dicker Mappen voller Geschäftspapiere. Es waren Einnahmen und Ausgaben der vergangenen Jahre sowie Unterlagen zu den Beschäftigten.
Vater wollte, dass er bis zu seiner Heimkehr alles durcharbeitete und dann Optimierungsvorschläge unterbreitete. Wieder ein Grund für Streit. Bei Harkenfeld wurde, verglichen mit anderen Werften, bereits niedriger Lohn gezahlt. Bis die Arbeiter sich dagegen auflehnten, war es nur noch eine Frage der Zeit, doch damit brauchte er seinem Vater nicht kommen. Der ließ seine Angestellten vom
Werksdienst ausspionieren, und jeder, der auch nur das Wort Gewerkschaft
in den Mund nahm, verlor seine Anstellung. Das war unhaltbar. Richard fand, die Arbeiter hätten ein Recht auf anständige Entlohnung und einen Rat, der in Verhandlungen ihre Position vertrat.
Vater begann dann stets herumzuschreien und hätte ihm wohl mit Entlassung gedroht, hätte er nicht seinen eigenen Sohn vor sich gehabt.
Der Senior bezeichnete die Forderungen als Verrat, Irrsinn und freiwillige Bankrotterklärung. Er stützte seine Einstellung auf Bismarcks sogenannte Sozialistengesetze. Sie stellten die Gründung von Vereinen sozialdemokratischer oder kommunistischer Ausrichtung unter Strafe. Das galt auch für Schriften und deren Publikation. Was die Arbeiter aber nicht davon abhielt, für ihre Rechte zu kämpfen. Die meisten Versammlungen fanden heimlich statt. In Berlin hatte Richard einigen davon beigewohnt, in Hamburg wagte er es nicht. Zu groß war die Gefahr, dass ihn jemand erkannte. Richard rieb sich die Schläfen, die Erinnerung an den Streit, den sie nur wenige Stunden vor seiner Abreise gehabt hatten, war noch frisch.
Mutter war schließlich dazwischengegangen und hatte Richard mit der Erwähnung von Vaters Gesundheit aus dem Raum geschickt. Verabschiedet hatte er sich nicht von dem Patriarchen. Es gab nichts zu sagen.
Vielleicht sollte ich mich doch für einen Einsatz in Übersee melden,
überlegte er. Doch mit der kaiserlichen Kolonialpolitik vertrug sich seine Einstellung ebenso wenig wie mit der rigiden Vorgehensweise seines Vaters.
Es war zum Verrücktwerden.
Nachdem Richard den Stapel Papiere lange genug
angestarrt hatte, widmete er sich einem Brief, der ihm in die Kaserne geschickt worden war. Er kam aus Hamburg und war Zeichen für das einzig Gute, was er mit seinem Leben bislang angefangen hatte. Er riss den Umschlag auf und überflog die Zeilen, geschrieben von Jakob Roosen, dem Bruder des Arbeiters, von dessen Unfalltod Richard bis heute hin und wieder träumte.
Er berichtete, dass die kleine Unterstützung, die er dessen Schwägerin zukommen ließ, noch immer jedes halbe Jahr pünktlich eintraf und dass die Familie ihm zu großem Dank verpflichtet sei. Sie benutzten das Geld für den Sohn des Toten, nach ihm Aaron genannt. Stolz beschrieb Jakob den Jungen als intelligent und aufgeweckt. Dank Richard besuchte er nun eine gute Schule.
Richard war damals heimlich zur Beerdigung des Arbeiters gegangen, weil er sich im Gegensatz zu seinem Vater verpflichtet und durchaus auch schuldig fühlte. Von seinem eigenen Geld zweigte er seitdem regelmäßig etwas ab und sandte es der Witwe. Es war nur eine Familie von vielen, die jemanden auf der Werft verloren hatten, doch er fühlte sich ihnen verbunden. Noch immer konnte er sich das Unglück vor Augen rufen, als sei es gestern geschehen. Der brechende Blick des Arbeiters und der Geruch von Blut und Hafenschlamm würden ihn wohl bis an sein eigenes Ende verfolgen. Doch nun würde zumindest der Sohn des Toten dank ihm eine bessere Zukunft haben.
Besänftigt faltete Richard den Brief zusammen und steckte ihn in eine Schublade, zu den anderen, die er in regelmäßigen Abständen von der Familie bekam. Gerne hätte er Jakob Roosen zu der Situation in der Werft befragt,
doch er wollte den Mann nicht verunsichern oder gar seine Anstellung gefährden. Auch wenn sie sich hin und wieder begegneten, so wahrte der andere stets höfliche Distanz. Sie waren Richard dankbar, aber Freunde wurden sie deshalb trotzdem nicht.
Svantje hatte Stunden damit zugebracht, in den Fluren des Harkenfeld-Anwesens die großen Fenster zu reinigen, während ihre Mutter in der Küche Gemüse schnitt.
Mittlerweile war ihr Bauch prall und rund, und es fiel ihr schwer, die üblichen Arbeiten zu verrichten. Svantje hatte sich in ihrer neuen Beschäftigung eingelebt. Es war nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte, und brachte überraschend viele Vorteile. Richard hatte durchgesetzt, dass sie entlohnt wurde, solange Mutter ebenfalls arbeitete. So konnte sie etwas Geld sparen. Zudem durfte sie tatsächlich seine private Bibliothek nutzen. Und genau dorthin wollte sie jetzt. Es war ein trüber Spätsommertag. Svantje hatte früh angefangen zu arbeiten, und während ihre Dienstzeit nun herum war, würde Mutter noch zwei Stunden bleiben müssen.
Genau wie sie es geplant hatte. Denn nun konnte sie noch zwei Stunden lesen. In den vergangenen Wochen war sie mindestens jeden zweiten Tag hergekommen. Sie hatte ihre Arbeitskleidung bereits abgelegt und sich umgezogen, damit jeder sehen konnte, dass sie nicht faulenzte.
Sie klopfte an, auch wenn sie wusste, dass Richards Zimmer leer sein mussten, dann trat sie ein. Er besaß bei Weitem nicht so viele Bücher wie sein Vater, doch sich an der Bibliothek des Hauses zu bedienen wagte sie nicht. Der
Junior besaß viele naturwissenschaftliche Werke, das Letzte, was sie bei einem zukünftigen Werfteigner erwartet hätte.
Sie nahm sich einen Katalog des Museums Godeffroy, der sich mit einer Pflanzensammlung der berühmten Botanikerin Amalie Dietrich beschäftigte, und widmete sich dem langen Brief, der im Vorwort beigefügt worden war. Diese beeindruckende Frau war in die Südsee gefahren, wie Friedrich, und hatte jahrelang in Australien geforscht.
In dem Buch waren zahlreiche exotische Pflanzen und auch einige Tiere abgebildet. Mit dem schweren Folianten setzte Svantje sich auf eine Récamiere und begann zu lesen. Eine leise tickende Standuhr würde ihr anzeigen, wann sie aufbrechen musste. Wenn sie las, vergaß sie viel zu schnell die Zeit.
Eigentlich hätte sie sich wohl besser den einheimischen Pflanzen und deren medizinischem Nutzen widmen sollen, doch ihr stand der Sinn nach ein wenig Abenteuer.
Als Svantje fast bis zur Hälfte des Katalogs vorgedrungen war und eine weitere eindrucksvolle Zeichnung bewunderte, wurden auf dem Flur Schritte laut. Sie sah hektisch auf, doch die Standuhr zeigte, dass noch Zeit war.
Wie immer, wenn sie dieses Zimmer betrat, hatte sie die Tür etwas offen gelassen, damit jeder sehen konnte, dass sie nichts Unrechtes tat.
Die Schritte stoppten, und die Tür wurde weiter geöffnet.
»Tatsächlich«, sagte eine Frauenstimme. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich so etwas einmal sehe.«
Es war Hilde Harkenfeld, die in diesem Moment das Zimmer betrat. Svantje legte das Buch zur Seite und stand auf, senkte den Blick, wie Mutter es ihr angeraten hatte. Das junge Fräulein galt als launisch, viele Angestellten
fürchteten sie. Bislang hatte Svantje kein Wort mit ihr gewechselt und war ihr stets nur zufällig begegnet. Hilde Harkenfeld hatte sie dann nicht einmal angesehen, als bestünde Svantje, so wie die meisten Angestellten, für die junge Herrin nur aus Luft. Die Überheblichkeit, mit der die Oberschicht auf die einfachen Leute herabsah, brachte Svantje auf. Während ihrer Ausbildung hatte sie diese Haltung in der Klinik zur Genüge erlebt. Wo die Reichen in Einzelzimmern genasen, starben die Armen einige Flure weiter an denselben Krankheiten. Weil die Medikamente entweder zu teuer waren oder erst gar kein Arzt nach ihnen sah. Es war ein himmelschreiendes Unrecht.
Die Tochter des Großindustriellen trat ein und musterte von oben herab erst Svantje, dann das Buch. »Was liest du da?«
Svantje wurde die Kehle eng. Sie hatte Angst, etwas falsch zu machen oder sich Hilde Harkenfelds Zorn zuzuziehen, denn alles würde auf Mutter zurückfallen. Dennoch erwiderte sie für einen kurzen Moment den Blick der jungen Herrin, bevor sie den Kopf artig wieder senkte. Kriechen würde sie nicht vor dieser Person.
»Bekomme ich noch eine Antwort?«, fragte Hilde Harkenfeld enerviert.
»Selbstverständlich, Fräulein. Es ist ein Katalog mit australischen Pflanzen. Sie sind von einer Frau gesammelt worden, Amalie Dietrich, eine eindrucksvolle Persönlichkeit.«
»So?«, sagte Hilde Harkenfeld nur und nahm ihr das Buch ab, um darin zu blättern. Svantje fühlte sich ein wenig ratlos. Sie kam sich dumm vor, weiterhin auf ihre Füße zu starren, also musterte sie ihr Gegenüber. Sie waren
ungefähr im gleichen Alter und doch in völlig unterschiedliche Welten geboren worden. Die junge Herrin trug ein Hauskleid, das sicher zu den schlichtesten gehörte, die sie besaß. Dennoch waren so viele Meter cremefarbenen Tuchs darin verarbeitet, dass man damit sicher vier Frauen aus dem Armenviertel hätte ausstatten können.
Das Fräulein strich sich eine Haarsträhne zurück, die aus ihrer aufwendigen Flechtfrisur gerutscht war. Sie biss sich auf die Unterlippe und las gebannt das Vorwort.
»Tatsächlich, eine Frau!«
»Angeblich ist sie auch öfters im Botanischen Garten.«
»Hier in Hamburg?«, fragte Hilde Harkenfeld überrascht.
»Ja. Fast ihre gesamte Sammlung ist hier, stellen Sie sich das nur vor«, sagte Svantje begeistert. Einen Moment lang hatte sie ganz vergessen, wen sie vor sich hatte, und auch die junge Herrin schien so fasziniert von der Vorstellung, dass sie ihre arrogante Miene aufgab, die sie wie eine Maske trug. Genauso schnell wurde ihr Blick aber wieder kühl, und der kurze Moment der Verbrüderung war vorbei.
»Entschuldigen Sie«, haspelte Svantje schnell und knickste, da ihr nichts Besseres einfiel. Beständig musste sie an die Mutter und die Benimmregeln denken, die sie ihr eingebläut hatte.
Hilde Harkenfeld legte den Folianten zur Seite. »Für Pflanzen habe ich leider nicht viel übrig. Diese Frau, von der das Buch ist, die reist einfach so in der Welt herum? Hat sie denn keinen Mann?«
Fräulein Harkenfelds Worte klangen schnippisch, doch Svantje meinte, echtes Interesse herauszuhören.
»Soweit ich gelesen habe, ist sie verheiratet, aber sie
leben getrennt. Frau Dietrich unternimmt ihre Forschungsreisen allein.«
»Unglaublich. Und wird die Dame denn ernst genommen?« Hilde Harkenfeld lief bis zum Regal, blieb dort stehen und drehte einen Ring an ihrem Mittelfinger, wieder und wieder, als müsse sie nachdenken. Svantje fühlte sich bestärkt darin, ihr nicht unterwürfig zu begegnen. Vielleicht spielte auch die Industriellentochter nur eine Rolle, die aufgrund ihrer Stellung von ihr erwartet wurde. Offenbar teilten sie die Faszination für mutige Pionierinnen.
Svantje versuchte sich zu erinnern, was sie über die Dietrich wusste. »Anfangs hat sie vor allen Dingen Spott geerntet. Aber das ist nicht mehr so. Es gibt sogar einige Tiere und Pflanzen, die nach ihr benannt sind, und das Museum Godeffroy gibt noch immer regelmäßig Kataloge mit neuen Entdeckungen heraus. Ihr Bruder besitzt einige davon.«
»Mein Bruder, so, so«, sagte das junge Fräulein merklich kühler und wandte sich um.
Svantje trat unbewusst einen Schritt zurück. Es gefiel Hilde Harkenfeld scheinbar nicht, dass sie Kontakt zu ihm pflegte. Svantje musste das Thema wieder auf etwas anderes lenken. »Diese Forscherin hat sogar zwei zahme Adler, ist das nicht unglaublich?«
»Adler?«, hakte das Fräulein nach. »Aber die sind doch schrecklich gefährlich. Und das alles steht in diesen Büchern?«
Svantje nickte. Die junge Herrin musterte sie prüfend. Unsicher, was sie tun sollte, hielt Svantje dem Blick stand, was ihr Gegenüber zu verblüffen schien. Hilde Harkenfeld lächelte knapp. »Mein Bruder sagte schon, dass wir eine
ungewöhnliche Aushilfe haben, doch wie ich sehe, sind Sie nicht ungewöhnlich dumm, sondern eher das Gegenteil. Was für eine angenehme Abwechslung.«
»Danke … denke ich«, stotterte Svantje und musste dann lächeln.
»Bilden Sie sich nur nicht zu viel darauf ein«, sagte die junge Herrin und sah dabei gar nicht mehr so herrisch aus.
»Nein, nein, natürlich nicht«, versicherte Svantje schnell, hatte aber sehr wohl bemerkt, dass Fräulein Harkenfeld sie nicht mehr duzte, wie sie es beim Personal sonst zu tun pflegte.
»Ich habe etwas für Sie.«
Erst jetzt nahm Svantje die Briefe wahr, die das Fräulein in der linken Hand hielt. War einer davon für sie? Aber wer sollte ihr schreiben? Sie bekam eine Ahnung, und ihr Herz schlug gleich ein wenig höher. Doch Hilde Harkenfeld schien nicht gewillt, ihr den Brief auszuhändigen. Was, wenn sie ihn ihr gar nicht geben würde?
Svantje schluckte angespannt. Am liebsten hätte sie der jungen Herrin den Umschlag entrissen, doch stattdessen wartete sie ab, täuschte Geduld und Desinteresse vor, während es in ihrem Inneren brodelte. Den schlechten Ruf, den die Industriellentochter bei den Angestellten genoss, hatte sie nicht vergessen. Vorsicht war geboten. Svantje wollte sie nicht auf falsche Ideen bringen.
»Hier steht der Name meines Bruders und zu Händen Svantje Claasen. Das sind Sie. Der Brief ist aus dem russischen Zarenreich. Kennen Sie jemanden in Russland?« Die junge Herrin wedelte sich mit dem Brief Luft zu wie mit einem Fächer, während Svantje versuchte, einen Blick auf die Handschrift zu erhaschen. Er war von ihm, musste
es
sein! »Friedrich«, sagte sie schließlich. »Friedrich Falkenberg. Anders kann ich es mir nicht erklären.«
Hilde Harkenfeld legte fragend den Kopf schief. Es fiel ihr schwer, ihre Neugier zu überspielen. »Und warum sollte er ausgerechnet einem einfachen Hausmädchen schreiben?«
»Das verstehe ich ja auch nicht, da müssen Sie ihn fragen!«
Nun lächelte Hilde und sah dabei alles andere als bösartig aus. »Sie werden ja rot, Svantje.«
Mit Svantjes Ruhe war es vorbei. Sie drückte sich die Hände auf die Wangen. »Wie es scheint, bin ich Herrn Falkenberg freundschaftlich verbunden. Oder er hat Mitleid mit mir, weil ich so gern mehr von der Welt sehen würde.«
»Das könnte es sein. Sie bekommen den Brief, unter einer Bedingung.«
Svantjes Vorfreude trübte sich, sie schluckte. Würde Hilde Harkenfeld nun ihre berüchtigte Laune beweisen? »Was muss ich tun?«
»Sie begleiten mich morgen zu einer Verabredung. Als meine Anstandsdame. Mit Ihnen im Schlepptau könnte es weniger schrecklich ausfallen als mit meiner alten Tante Pernilla und weniger beschämend als mit meiner leichtsinnigen Zofe. Wenn es allzu öde wird, wissen Sie sicher noch einige Geschichten von abenteuerlichen Frauen zu erzählen.«
»Versprochen!«, sagte Svantje schnell und streckte die Hand aus. Sie hätte fast alles gesagt, um das Schriftstück zu erhalten. Hilde Harkenfeld legte den Brief neben das Pflanzenbuch und ging einfach davon. Ihr Hauskleid raschelte.
An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Morgen um zwei Uhr kommen Sie zu mir. Für den Nachmittag brauchen Sie sich nichts vorzunehmen. Etwas Passendes anzuziehen werden wir schon finden. So jedenfalls kann ich Sie nicht mitnehmen.«
Svantje blickte an sich hinab. Sie trug ihr grünes Kleid, das beste und liebste, das sie besaß. Friedrich hatte ihr dafür ein Kompliment gemacht. Jetzt beschlich sie der Verdacht, dass er das nur getan hatte, weil der Anstand es einem Mann gebot, Komplimente zu machen, und ihm nichts Besseres eingefallen war.
Als sie wieder aufsah, war die junge Herrin fort. Die Tür hatte sie angelehnt.
Svantje nahm den Brief und setzte sich. Eine Weile sah sie einfach nur darauf und strich sacht darüber. Er hatte die ganze weite Reise heil überstanden. Bis auf einige kaum sichtbare Kratzer und einen Wasserfleck war er unbeschädigt. Was wohl darin stand? Es gab so viele Möglichkeiten. Svantje hatte nicht erwartet, überhaupt von Friedrich zu hören. Sicher würde er auf der langen Fahrt genug Zeit haben, nachzudenken und sich klarzumachen, dass ein weiteres Treffen für sie beide nicht gut war.
Womöglich stand genau das im Brief. Ihr Herzrasen bekam einen schmerzhaften Unterton. Obwohl sie sich doch keine Chancen ausrechnete, hatte sie oft, wirklich sehr oft an Friedrich denken müssen. An seine sanfte Art, die stets neugierig dreinblickenden grünen Augen, sein Lachen, bei dem er sich immer etwas von ihr abgewandt hatte, als sei es ihm peinlich. Sie hatte sich ausgemalt, wie es sein könnte, ihn zu küssen. Ob sein dünner Bart wohl kitzelte oder kratzte
?
Und nun saß sie hier mit diesem Brief, der ihre Hoffnung entweder nähren oder jäh zerstören würde.
»Du feige Deern
«, schalt sie sich leise. Dann suchte sie Ausflüchte. Sie hatte nichts, um den Brief zu öffnen, und wollte ihn nicht zerreißen, also würde sie sich noch ein wenig gedulden müssen.
Sie drückte ihn an ihre Brust, dabei hatte das Papier solch eine Zuneigung womöglich gar nicht verdient. Vielleicht hatte der Abstand Friedrich klarer sehen lassen. Ja, so musste es sein. Er hatte es ihr nicht ins Gesicht sagen wollen, höflich, wie er war. Mit Abstand war es leichter. So würde er ihre Enttäuschung und ihre Tränen nicht mitansehen müssen. In ihr krampfte sich alles zusammen, es fühlte sich an, als sei ihr Bauch voller Schlangen. Hatte sie nicht gewusst, dass es so kommen musste? Es war besser so. Den Schmerz musste sie früher oder später ertragen, da war seine Abwesenheit ein guter Zeitpunkt. Es gab keine gemeinsame Zukunft.
Svantje sammelte sich, atmete tief durch. »Ja, ich kann das«, sagte sie leise, gab sich einen Ruck, stand auf und ging ins Nachbarzimmer, wo Richards Schreibtisch stand. Neben Tintenfass und Füller lag auch ein Brieföffner. Sie schlitzte das Kuvert auf, und heraus fielen zwei Fotografien. Svantje ging in die Knie und hob sie auf. Das eine Bild zeigte einen Palast, das andere eine ungewöhnliche Kutsche mit drei vorgespannten Pferden im Schnee.
Die Bilder würde sie später ansehen. Erst einmal der Brief mit seiner scheußlichen Nachricht, dann, zum Trost, die Bilder.
Sie nahm wieder ihren alten Platz ein und faltete die Seite auf
.
Das Datum zeigte, dass der Brief einen Monat gebraucht hatte, um sie zu erreichen.
Verehrte Svantje,
ich hoffe, dieser Brief erreicht Sie bei bester Gesundheit und frohen Mutes. Ich bedauere, Ihnen vorher nicht geschrieben zu haben, doch ich besaß Ihre Adresse nicht, und erst spät fiel mir diese kleine List ein.
Die Seereise war ruhig und angenehm. Wir fuhren über die Ostsee ins Baltikum nach Sankt Petersburg. Dann ging es eine Strecke über Land, bis wir einen Zufluss der Wolga erreichten. Nun bin ich in Moskau. Es ist eine uralte und doch so lebendige Stadt mit neuen Ideen und herzlichen Bewohnern. Ich habe mich überzeugen lassen, eine Fahrt mit der Eisenbahn zu unternehmen und danach weiterzureisen. Hat man erst einmal einen neuen Teil der Welt kennengelernt, möchte man immer mehr erkunden. Ich freue mich, dass ich diese Chance habe, zugleich bedaure ich, dass ich daher nicht so bald nach Hamburg zurückkehren und Sie wiedersehen kann. Mit welcher Freude erinnere ich mich an die angenehmen Stunden mit Ihnen zurück! An Ihre anregenden Erzählungen und Ihren wachen Geist, Ihr entzückendes Lachen und Ihren klugen Blick.
Womöglich überrascht es Sie, überhaupt von mir zu hören, und vielleicht möchten Sie es auch gar nicht. Dann öffnen Sie die nächsten Briefe einfach nicht, und wenn ich heimkomme, habe ich meine Antwort. Eine Frau wie Sie zu vertrösten gehört sich nicht. Dennoch
bitte ich Sie zu verstehen, dass mich die Abenteuerlust erfasst hat und ich ihrem Ruf folgen muss.
Ich habe beschlossen, ein Reisejournal zu führen, und werde Ihnen, sooft es geht, Abschnitte daraus zukommen lassen. Beigefügt sind zwei Fotografien. Die eine zeigt den Winterpalast von Sankt Petersburg, in dem die Zarenfamilie residiert. Ein Anwesen, das an Prunk und Pracht kaum zu überbieten ist. Die andere Fotografie zeigt eine Kutsche, wie sie für dieses Land typisch ist.
Falls Sie mir die Ehre erweisen und mir eine Nachricht zukommen lassen möchten, finden Sie beigefügt eine Adresse. Von dort aus wird man mir den Brief nachsenden.
Ich verbleibe mit herzlichem Gruß
Ihr Friedrich.
Svantje drückte den Brief an ihre Brust. »Ach«, flüsterte sie. »Natürlich schreibe ich Ihnen.«