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Sechs Wochen später auf Burg Lohenstein bei Heidelberg …

D ie Eichentruhe war mit Eisenbändern verstärkt, die jeweils mit dicken Bolzen vernagelt waren. Drei Vorhängeschlösser hingen vorne daran. Zusätzlich war der schwere Behälter am Boden verschraubt, und wurde an allen vier Seiten mit Ketten beschwert, die mit harten Nieten in die Wand geschlagen waren. Ganz zu schweigen von den meterdicken Wänden des Bergfrieds ringsum …

Sonst könnte das Ding womöglich wegfliegen , dachte Lukas.

Gedankenverloren stand er vor der Truhe, die flackernde Laterne in der Hand, tief unten in der elterlichen Burg. Manchmal fragte er sich selbst, ob all diese Vorsichtsmaßnahmen wirklich nötig waren. Doch nur so konnte er halbwegs beruhigt schlafen. Immerhin befand sich in der Truhe das mächtigste Zauberbuch der Welt.

Das Grimorium Nocturnum. Das Buch der Nacht.

Einst hatte es Lukas’ und Elsas Mutter gehört, die eine sogenannte Weiße Hexe gewesen war. Sie hatte es gut versteckt, auch weil sie wusste, was für eine böse Macht dem Buch innewohnte. Das Grimorium hatte Elsa verhext. Seit fast einem Dreivierteljahr war seine kleine Schwester spurlos verschwunden, zusammen mit dem Inquisitor und Schwarzmagier Waldemar von Schönborn. Das Buch hingegen war bei Lukas geblieben, seitdem hütete er es wie seinen Augapfel.

Wie einen bösen gefährlichen Drachen , ging es ihm durch den Kopf.

Deshalb hatte er es hier unten in der Truhe weggesperrt. Von Zeit zu Zeit ging er hinunter in den stinkenden Kerker des Bergfrieds, um nach dem Rechten zu sehen. Er überprüfte die Schlösser, rüttelte an den Nieten … Wenn er ehrlich war, zog es ihn auch aus einem anderen Grund hierher. In der Finsternis und Stille des Kerkers verlor er sich in seinen Erinnerungen. Hier unten im Bergfried hatte alles angefangen. Damals vor fast drei Jahren, als Schönborn und seine Schergen gekommen waren und seine Eltern getötet hatten. Das war ausgerechnet sein dreizehnter Geburtstag gewesen.

Es kam Lukas vor wie eine Ewigkeit.

»He, bist du da unten eingeschlafen?«, ertönte eine Stimme von oben. »Oder hältst du ein Schwätzchen mit den Ratten?«

Lukas blickte auf und erkannte in dem hellen Viereck der Kerkerluke Giovannis Gesicht.

Sein Freund grinste breit. »Hier steckst du also! Ich hab dich schon überall gesucht.«

»Ich … ich wollte nur mal schauen, ob …«, begann Lukas.

»Jaja, ob sich der verdammte Schwarzmagier Schönborn nicht als Maulwurf bis zum Buch durchgegraben hat«, ergänzte Giovanni. »Meinst du, ich wüsste nicht, warum du immer wieder da runtergehst? Wir haben doch gar keine Ahnung, ob Schönborn überhaupt noch lebt.« Er rümpfte die Nase. »Bäh! Es stinkt, und es ist kalt und dunkel da unten. Da kommt man nur auf dumme Gedanken. Außerdem warten alle auf dich.« Giovanni runzelte die Stirn. »Oder hat der junge Herr Baron etwa die Schwertleite vergessen?«

»Die Schwertleite!« Lukas schlug sich an den Kopf. »Verflucht, du hast recht.«

Geschwind kletterte er die Leiter nach oben, wo ihn Giovanni bereits lächelnd erwartete. »Die neuen Schwertträger machen sich fast in die Hose vor Aufregung. Alle sind gekämmt und geschniegelt wie die Grafensöhne. Außerdem haben wir alle einen Bärenhunger! Die Köchin hat die Wildsau am Spieß gebraten, die Paulus gestern noch erlegt hat. Das wird ein Festessen!«

»Wenn Paulus die Sau nicht schon vorher selbst aufgegessen hat«, ergänzte Lukas grinsend, während sie über den schmalen Gang vorbei an den Schießscharten hinüber zum Burghof gingen. Tatsächlich hätte er dort unten im Kerker, beladen mit all den trüben Gedanken und Erinnerungen, fast das Fest der Schwertleite vergessen. Eigentlich wurden auf diese Weise nur adlige Söhne zu Rittern geschlagen. Doch Lukas hatte das Fest eingeführt, um den Burgbewohnern seine Anerkennung zu zollen. Gemeinsam hatten sie die von Schönborns Soldaten zerstörte Burg im letzten Jahr wieder aufgebaut, und sie hatten auch manchen Kampf zusammen gefochten.

Burg Lohenstein lag hoch oben im Odenwald, einem großen bewaldeten Gebirge nordöstlich von Heidelberg. Ein paar Mal war die abgelegene Burg von streunenden Söldnern angegriffen worden, doch diese hatten jedes Mal schnell das Weite gesucht. Die Burgbesatzung war bestens ausgebildet, und das, obwohl sie fast nur aus halbwüchsigen Jungen und Mädchen bestand. Lukas und seine Freunde, die Musketiere Giovanni, Jerome und der dicke Paulus, hatten als Fechtlehrer ganze Arbeit geleistet.

Noch immer herrschte Krieg im Deutschen Reich. Lukas hatte aufgehört zu zählen wie viele Jahre schon. Mit seinen Gefährten hatte er so manches Abenteuer bestanden. Erst vor einem halben Jahr hatten sie die legendären Reichsinsignien in Prag sichergestellt. Schönborn hatte sie für eine finstere Beschwörung gestohlen, der der Deutsche Kaiser beinahe zum Opfer gefallen war.

Schon zuvor hatte Lukas erfahren, dass Waldemar von Schönborn Elsas leiblicher Vater war. Sehnlichst wünschte sich Lukas seine mittlerweile zwölfjährige Schwester zurück, doch als er sie das letzte Mal in Prag gesehen hatte, hatte sie ihn abgrundtief gehasst. Sie stand nun ganz im Bann ihres Vaters.

Lukas öffnete die Tür zum Burghof, und der helle Sonnenschein blendete ihn. Tief unten im finsteren Bergfried hatte er ganz vergessen, dass der Frühling sich mittlerweile regte. Der Schnee im Hof war weggetaut, die Sonne schien mild über die Burgmauer. Es war Mittag, die Mägde hatten den Hof mit grünen Zweigen geschmückt, auf langen Tafeln standen dampfende Schüsseln und Krüge. Eben trugen zwei ächzende Küchenjungen die Wildsau am Spieß herein, die Paulus mit seiner Armbrust erlegt hatte. Die Burgbewohner prosteten Lukas zu.

»Na, Giovanni, hast du ihn am Ende doch noch irgendwo ausgegraben!«, rief Paulus, der wie immer den größten Humpen in der Hand hielt. »Wir dachten schon, er will sich drücken.« Paulus war von Lukas’ Freunden der größte und stärkste. Mit seinen 17 Jahren war er auch der älteste von ihnen, schon fast ein Mann, was man auch an seinem beginnenden Bartwuchs erkannte.

»Vor was drücken?«, fragte Lukas verwirrt.

»Une petite surprise , eine kleine Überraschung.« Jerome zwinkerte ihm zu. Für die Schwertleite hatte der hübsche Franzose sein bestes Wams angezogen und sich die langen weißblonden Haare gekämmt. Wie so oft saß er inmitten der kichernden Mägde und war der sprichwörtliche Hahn im Korb.

»Ah, oui ! Die Leute wünschen sich einen Kampf so wie früher. Wir sollen ihnen zeigen, wie die Schwarzen Musketiere fechten.«

Die Schwarzen Musketiere waren eine Eliteeinheit, der vor langer Zeit auch Lukas’ Vater angehört hatte. Sie galten als die besten Kämpfer im Reich.

Lukas stöhnte. »Das ist nicht euer Ernst! Mit steckt noch der Ritt von gestern in den Knochen, außerdem hab ich kaum gefrühstückt und …«

»Keine Ausreden.« Giovanni warf ihm seinen Degen zu. »Vorher gibt es keinen Wildschweinbraten.« Er nahm seinen eigenen Korbdegen und ging in Stellung. »En garde

Lukas bemerkte nun, dass die Tische absichtlich so gestellt waren, dass sich in der Mitte des Burghofs eine kleine Arena auftat. Auch seine beiden anderen Freunde hatten zu ihren Waffen gegriffen. Jerome focht wie so oft mit einem dünnen spitzen Rapier, während Paulus den wuchtigen Palasch bevorzugte. Brüllend und schnaubend stürzte sich der Hüne Lukas entgegen, der dem Angriff gerade noch ausweichen konnte und zu einer Riposte ansetzte. Giovanni und Jerome setzten nach und wirbelten mit gezückten Klingen durch die Arena. Die Burgbewohner klatschten und johlten.

Lukas konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Genauso hatten sie vor über zwei Jahren als sogenannte Schaufechter auf den Marktplätzen des Reichs gekämpft. Der alte Haudegen Dietmar von Scherendingen war damals ihr Lehrmeister gewesen. Beim Schaufechten ging es nicht darum, seinen Gegner zu verletzen oder gar zu töten, sondern um Unterhaltung und Spektakel. Und ein solches Spektakel boten sie nun den Burgbewohnern.

Lukas’ trübe Gedanken verflogen mit jedem weiteren Hieb. Die alte Freude kam zurück, die er schon bei den spielerischen Kämpfen mit seinem Vater so genossen hatte. Ochshau, Unterhau, Nachreisen, Zornhau … Die sogenannten Huten, die einzelnen Stellungen beim Fechten, glichen Tanzschritten. Die drei Freunde griffen ihn jetzt gemeinsam an, wobei Jerome seinen Mantel nach ihm warf, unter dem Lukas eben noch wegtauchte. Giovanni drängte ihn mit einigen blitzschnellen Finten immer weiter zurück.

Wie eine Katze sprang Lukas auf den Tisch; die Zuschauer schrien auf, als einige Schüsseln zu Bruch gingen. Paulus schickte sich eben an, den Tisch umzustürzen, als Lukas lachend seinen Degen wegwarf und die Hände hob.

»Erbarmen! Bevor wir noch alle vom Boden essen müssen. Ich ergebe mich!«

Die Burgbewohner applaudierten, und Lukas wischte sich den Schweiß von der Stirn. Paulus wandte sich an die Gruppe junger Burschen und Mädchen, die heute noch die Schwertleite empfangen sollten.

»Habt ihr gesehen, wie der Kerl gefochten hat? Gegen drei von uns, ein echter Satansbraten, fürwahr!« Paulus grinste. »Dabei ist er nicht größer als ein Zwerg aus dem Odenwald.«

»He!«, protestierte Lukas. »Giovanni ist nicht viel größer als ich.«

»Was den Verstand angeht, schlage ich euch alle um Längen«, erwiderte Giovanni lächelnd. »Jemand Lust auf eine Partie Schach?«

Giovanni hatte sein halbes Leben in einem Kloster verbracht und sich dort durch die gesamte Bibliothek gelesen. Auch Lukas musste zugeben, dass Giovannis Wissen oft wertvoller als jede Waffe war.

»Schach? O Gott, wie langweilig!« Jerome rollte mit den Augen. »Die Spiele, die ich schätze, haben alle mit Karten, Würfeln und Mädchen zu tun.«

»Lasst uns lieber was essen«, brummte Paulus. »So ein Kampf macht Hunger, besonders, wenn man dabei mit den Füßen im Braten steht.«

Eine Weile später saßen die vier Freunde an der Tafel und ließen sich das Wildschwein schmecken, das auf frisch gebackenen, noch dampfenden Brotscheiben serviert wurde. Dazu gab es würziges Dünnbier, das Lukas nach dem hitzigen Kampf schnell zu Kopf stieg.

»Respekt, Schmalhans«, sagte Paulus mit vollem Mund. Er wischte sich über die fettigen Lippen. »Du kannst immer noch kämpfen. Dachte schon, du wärst genauso eingerostet, wie die Truhe dort unten im Bergfried.«

»Wichtiger ist, dass die Jungen und Mädchen auf der Burg kämpfen können«, erwiderte Lukas. »Aus Heidelberg kommen Nachrichten, dass eine neue Armee schwedischer Söldner von Norden anrückt. Sicher werden sich auch einige Marodeure in den Odenwald aufmachen …«

»Dann werden sie ihr blaues Wunder erleben«, sagte Jerome. »Bis jetzt konnten wir alle abwehren … Ah, mon dieu !« Er wischte einen Soßenfleck von seiner grünen Samtjacke. »Dieses Wams war fast neu!«

»Du bist und bleibst ein eitler Geck!«, brummte Paulus. »Fast so schlimm wie dieser Sternenschwafler Senno in seinem schillernd blauen Mantel. Ob er wohl wirklich kommt?«

»Nun, sein Brief war sehr deutlich«, sagte Lukas. »Die Frage ist eher, was er hier will.«

Erst letzte Woche hatte ein berittener Bote einen Brief aus Heidelberg gebracht, in dem sich ihr alter Bekannter Senno angekündigt hatte. Der Hofastrologe Wallensteins war den Freunden schon in etlichen Abenteuern begegnet. Vor allem Paulus konnte ihn nicht recht leiden, weil man bei Senno nie wusste, ob er nicht zuvorderst nur an sich dachte.

»Das letzte Mal, als er uns besucht hat, sind wir mit Elsa nach Prag gezaubert worden«, murrte Jerome. »Mit Hilfe des Grimoriums. Ihr erinnert euch? Damit fingen die Probleme mit deiner Schwester an, Lukas.«

Lukas nickte grimmig. »Das wird diesmal nicht geschehen, so viel ist sicher. Ich werde das Grimorium nicht verwenden, niemals! Das hab ich mir geschworen.«

»Auch wenn du der neue Auserwählte bist?«, fragte Giovanni und goss sich einen weiteren Becher Dünnbier ein.

Es schien so, als würde das Zauberbuch sich jeweils eine Person aussuchen, einen Auserwählten. Zunächst war es Elsas und Lukas’ Mutter gewesen, dann Elsa, doch aus irgendeinem Grund war das Grimorium zuletzt bei Lukas geblieben. Gezaubert hatte er damit nie, er wusste auch nicht, ob es ihm gelingen würde. Seine geringen magischen Kräfte, die er offenbar von seiner Mutter geerbt hatte, schöpfte er aus einer anderen Quelle.

»Auserwählter oder nicht, das Ding bleibt in der Truhe«, entgegnete Lukas knapp. »Egal, was Senno diesmal wieder vorhat.«

Eine Weile schwiegen sie und aßen mit Messern und Fingern ihre Bratenscheiben.

»Interessant, dass sich Senno genau für den Tag vor Vollmond angekündigt hat«, warf Giovanni schließlich ein. »Er hat es in seinem Brief extra nochmal erwähnt. Ich frage mich, ob das was bedeutet.«

»Er ist Astrologe, vergiss das nicht«, sagte Paulus und schnitt sich eine neue dicke Scheibe Braten ab. »Diese Sternenschwafler reden alle so. Ich werde jedenfalls diesmal nicht auf Sennos schöne Worte reinfallen. Das letzte Mal hat er uns einfach im Stich gelassen, auch wenn er sich nachher rausgewunden hat. Ich glaube …«

»Lass uns lieber über was anderes reden«, unterbrach ihn Lukas. »Ich habe heute schon genug gegrübelt.«

Nach einer Weile war das Festessen beendet, die Tische und Bänke wurden an den Rand des Burghofs geschoben. Fünf Jungen und zwei Mädchen erhoben sich. Sie hatten sich in den Übungskämpfen ausgezeichnet und waren deshalb für die Schwertleite vorgesehen. In aufrechter Haltung stellten sie sich nebeneinander und Lukas schritt sie einzeln ab. In seiner Hand hielt er das alte Schwert seines Vaters, mit dem er nun jedem zuerst auf die rechte und dann auf die linke Schulter schlug. Schließlich verpasste er ihnen mit der Hand jeweils einen spielerischen Klapps auf die Wange, so wie es der Brauch vorsah.

»Das soll der letzte unerwiderte Hieb in deinem Leben sein«, sagte er jedes Mal und sah sein Gegenüber dabei fest an. Nun folgte der Spruch, der den uralten Grundsätzen der Ritter folgte. Lukas hatte ihn nur ein wenig abgeändert.

»Von nun an lebt nach den Regeln der Ritterschaft«, sagte Lukas mit fester lauter Stimme, die durch den Burghof hallte. »Verteidigt die Alten, Kranken und Schwachen. Kämpft niemals unfair. Zeigt Mut, aber erkennt auch, dass Angst nichts Schlechtes sein muss. Gemeinsam gegen Tod und Teufel …«

»… In die Hölle und darüber hinaus!«, riefen ihm die neuen Schwertträger zu.

Damit war das Ritual beendet, die Leute klatschten, und einige der Burgbewohner griffen zu Fiedel, Flöte und Pauke. Es wurde getanzt, gesungen und gelacht. Lukas hoffte, dass es ewig so weiter gehen würde.

Aber er wusste auch, dass dies nur ein Wunschtraum war.