13
»Hülp,
wir brauchen Hülp!
«
Der Ruf ließ Svantje zusammenfahren. Sie stellte das Tablett mit den Mullbinden auf einem Tischchen ab und rannte los. Es war Mittagszeit, die beiden diensthabenden Ärzte befanden sich beim Essen. Auch von den Krankenschwestern waren viele in der Pause.
Svantje eilte in den Flur. Zwei Männer schleppten einen dritten auf einer improvisierten Bahre herein. Womöglich ein Arbeitsunfall. Die Männer waren barfuß, ihre Hosen nass. Sofort bemerkte Svantje einen modrigen Geruch, der ihnen anhaftete wie Schlamm aus einem trüben Gewässer.
Eine Schwesternschülerin eilte mit ihr zu dem Verletzten.
»Was ist passiert?«, rief Svantje.
»Er ist einfach zusammengebrochen, wir haben ihn nicht mehr wach bekommen«, sagte ein Arbeiter außer Atem. Sie mussten ihren Kollegen über eine weite Strecke getragen haben.
»Wo war das?«, fragte Svantje und dirigierte die Männer zugleich zu einer Pritsche, wo sie den Patienten ablegen konnten
.
»In der Kanalisation, Fräulein, wir sind Kanalarbeiter. Es war im Frischwasserschacht. Es ging ihm schon den ganzen Daag
nich gut, aber er wollte nicht auf mich hören. Er dachte, wenn er sich krankmeldet, verliert er die Stelle.«
»Ines, hol Frau Reinhard, und wenn du sie nicht findest, einen Arzt aus einer anderen Abteilung. Los!«, wies Svantje die Schwesternschülerin an.
Der Mann, der vor ihr lag, war leichenblass. Beinahe, als sei er schon tot. Und Svantje war allein verantwortlich für seine Erstversorgung. Sie atmete tief durch, um sich zur Ruhe zu mahnen, und vertrieb die aufkommende Nervosität. Etwas sagte ihr, dass dies kein gewöhnlicher Patient war.
»Hat er über Schmerzen in der Brust geklagt?«
Der Kollege rang die Hände. »Nee, er hatte sich den Magen verdorben, denke ich. Aber davon wird man doch nicht ohnmächtig. Sie müssen etwas tun!«
Svantje fühlte den Puls, der schwach, aber vorhanden war, und hörte seine hagere Brust ab. Sie konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Sein Herz schlug gleichmäßig, der Atem war flach und wies leichte Nebengeräusche auf, wie bei vielen Armen, die in heruntergekommenen Häusern wohnten. Und dass dieser Mann arm war, das sah sie auf den ersten Blick.
Sie ließ sich von den Männern Name und Adresse des Patienten geben und schickte sie dann fort. Sie wären bei der Versorgung nur im Weg gewesen.
Mittlerweile war zumindest die Oberschwester Frau Reinhard eingetroffen. »Das ist Herr Sahling, er ist nicht ansprechbar, Blutdruck und Herztöne sind in Ordnung.
Seine Kollegen sagen, er habe sich den Magen verdorben. Aber ich bin mir sicher, da steckt mehr dahinter.«
»Ich auch«, stimmte die resolute Schwester zu.
Svantje bewunderte die Frau. Sie verfügte über ein enormes Wissen, beinahe wie ein richtiger Arzt. Zudem war sie einfühlsam und konnte, wenn es hart auf hart kam, auch einen erwachsenen Mann aus eigener Kraft umbetten. Sie vereinte so viele Talente, dass es kaum ins Gewicht fiel, dass sie ein grobes Gesicht mit einem zackigen dunkelroten Mal auf der Wange hatte.
»Bringen wir ihn ins Behandlungszimmer. Und er muss aus diesen Kleidern heraus, sonst verpestet er uns noch den ganzen Raum.«
»Er ist Kanalarbeiter«, flüsterte Svantje, doch ihre Vorgesetzte hatte recht. Hastig steckte sie ihre Haube fester und eilte dann zum Wäschezimmer, wo sie die Krankenhemden aufbewahrten. Als sie zurückkam, versuchte Schwester Reinhard soeben, dem Mann vorsichtig etwas Wasser einzuflößen. Svantje konnte sehen, wie sich seine Augen unter den Lidern bewegten, als habe er einen aufregenden Traum.
Das Wasser rann auf beiden Seiten aus seinem Mund, dann endlich schluckte er, doch er wachte nicht auf.
»Wir müssen dafür sorgen, dass er genug trinkt, schauen Sie.« Die Schwester griff etwas Haut am Unterarm des Mannes mit Daumen und Zeigefinger und zog sie hoch. Als sie losließ, verschwand die Erhebung nur langsam. Ein eindeutiges Zeichen für Dehydrierung.
Gemeinsam hoben sie den Mann nun am Oberkörper an und zogen ihn aus. Während Svantje ihn wusch, betastete Frau Reinhard den Bauch. »Der Magen ist leer, wie ich
erwartet habe, Verhärtungen kann ich nicht spüren, der Blinddarm ist es auch nicht.«
»Ein Glück«, sagte Svantje. Ein entzündeter oder geplatzter Blinddarm bedeutete einen langen, qualvollen Tod und eine Höllenpein, die sich auch durch Laudanum kaum lindern ließ.
»Das werden wir noch sehen.« Die Oberschwester hatte es nicht allzu sehr mit der Hoffnung, dazu hatte sie, ihrer Aussage nach, schon zu viel Schlimmes gesehen.
Gemeinsam zogen sie dem Mann die verdreckte Hose aus. »Er hat sich eingenässt«, stellte Svantje fest.
»Nein, das ist Kot.«
»Es ist fast weiß und wie Wasser.«
»Ich bleibe bei meiner Meinung. Und dieser Mann wird vermutlich nur der Erste sein. Es kommt im Sommer gerade in den heißesten Monaten zu derlei Erkrankungen. Die Kleidung wird nicht nur gewaschen, sondern ausgekocht. Und Sie waschen sich nachher gründlich die Hände mit Kernseife.«
»Ja, Schwester Reinhard.«
Svantje rollte die Kleidung zusammen und legte sie zur Seite, dann wusch sie den Mann und zog ihm Krankenhauskleidung an. Jetzt erst kam er zu Bewusstsein. Stöhnend öffnete er die Augen und sah sich irritiert um. »Wo … wo …?«
»Im Krankenhaus, Herr Sahling. Ihre Kollegen haben Sie hergebracht, nachdem Sie ohnmächtig geworden sind.«
Er sah Svantje verständnislos an.
»Können Sie sich erinnern, was passiert ist?«
»Nee, ich …«
»Wir kümmern uns um Sie. Gleich kommt der Arzt.
«
»Ich habe … kein Geld«, sagte er mit rauer Stimme.
»Darum machen Sie sich bitte keine Sorgen. Möchten Sie etwas trinken? Sie müssen viel trinken.«
Er nickte. Svantje half ihm in eine aufrechtere Position und gab ihm das Glas. Er trank in vorsichtigen Schlucken. Ganz langsam nur, doch nach einigen Minuten reichte er es ihr vollständig geleert zurück.
»Das war sehr gut, Herr Sahling.«
Er verzog seine aufgesprungenen Lippen zu einem Lächeln und sank zurück auf die Liege.
In diesem Moment kehrte die Oberschwester zurück. Sie wurde von einem Arzt begleitet, dessen Blick Bände sprach. Er hatte kein Interesse, sich mit den mittellosen Patienten zu befassen, die im Gegensatz zu den anderen nicht in Zimmern, sondern in zwei großen Sälen untergebracht wurden. Auch Sahling würden sie dorthin bringen, sobald der Arzt ihn untersucht hatte.
Svantje verließ das Untersuchungszimmer mit der Schmutzwäsche und dem benutzten Waschlappen, um sie in die hauseigene Wäscherei zu bringen. Auf einem Täfelchen vermerkte sie den Namen des Patienten und das Kürzel für Kochwäsche, dann schrubbte sie sich die eigenen Hände so lange mit heißem Wasser, Kernseife und einer Handbürste, bis sie sich etwas wund anfühlten.
Als sie zurückkehrte, war noch ein zweiter Arzt hinzugekommen. Er war älter, mit einem üppigen grauen Bart und schütterem Haar. An einer Kette baumelte ein goldener Kneifer, den er hin und wieder aufsetze. Doktor Schawacht war ein besonnener Mann, der jeden Patienten gleich behandelte und oft auch nach Dienstende in den Armensälen vorbeikam
.
Svantje war erleichtert. Jetzt würde Herr Sahling die beste Hilfe zuteilwerden, die im Haus zu finden war.
Die Schwesternschülerin kniete mit einem Aufnehmer neben der Liege auf dem Boden. Offenbar hatte der Kranke das mühsam getrunkene Wasser wieder erbrochen.
Svantje sah in die betretenen Mienen der Ärzte und schnappte nur ein Wort auf. Doch es reichte, um ihr das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.
»Cholera?«, wiederholte Friedrich ungläubig und musterte Svantje, die seinen Blick ruhig erwiderte.
Sie fuhren in einer Mietsdroschke. Er hatte sie abgeholt, nachdem ihre Schicht am Mittag geendet hatte, und war mit ihr zu einem Geschäft für Damenmoden gefahren.
Svantje hatte sich nur ein wenig gesträubt, als er sie überredete, nicht auf die Preise zu achten. Hier ging es nicht um ihren Stolz, der es ihr eigentlich verbot, sich aushalten zu lassen, sondern darum, seine Eltern zu überzeugen. Neu eingekleidet in die aktuellste Mode, war sie nun von einer Dame der besseren Gesellschaft nicht mehr zu unterscheiden.
In all der Hektik und Aufregung vor dem großen Tag war Friedrich zuerst entgangen, dass sie eine Sorge mit sich herumtrug.
Dass sie seine Eltern treffen würde, war für sie beide wie eine Prüfung und für Friedrich auch ein Scheideweg. Sollten sie Svantje ablehnen, würde er mit ihnen brechen. Seine Entscheidung war unumstößlich.
Nun war Svantje endlich mit ihrer Sorge herausgerückt
.
»Und ihr seid sicher, dass es Cholera ist?«, fragte er noch einmal nach.
»Nein. Es gab einen Disput, und schließlich haben sie sich auf Cholera nostra
geeinigt. Brechdurchfall. Er wird durch schlechtes Wasser oder verdorbenes Essen hervorgerufen. Aber etwas sagt mir, dass da mehr ist. Etwas anderes. So geschwächt und blass habe ich noch keinen Menschen gesehen, der nur einen Tag krank war. Angeblich ging es ihm bis zum Abend noch gut. Cholera nostra
tritt im Sommer immer wieder einmal in den Armenvierteln auf, aber dies hier ist anders.«
Er unterbrach sie. »Und diese Cholera nostra
wäre nicht so schlimm?«
»Nicht wie die echte Cholera, nein. Im Gegensatz dazu wird sie hauptsächlich kleinen Kindern und Alten gefährlich. Gesunden, kräftigen Menschen kann sie nicht viel anhaben. Wie gesagt, dieser Brechdurchfall tritt in den Armenvierteln fast jeden Sommer auf, wenn es länger heiß ist.«
Friedrich nickte. »Aber du glaubst, dein Patient heute leidet unter etwas anderem?«
»Ja, so extrem wie bei ihm habe ich die Infektion bislang bei keinem erwachsenen Mann gesehen. Seine Kollegen meinten, er habe sich eventuell am Vortag infiziert. Da ist er in einem Kanal ausgerutscht und war lange unter Wasser. Er kann nicht schwimmen und wäre beinahe ertrunken. Besonders ließ mich aber aufhorchen, dass es in der Trinkwasserzuleitung geschah. Trinkwasser, verstehst du?«
»Dann könnten sich noch mehr anstecken?«
»Ja, das fürchte ich. Kinder sterben schnell an so etwas.«
»Die Arbeiter meinten, durch den niedrigen Pegelstand
der Elbe würde häufiger verschmutztes Sielwasser aus dem Hafen dort eindringen.«
»Und für die nächsten Tage wird kein kühleres oder gar regnerisches Wetter erwartet.«
Svantje schüttelte den Kopf. Sie wirkte niedergeschlagen. Sie so zu sehen gab ihm einen Stich ins Herz. Svantje war mit Leib und Seele Krankenschwester und opferte sich bis zur Erschöpfung für andere auf – einer der vielen Züge, die er an ihr bewunderte und liebte. Friedrich beugte sich zu ihr hinüber und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Du hast alles getan, was du konntest. Es liegt nicht in deiner Hand.«
»Ich weiß«, erwiderte sie leise und verflocht ihre zarten Finger mit seinen. »Es tut mir leid, jetzt habe ich wieder nur vom Krankenhaus geredet.«
»Das macht doch nichts.« Er sah hinaus. Die Kutsche kam langsam voran. Auch die Pferde litten unter der Hitze. Sie fuhren offen, sodass sie frische Luft und bedauerlicherweise auch viel Staub abbekamen. Ein Verdeck sorgte dafür, dass sie wenigstens im Schatten saßen.
»Wir sind gleich da«, sagte er und fühlte seine Nervosität zu einem enervierenden Kribbeln anwachsen.
»Hast du Angst?«, fragte Svantje geradeheraus, wie es ihre Art war.
»Ja, natürlich, aber ich möchte es nicht länger herauszögern. Meine Mutter liegt mir ständig in den Ohren, dass ich mir eine Frau suchen soll, und will mich zu Gesellschaftsabenden zerren, damit ich mich umsehe. Das muss aufhören. Ich habe doch schon die beste gefunden.« Und mit diesen Worten legte er den Arm um Svantjes Schultern und drückte sie an sich
.
»Und ich habe dich, auch wenn ich es gar nicht glauben kann.«
»Was ist daran so schwer zu glauben? Du bist vom Kopf bis zu den Zehen liebenswert.«
Sie lachte, und Röte stieg ihr in die Wangen. »Du kennst meine Zehen nicht.«
»Aber ich kenne deine Familie. Und jetzt sollst du meine kennenlernen.«
In diesem Moment bog die Kutsche von der Straße ab und in die offen stehende Toreinfahrt. Verglichen mit dem Anwesen der Harkenfelds war der Sitz seiner Familie schlicht, eine trutzige Villa mit rechteckigem Grundriss ohne Seitenflügel oder Anbauten. Der Garten war von durchschnittlicher Größe und wies neben einigen Rosenspalieren nur verschiedene Bäume auf. Svantje sah sich dennoch staunend um. Friedrich meinte, sie in seinem Arm schrumpfen zu spüren.
»Nur Mut, sie beißen nicht, zumindest hoffe ich das.«
»Ich werde mich bemühen, dich nicht zu beschämen«, sagte sie leise. »Ich bin so froh, dass wir nur zum Kaffeetrinken dort sind. Bei einem Abendessen würde ich mich sicherlich blamieren.«
»Unsinn.«
»All die verschiedenen Gabeln und Messer … Versprich mir, dass du mir beibringst, was davon welchem Zweck dient. Ich habe genau gesehen, wie abfällig Hilde Harkenfeld mir zugesehen hat. Und behaupte nicht, es stimme nicht.«
Friedrich seufzte. Was sollte er darauf antworten? Befand sich Svantje in ihrem Element, hatte er sie als selbstbewusst und geradezu energisch kennengelernt. Doch wenn
sie unsicher war, beobachtete sie ihre Umwelt und die Mitmenschen genau und lag mit ihrer Einschätzung stets richtig.
»Gehen wir hinein. Überlass mir vorerst das Reden, wir rücken so spät mit deiner Herkunft heraus wie möglich. Wenn sie dich erst einmal ins Herz geschlossen haben, ist der Rest unwichtig.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.«
Friedrich stieg mit einem mulmigen Gefühl aus der Kutsche und half Svantje hinaus. »Spannen Sie ruhig aus, wir werden eine Weile bleiben«, sagte er dem Kutscher. »Und lassen Sie sich in der Küche Essen und Trinken geben.«
»Vielen Dank, Herr Falkenberg.« Der Kutscher machte einen Bückling und widmete sich der Versorgung seiner Tiere.
Svantje klammerte sich an Friedrichs Arm, während sie gemeinsam die Treppe hinaufstiegen. Er betätigte den goldpolierten Klopfer an der schweren Eichentür und lauschte angespannt.
»Ich liebe dich«, flüsterte er, als im Flur Schritte laut wurden. Werner, der Hausdiener, öffnete die Tür und begrüßte sie überschwänglich. Er nahm Svantje Sonnenschirm und Schultertuch ab, dann begleitete er sie hinein.
»Kommen sie nicht zur Tür?«, fragte Svantje so leise, dass er Mühe hatte, sie zu verstehen.
»Nein, sie warten im Wintergarten auf uns.«
Svantje schritt ehrfürchtig an seiner Seite durch den Flur und den Salon, in dem der Vater seine Sammlung Exotika aufbewahrte. Allerlei Schilde und Speere und unheimliche Masken aus Afrika, die er Forschern abgekauft hatte. Ein Hocker aus einem Elefantenfuß war das hässlichste Kuriosum,
das auf ihn schon als Kind eine abstoßende und zugleich faszinierende Wirkung gehabt hatte.
Der Wintergarten, ein filigraner Bau aus Stahl und Glas, war das Reich seiner Mutter, die hier ihre Zitrusbäumchen und Palmen pflegte. Heute waren die großen Glastüren allesamt geöffnet worden, damit der Wind den Raum kühlen konnte. Aufgespannte Leinenbahnen hielten die Sonne ab.
In der Mitte stand ein großer, weiß gedeckter Tisch mit verschiedenen Kuchen und einem Rosengesteck, dem ein süßer, leicht modriger Duft entströmte. Auch den Rosen bekam die Augusthitze nicht gut.
Mutter drehte sich um, als sie die Schritte hörte. Sie war schlank, mit einer jugendlichen Figur. Bis auf einige graue Strähnen im blonden Haar hatte die Zeit ihr nichts anhaben können.
»Da seid ihr ja endlich«, sagte sie und kam mit raschelnden Röcken auf sie zu. Friedrich küsste sie auf die Wange. »Mutter, darf ich Ihnen Svantje Claasen vorstellen, meine Verlobte.«
Die Mutter unterzog sie einer schnellen Musterung, und ihrer Reaktion nach schien Svantje die erste Prüfung bestanden zu haben. »Da hat uns unser Sohn ganz schön überrascht, Fräulein. Willkommen.«
»Vielen Dank für die Einladung, Frau Falkenberg«, sagte Svantje zuckersüß und knickste. »Es bedeutet mir sehr viel.«
»Ah, wie ich sehe, hat mein Sohn einen guten Geschmack.« Der Vater rauschte aus dem Nebenzimmer herein. Mit seiner korpulenten Gestalt und der lauten Art vereinnahmte er den Raum, doch auf eine angenehme Weise, ganz anders als der kalte Harkenfeld senior
.
Svantje begrüßte auch ihn, dann setzten sie sich gemeinsam an die Tafel.
Die erste Zeit verging mit harmlosen Plaudereien. Friedrich erzählte davon, wie sie sich bei einer Jahrmarktsattraktion kennengelernt hatten und danach ihre Beziehung bei mehreren Spaziergängen vertieften. Wie beiläufig ließ er fallen, dass Svantje auch mit den beiden älteren Harkenfeld-Sprösslingen bekannt war.
Mutter schluckte den Köder … vorerst. Es kam Friedrich vor, als gewährten sie Svantje noch etwas Schonzeit, bevor sie seine Verlobte ruhig, aber gründlich unter die Lupe nehmen würden. Bei seinem Vater schien das Eis bereits gebrochen, Svantjes Lächeln zeigte Wirkung. Mutter ließ sich Zeit, bis alle ihren Kuchen gegessen hatten und das Kaffeegeschirr abgetragen worden war.
Sie nippte an einem Fruchtlikör, dann räusperte sie sich. »Sagen Sie, Fräulein Claasen, wofür interessieren Sie sich? Sticken? Kunst vielleicht? Oder hübsche Pflanzen, so wie ich?« Typische Freizeitvergnügen für eine Dame der Gesellschaft. Dass Svantje einen Beruf haben könnte, kam ihr gar nicht in den Sinn.
»Ich lese gern. Ihre prächtigen Zierpflanzen habe ich bereits bewundert, Frau Falkenberg, Sie müssen wirklich ein Händchen dafür haben. Ich finde die grüne Natur auch sehr interessant, besonders Heilpflanzen.«
Friedrich hätte sie am liebsten für ihre geschickte Antwort umarmt.
»Ach, wie schön. Dann pflegen Sie also ganz andere Gewächse in Ihrem Garten als ich.«
»Bedauerlicherweise habe ich keinen eigenen Garten, aber das wird sich ja vielleicht bald ändern.
«
»Sicher! Ein Haus ohne Garten, das ist doch nichts«, mischte sich Friedrich ein, bevor Mutter das Gespräch vertiefen konnte und das Interesse womöglich noch auf Svantjes Wohnort fiel.
»Darf ich Ihnen auch eine Frage stellen, Fräulein?«, meldete sich überraschenderweise Vater zu Wort.
»Ja natürlich, Herr Falkenberg.«
»Sie wissen, dass Friedrich irgendwann mein Geschäft übernehmen wird, so wie ich zuvor in die Fußstapfen meines Vaters getreten bin. Welchem Beruf geht ihr Vater nach?«
Friedrich sah genau, wie sich Svantjes Schultern versteiften. Dies war eine der schwierigen Fragen, die sie gedanklich durchgespielt hatten.
»Mein Vater arbeitet seit über zwanzig Jahren bei Herrn Harkenfeld in der Werft.«
»Guter Mann. Ich kenne Harkenfeld schon lange. Wir spielen zusammen Karten, auch wenn meine Frau das nicht gerne sieht. Ihren Vater hat er jedoch bislang nicht erwähnt.«
Es war vorbei, wurde Friedrich klar. Früher oder später würden sie es ohnehin herausfinden. Wenn sie Svantje nicht um ihrer selbst willen mochten, würde diese Scharade es auch nicht retten. Er lehnte sich zu Svantje. »Sag es ihnen, Liebes.«
»Wirklich?«
»Hmhm.« Er nahm ihre Hand in seine.
Svantje räusperte sich. »Ich denke nicht, dass Herr Harkenfeld meinen Vater kennt. Denn Vater arbeitet als Hilfsarbeiter, seitdem wir unseren Bauernhof bei Hochwasser verloren.
«
»Hilfsarbeiter?«, wiederholte Mutter dünn und blinzelte hektisch.
»Ja, Sie hören richtig, Mutter, und ich bin mir sicher, dass Herr Claasen mehr geackert hat als Vater, Onkel und ich zusammen. Er ist ein bewundernswerter Mann, der es geschafft hat, eine fünfköpfige Familie durchzubringen, nachdem er alles verloren hatte.«
Svantje war auf ihrem Stuhl zusammengesunken, ihre freie Hand zitterte, die andere hatte sie so fest mit seiner verflochten, dass es schmerzte. Sie würden zusammenhalten, komme, was wolle. Als Erinnerung an sein Versprechen strich er mit dem Daumen über ihren Puls, und plötzlich schien eine Veränderung in Svantje vorzugehen. Sie musste nicht mehr vorgeben, jemand anderes zu sein. Dieses Gefecht hatten sie längst verloren. Sie atmete tief durch, richtete sich auf und sah erst Mutter, dann Vater Falkenberg in die Augen. »Ich muss mich nicht für meine Herkunft schämen. Die kann sich niemand aussuchen. Die Claasens sind eine anständige Familie. Ich will keine Almosen von Ihnen beiden, ich habe eine Anstellung und kann gut für mich selbst sorgen. Aber ich liebe Ihren Sohn. Deshalb und nur deshalb bin ich hier.«
Friedrich wurde ob ihrer Worte warm ums Herz. Am liebsten hätte er sie in diesem Moment geküsst oder in den Arm genommen und so lange an sich gedrückt, wie sie es zuließ. Doch stattdessen erwiderte er stur den Blick seines Vaters und wartete auf dessen Antwort. Mutter war derart blass geworden, als würde sie im nächsten Moment ohnmächtig. »Wenn du dieses Mädchen geschwängert hast, dann findet sich sicher eine Lösung, die weniger, weniger …« Sie fächerte sich mit einem Taschentuch Luft zu
.
»Wie viel wollen Sie?«, fragte Vater Svantje direkt.
Friedrich glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Er wollte antworten, doch Svantje kam ihm zuvor.
»Wie können Sie nur so etwas sagen«, begann sie mit bebender Stimme. »Glauben Sie etwa, nur weil ich von Gott nicht mit Reichtum gesegnet worden bin, fehlt es mir an Benehmen? Ihr Sohn ist ein anständiger Mann, und ich bin eine sittsame Frau.«
»Schön«, sagte Mutter, »da haben wir wohl noch einmal Glück gehabt. Dann ist die Verbindung hiermit gelöst, bevor sie gesellschaftlichen Schaden anrichtet. Die Falkenbergs sind schließlich nicht irgendwer.«
Friedrich hatte es immer geahnt, doch jetzt, da ihm aus dem vertrauten Gesicht seiner Mutter eine derartige Kälte entgegenschlug, war er trotzdem nicht darauf gefasst. Er fühlte sich, als sei er für etwas bestraft worden, das er nicht getan hatte.
»Das ist der Wunsch von Ihnen beiden?«, fragte er beherrscht.
Vater nickte, Mutter wandte den Blick ab.
»Svantje, ich denke, wir sollten gehen.« Sie standen auf. Inzwischen kannte er Svantje gut genug, um ihren inneren Aufruhr zu spüren, auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen – ihm zuliebe, da war er sicher.
»Mutter, Vater, ich werde ab heute meine Stadtwohnung beziehen.«
»Was für eine Stadtwohnung?« Mutters Stimme wurde unangenehm schrill, und auf ihren Wangen sprossen rote Flecke.
»Ich habe geahnt, dass es so kommen würde, und habe Vorkehrungen getroffen. Wir wollten es trotzdem versuchen.
Ich liebe Svantje und werde sie heiraten, ganz gleich, wie viele Steine Sie uns in den Weg legen.«
»Du kehrst deinen Eltern den Rücken, um mit so einer in der Gosse zu hausen?« Mutter war aufgestanden und fegte eine Schale vom Tisch. Äpfel und Erdbeeren rollten über den Boden.
Svantje war zusammengezuckt. Friedrich drückte sie an sich, um sie vor dem Sturm zu beschützen, den seine Mutter entfacht hatte. »Komm«, sagte er mit aller Beherrschung, die er aufbringen konnte.
»Wenn du jetzt gehst …«, dröhnte der Bass seines Vaters.
Svantje wand sich aus seinem Armen. »Überlegen Sie, was Sie sagen, Herr Falkenberg. Er ist Ihr einziger Sohn.«
Friedrich schob Svantje, die kurz davor schien, seinen Eltern die Meinung zu sagen, aus dem Wintergarten. Erst im Flur gab sie ihren Widerstand auf und eilte mit ihm zur Tür.
Friedrich hörte seine Mutter schluchzen, dann ging noch etwas zu Bruch. Vater schwieg. Zum Glück, denn er war ein Mann, der zu seinem Wort stand. Hätte er Friedrich jetzt aus der Familie verstoßen, hätte es kein Zurück mehr gegeben. Dazu war Falkenberg senior zu stolz.
Die Hysterie seiner Mutter konnte er ertragen, sie kam und ging wie ein Sturm. Vater fürchtete nicht so sehr um seine gesellschaftliche Stellung wie sie, und er mochte Svantje, das hatte Friedrich gemerkt.
Vor dem Haus angekommen, empfing sie brütende Hitze. Der Kutscher stand mit den ausgespannten Pferden an der Hand unter einem Baum, wo die Tiere grasten. Als er sie nun aus dem Haus kommen sah, zerrte er die beiden Rappen grob vom Futter fort
.
»Herr Falkenberg, man hat mir nicht Bescheid gegeben, es tut mir leid …«
»Spannen Sie in Ruhe an, wir gehen schon einmal voraus.« Er wandte sich Svantje zu, die nur mühsam die Tränen zurückhielt. Die Stärke, die sie eben noch bewiesen hatte, bröckelte. »Oder möchtest du warten?«
»Nein, bitte nicht.«
Er nahm ihr den Sonnenschirm ab, spannte ihn auf, und sie traten auf die Straße hinaus, die von üppigen Alleebäumen beschattet wurde. Friedrich sah nicht zurück.
»Es tut mir leid«, sagte er.
»Mein Liebster, du solltest es dir noch einmal überlegen«, begann sie gefasst. »Ich möchte nicht, dass du meinetwegen deine Familie verlierst. Wir haben gewusst, dass wir auf Widerstand stoßen werden. Aber ist es das wert? Sie sind schließlich deine Eltern.«
»Vater wird sie schon zur Vernunft bringen, und wenn nicht … wir haben einander und bald vielleicht auch eine kleine Familie. Mir reicht das, wenn es auch dir genügt.«
»Ja, aber ja doch«, erwiderte sie, und endlich kehrte ihr Lächeln zurück.
Tagelang hatte Richard wieder und wieder alles durchgerechnet, und endlich stand sein Plan. Als er die Zahlenkolonnen und Spalten vor sich sah, sorgfältig abgeschrieben, war er aufgeregt wie ein Kind am Weihnachtsabend. Vater musste bei dieser Sache einfach mitspielen, schon um mögliche Streiks abzuwenden und die reibungslose
Produktion zu gewährleisten. Wenn er sein Vorhaben durchbekam, dann wäre die Lage der Arbeiter in Zukunft viel besser, ohne dass es Harkenfeld allzu sehr kostete.
Um vierzehn Uhr hatte er einen Termin mit ihm, nur er und Vater, kein Vorarbeiter, Sekretär oder Teilhaber.
Endlich war es so weit. Mit schweißfeuchten Händen öffnete Richard die Tür ins Büro. Sein Vater sah nicht einmal auf. Vor ihm lagen Blaupausen eines weiteren Trockendocks, noch größer als alle bisherigen. Stählerne Auswandererschiffe, darin sah er die Zukunft der Firma.
»Komm her und sieh dir das an«, sagte er ohne Umschweife. Richard trat an den Tisch und war wie immer fasziniert von der Kunstfertigkeit, mit der die Statiker und Konstrukteure ihre Zeichnungen anfertigten.
»Beeindruckend«, sagte er.
»Wir müssen aufschütten. Selbst wenn wir Dock 1 und 2 opfern, brauchen wir mehr Land.« Dann sah Hans Werner Harkenfeld sah auf. »Was hast du da?«
»Meine Berechnungen. Sie erinnern sich doch, das Gespräch mit den Arbeitervertretern. Ich habe überlegt, was wir umsetzen können und wie.«
»Umsetzen? Ich dachte, ich hätte dich dahin geschickt, um diesen anmaßenden Kerlen ihre Flausen auszutreiben?«
»Darf ich mich setzen?«, fragte Richard, ohne sich anmerken zu lassen, dass das Gespräch seiner Meinung nach eine völlig falsche Richtung einschlug.
Der Senior wies auf einen hochlehnigen Stuhl, und Richard zog ihn heran, bis er an der Kurzseite des Schreibtischs Platz nehmen konnte. »Ich habe Berechnungen angestellt, und ich denke, dass wir eine Lösung finden
können, bei der keine von beiden Seiten das Gesicht verliert.«
Harkenfeld schnaubte abfällig und schob seine Blaupausen zur Seite.
»Du weißt, wie es in anderen Werften zugeht. Bei Gruhn & Piper streikt die gesamte Belegschaft, bei Stadtnick gab es nach Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Werksdienst mehrere Verletzte und einen Toten. Das ist nicht gut für das Geschäft, die Arbeiten ruhen, die Aufträge stagnieren, und die Zulieferer erwarten trotzdem ihr Geld. Bei uns könnte es anders gehen. Und während die Konkurrenz ihre Termine nicht einhalten kann …«
»Zeig her, deinen Kniefall.«
Richard schob seinem Vater das Papier herüber und beobachtete Harkenfeld seniors angestrengte Miene. Er setzte sich eine Brille auf, las und las noch einmal. Sein Gesicht verfärbte sich langsam ins Rötliche.
Richard schluckte.
»Das nennst du einen Kompromiss?«
»Es ist weit günstiger als alles andere. Die Folgen eines Streiks wären unabsehbar, und wenn Sie die Werkswacht weiter aufstocken wollen, können Sie für das gleiche Geld leichter dafür sorgen, dass unsere Arbeiter zufrieden sind und stolz auf die Harkenfeld-Werft.«
»Die Gehaltserhöhung kannst du vergessen.«
Richard hatte geahnt, dass Vater genau darauf anspringen würde, und sie extra hineingeschrieben, damit er protestieren konnte. Was er nun auch tat. Der Senior zückte seinen Füller und strich den Punkt durch. Doch damit war es nicht getan. Er strich auch die Witwenrente und die für Krüppel. Nach und nach strich er alles. Einfach alles
.
»Das können Sie nicht machen, die Männer werden streiken.«
»Sollen sie doch. Wenn auf allen Werften gestreikt wird, wandern auch keine Kunden ab. Dann werden wir sehen, wer den längeren Atem hat. Die Zulieferer bekomme ich schon auf die Spur, glaub mir, Junge. Wir müssen hart bleiben. Die Werften in Rostock haben es versucht, eine ist jetzt schon bankrott, die andere wurde kurzzeitig von einem Arbeiterrat übernommen, bevor die Polizei die verdammte Bande rausgeprügelt hat. Glaubst du denn, diesen Leuten reichen ein paar kleine Gefälligkeiten? Nein, sie wollen mehr, immer mehr. Falls du, mein Sohn, nicht die Zeitung liest, erkläre ich es dir. In Paris bomben Anarchisten die Stadt zusammen. Das
passiert, wenn man ihnen das Gefühl gibt, einen Fuß in die Tür zu bekommen.«
»Das sind Anarchisten, Vater! Nicht deine Arbeiter, die um eine Rente für ihre Witwen bitten, wenn sie hier auf den Docks ums Leben kommen.« Nun war auch Richard laut geworden. Unter dem glühenden Blick seines Vaters zwang er sich wieder zur Ruhe. »Wenn Sie wünschen, dass ich irgendwann die Werft übernehme, dann müssen Sie das Unternehmen der geänderten Zeit anpassen.«
Der Senior schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wer sagt, dass du die Werft bekommst?«
»Aber ich …«, stotterte Richard. Nun hatte er sich endlich damit angefreundet, sein Leben dieser Aufgabe zu widmen und aus der Werft ein Unternehmen zu machen, das nicht nur unter Geschäftspartnern, sondern auch bei den Arbeitern einen guten Ruf genoss – und nun das?
»Wenn du weiter so vor dem Proletariat buckelst und
kriechst, lasse ich die Geschäfte treuhändisch verwalten, bis dein kleiner Bruder alt genug ist. Aber ein Sozialistenwerk mache ich nicht daraus!«
»Vater, bitte, beruhigen Sie sich.«
»Beruhige dich, beruhige dich!«, äffte der alte Harkenfeld und sprang auf, dann fasste er sich an die Brust. »Du bringst mich noch einmal um mit deinen tolldreisten Ideen.«
Sein schwaches Herz setzte der Diskussion ein Ende, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Wenn Richard eines nicht wollte, dann seinen Vater unter die Erde bringen.
»Ich bitte Sie ja nur, noch einmal darüber nachzudenken.«
Harkenfeld schnaufte, als bekäme er schlecht Luft. »Da gibt es … nichts … nachzudenken. Ich habe mich gestern mit den anderen Eignern getroffen. Wir haben beschlossen, ihnen nicht den kleinen Finger zu reichen. Denn so können sie uns hinterher auch nicht die ganze Hand abreißen. Nein! Bei Harkenfeld bleibt alles so, wie es immer gewesen ist.«
»Aber wofür haben Sie mich dann überhaupt in die Gespräche gehen lassen?« Richard fühlte sich hilflos.
»Damit diese Kerle ruhig bleiben, bis wir uns eine gemeinsame Strategie überlegt haben.«
»Und die Strategie besteht darin, dass nichts passiert?« Richard schwieg kurz, dann sagte er ruhig: »Verzeiht mir, Vater, aber ich gehe. Die letzten Abende sind lang geworden, weil ich das hier«, er tippte energisch auf sein Papier, »ausgerechnet habe, im Sinne der Firma, der Zukunft. Doch Sie …«
Tief enttäuscht kehrte er seinem Vater den Rücken. Er
wusste, dass er sich auf einem schmalen Grat bewegte, aber er ging trotzdem.
Ausnahmsweise einmal brüllte ihm der Vater nicht hinterher.
Richard verließ das Verwaltungsgebäude auf der Rückseite und überquerte den Hof, um zu den Stallungen zu gelangen.
»Herr Harkenfeld?«, rief jemand.
Ausgerechnet das noch, ausgerechnet jetzt. Seine Beine fühlten sich an, als liefe er durch zähen Morast. Er war zu langsam, um dem Rufer zu entkommen.
Leichtfüßig holte Raik Alberts auf. »Herr Harkenfeld, wie mir zu Ohren gekommen ist, haben Sie heute mit Ihrem Vater über unsere Forderungen gesprochen.«
Richard blieb stehen und wandte sich dem jungen Mann zu. Der erkannte mit einem Blick, dass er und seine Kameraden sich umsonst Hoffnungen gemacht hatten. Richard war noch immer völlig aufgewühlt. Er konnte nicht glauben, dass sein Vater ihn benutzt hatte wie eine Marionette. Dass er sich die Nächte um die Ohren geschlagen hatte, um etwas Gutes zu erreichen, was nie auch nur die Chance gehabt hatte, Gehör zu finden. Gott, war er blauäugig gewesen! Der Vater hatte recht, er war nicht der richtige Mann für dieses Geschäft, war nicht skrupellos genug.
»Und?«, hakte Alberts nach und riss ihn damit aus seinen Gedanken.
»Ich habe sie ihm vorgelegt, ja. Ich habe Rechnungen aufgestellt, wie wir einige Punkte umsetzen könnten. Er hat alles abgeschmettert. Wenn Sie Ihre Forderungen erreichen wollen …«, er senkte die Stimme. »Wenn Sie etwas erreichen wollen, streiken Sie, nicht nur hier, sondern in al
len Werken gleichzeitig. Die wollen es gemeinsam aussitzen.«
Raik Alberts riss überrascht die Augen auf, wollte etwas erwidern, doch Richard ließ ihn einfach stehen.
Denn auf einmal wusste er, was zu tun war. Dass es für ihn nur einen Weg gab, den zu gehen er nun endlich bereit war.