E lsa blickte in den kristallklaren Teich und murmelte jenen Zauberspruch, der einem berühmten Mann schon bald den Tod bringen würde.
»MORTIS PARAMEN ET OMNIS GRAVIS …«
Die Worte hallten zurück von den Felswänden, winzige Wellen kräuselten sich auf der Oberfläche des Wassers. Aus Ritzen im Gestein plätscherten kleine Rinnsale und bildeten Pfützen auf dem Steinboden. In der Höhle war es finster wie in einem Grab und auch genauso kalt. Doch Elsa spürte die Kälte nicht. Sie kniete auf dem felsigen Untergrund und starrte fasziniert auf die Wasseroberfläche, die sich nach und nach glättete. Wabernde Schemen waren darauf zu erkennen. Zuerst nur undeutlich, dann immer klarer, wie Spiegelbilder. Ein hohes verschlossenes Burgtor, davor Wachen mit Hellebarden, weitere Männer, die sich verstohlen mit Schwertern und Spießen näherten …
»Siehst du?«, zischte eine Stimme hinter ihr. Sie klang gebieterisch und zärtlich zugleich. »Es ist ganz einfach. Jedenfalls für dich …« Ein Kichern ertönte aus der Dunkelheit. »Für dich ist alles einfach, meine kleine schwarze Hexe. Nicht wahr?«
Waldemar von Schönborn trat mit einer Fackel lautlos an sie heran, wie ein lebendiger Schatten. Doch Elsa erschrak nicht. Wieso auch? Schönborn war ein Zauberer, aber er war auch ihr Vater und Lehrmeister, derjenige, der ihr den wahren Weg gewiesen hatte; der ihr gezeigt hatte, wer ihre Freunde und wer ihre Feinde waren. Jene, die sich ihnen entgegenstellten, waren Feinde, das hatte Schönborn immer wieder gepredigt. Und Freunde hatte Elsa eigentlich nicht. Oder doch? Irgendwo tief in ihrem Gedächtnis tauchte ein Junge auf.
Li… La… Lukas …
Seltsam, dass ihr dieser Name gerade in den Sinn kam. Ihre Erinnerungen waren verschwommen, ein dichter Nebel umgab sie, seitdem sie, ja, wann eigentlich … dieses riesige unterirdische Gewölbe betreten hatte.
Vor einem halben Jahr? Einer Ewigkeit?
In Elsas Kopf steckten so viele Zaubersprüche, so viel neues Wissen, so viele Geheimnisse, dass für Menschen und Erinnerungen kein Platz mehr war.
Menschen und Erinnerungen waren nicht wichtig.
Wichtig war nur die … Macht.
Waldemar von Schönborn steckte die Fackel in eine Felsspalte und kniete sich neben sie. Auch hier unten, in der ewigen Finsternis, trug er seinen roten Kardinalsmantel. Er sah darin aus wie ein ungekrönter König. Auf einem steinernen Tisch am Rande des Teichs lagen ein Totenkopf, ein toter Rabe, der winzige zerbrechliche Schädel eines Salamanders und etwas Glitschiges, Weißes mit vielen Beinen, das Schönborn vorher noch aus dem Teichwasser gefischt hatte und das nun tot in einem großen venezianischen Kristallglas schwamm. Mit Kohle war um die Gegenstände ein großes Pentagramm gemalt.
Die magischen Zutaten bildeten einen Kreis, in dessen Mitte sich ein leicht rostiger, gepanzerter Handschuh befand. Vor allem Letzterer war unerlässlich für den Spiegelzauber. Der Handschuh gehörte einem Mann, der zu den Mächtigsten des Reiches zählte. Gerade eben enthüllte der magische Spiegel eine Burg im böhmischen Eger.
Das Versteck des großen Feldherrn Wallenstein.
Der Spiegel zeigte Menschen, die weit entfernt waren, viele hundert Meilen weit weg. Den einstigen Oberbefehlshaber der Kaiserlichen ausfindig zu machen, war eine Sache. Doch über eine so große Entfernung zu töten , dazu war nur Elsa in der Lage. Nicht einmal Waldemar von Schönborn hatte die Macht dazu. Trotz ihrer erst zwölf Jahre war sie jetzt schon mächtiger als ihr Vater und Lehrmeister.
»Lass uns beginnen.« Schönborn deutete auf die beiden Wachen vor dem Burgtor, die sich schimmernd auf der Wasseroberfläche abzeichneten. »Fangen wir mit dem Schlafzauber an, eine der einfacheren Übungen. Du kannst ihn doch noch, oder? Denk daran, was ich dir beigebracht habe!«
Elsa nickte. »SOMNIS MENTOR«, murmelte sie. »NUNC!«
Es war, als hätte ein unsichtbarer Hammer die Wachen am Kopf getroffen. Ihre Beine knickten weg, und sie sanken zu Boden. Die bewaffneten Soldaten eilten herbei. Sie suchten in der Kleidung ihrer Opfer nach den Schlüsseln, öffneten geschwind das Tor und stürmten in den Vorhof. All das geschah völlig geräuschlos, nur das Plätschern von Tropfen war in der Höhle zu hören.
»Jetzt die zwei Kerle oben an der Treppe!«, flüsterte Schönborn. Die Fackel warf einen Schatten seines bleichen Gesichts an die Felswand, die scharfgeschnittene Hakennase sah aus wie der Schnabel eines Raubvogels. »Hol sie dir mit der Blitzfaust! Nun mach schon!«
»PARVEX VENETUM!«, rief Elsa. Ihre Stimme schwoll an wie ein Gewitter. »IGNIS!«
In der schillernden Oberfläche sah sie nun zwei Feuerbälle, die sich als Irrlichter auf die Wachen oben an der Burgtreppe zubewegten. Die Feuerbälle fegten die Männer wie dürres Klaubholz zur Seite.
Elsa kicherte. Es war ein Spiel, ein köstliches Spiel! Und willkommene Abwechslung in ihrem sonst so ereignislosen Leben im Bauch des Berges. Sie gab Befehle, und vor ihr im Wasser bewegten sich kleine Männchen, rannten um ihr Leben, taumelten, stürzten, starben ...
»Gut so, Mädchen!«, lobte Schönborn. »Jetzt öffne die Tür, schnell!«
»FORAMEN PORTA!«, donnerte Elsa. Die Tür oben an der Treppe schwang auf wie von Geisterhand. Die bewaffneten Soldaten stürmten in den Gang dahinter. Schönborn wedelte mit der Hand, das Wasser kräuselte sich, und das Bild auf der Oberfläche wechselte schlagartig. Elsa sah die Männer jetzt vor einer anderen massiven Tür stehen.
»FORAMEN PORTA!«, befahl sie ein weiteres Mal. Auch diese verschlossene Tür konnte ihrer Macht nicht standhalten.
Dahinter war ein Schlafzimmer zu erkennen, mit einem großen Himmelbett darin. Ein älterer, blasser Mann mit einem Spitzbart, bekleidet nur mit Nachthemd und Hausrock, stand in der Mitte des Raumes. Er hob abwehrend die Hände, als die Soldaten mit ihren Spießen und Schwertern den Raum stürmten. Noch immer war kein Geräusch zu hören, in der Höhle war es totenstill.
»Wallenstein!«, keuchte Schönborn. »Der Dummkopf ist doch tatsächlich ganz allein! Er glaubt wohl, er ist unantastbar.« Er grinste böse. »Aber das ist er nicht. Nicht für dich, mein Täubchen! Bist du bereit, das Schicksal der Welt zu verändern?«
Elsa nickte ein weiteres Mal.
»Dann tue es«, befahl er ihr. »Den Todeszauber! Jetzt!«
Elsa zögerte. »Aber …«, begann sie.
»Ich sagte, tue es! Zeig, dass du das Zeug zu einer mächtigen Zauberin hast. Dein Vater befiehlt es dir!«
Mit überschnappender Stimme schleuderte Elsa dem Wasser im Teich ihren letzten Spruch entgegen.
»CRANIX, MORS, PENUNTIA! NUNC, MANIFESTATE!!!«
Sie sah noch, wie einer der mörderischen Spieße durch den Raum sauste, als würde er an einer unsichtbaren Schnur gezogen. Er flog direkt auf den alten Mann zu. Dieser wich erschrocken zurück, öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei … Dann trübte sich mit einem Mal die Teichoberfläche, das Wasser war nicht mehr klar, die Gestalten und der Raum verschwanden nach und nach.
Stattdessen färbte sich das Wasser blutrot.
»Jetzt, Elsa, kann uns nichts mehr aufhalten«, sagte Waldemar von Schönborn befriedigt. Schweiß stand ihm auf der Stirn, Speichelfäden hingen in seinen Mundwinkeln wie Geifer bei einem Raubtier. »Du hast deine Prüfung bestanden. Summa cum laude ! Besser geht es nicht.« Er stand auf und klatschte in die Hände, sodass es in der Höhle hallte wie vom Flattern tausender Fledermausflügel.
»Gemeinsam werden wir schon bald die Welt beherrschen!«, rief der Zauberer. »Ist das nicht wunderbar?«
»Ja, Vater«, flüsterte Elsa. »Wunderbar …«
Sie lächelte matt, das Zaubern machte sie immer sehr müde. Müde und erschöpft, als wäre sie eine weite Strecke ganz allein gerannt.
Erst jetzt spürte Elsa die Kälte.