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D rei Tage später kam Senno.

Der Hofastrologe war allein auf seinem Pferd unterwegs, wie immer trug er seinen blauen Mantel mit Sternenzeichen, der im Licht der Sonne wie auf magische Weise schimmerte. Ein paar Kinder aus den umliegenden Weilern hatten ihn zuerst entdeckt. Sie liefen den ganzen steilen Weg hoch zur Burg neben ihm her. Dabei schrien und lachten sie jedes Mal begeistert, wenn Senno aus seiner Hand bunte Tücher zauberte oder süßes Naschwerk aus seinem Ohr kramte und ihnen zuwarf.

»Der alte Aufschneider«, brummelte Paulus, der Sennos Auftritt von der Wehrmauer aus beobachtete. »Kinder kann er mit seinen Tricks vielleicht für sich einnehmen, mich nicht.«

Lukas stand neben ihm und lächelte. »Nun komm schon! Er meint es doch nur gut. Und die Kinder können ein wenig Spaß wahrlich gebrauchen. Eine ganze Reihe von ihnen haben im Krieg ihre Eltern verloren.« Er ging die Treppe hinunter und öffnete das schmale Einmanntor. Senno war mittlerweile abgestiegen und führte sein Pferd hindurch. Wie immer wirkte er wie ein etwas zu eitler Priester, auch hörte er sich genauso gerne reden. Als er Lukas sah, strahlte er über das ganze Gesicht.

»Lukas, mein Junge!« Er breitete die Arme aus. »Was für eine Freude, dich und deine Gefährten wieder zu sehen!« Er wandte sich an Paulus, Giovanni und Jerome, die mittlerweile hinzugestoßen waren. »Herrgott, seid ihr groß geworden, richtige Männer …«

»Spart Euch die öligen Worte«, knurrte Paulus. »Irgendwas sagt mir, dass Euer Kommen kein reiner Höflichkeitsbesuch ist.«

»Der gute alte Paulus …« Senno rieb sich lächelnd seinen mit Bienenwachs gehärteten Bart, den er stets sorgfältig pflegte. »Fällt immer noch mit der Tür ins Haus, wenn er sie nicht vorher eintritt. Tatsächlich gibt es einiges zu besprechen. Aber vielleicht können wir das auch bei einem Trunk tun?« Er stöhnte. »Ich bin seit Tagen von Böhmen unterwegs und völlig ausgedörrt! Kein leichter Ritt, vor allem, wenn es durch Feindesland geht …«

»Was habt Ihr in Böhmen gemacht?«, fragte Lukas.

Senno seufzte. »Ich fürchte, ich bringe schlechte Neuigkeiten. Sehr schlechte Neuigkeiten …«

Kurz darauf saßen sie oben im Burgsaal an dem großen Tisch, wie auch schon bei ihrem letzten Treffen vor über einem halben Jahr. Ein Feuer brannte im Kamin, doch es brachte keine rechte Wärme. In den zugigen Gemäuern einer Burg war es immer kalt, zu jeder Jahreszeit.

Senno trank einen großen Schluck Wein aus einem irdenen Krug, dann wischte er sich über den Spitzbart und sah die Freunde aufmerksam an.

»Ist die Kunde noch nicht bis zu euch in den Odenwald vorgedrungen?«

»Welche Kunde?«, fragte Jerome. »Wovon redet Ihr?

Senno machte ein betrübtes Gesicht. Erst jetzt sah Lukas, dass der Astrologe alt geworden war. Er war zwar erst Anfang dreißig, doch sein Gesicht war blass und eingefallen, unter den Augen lagen tiefe Ringe. Erste graue Strähnen spitzten zwischen den schwarzen Haaren hervor. Außerdem trug er am linken Arm einen Verband, der Lukas unter dem Mantel bislang nicht aufgefallen war.

»Wallenstein ist tot«, sagte Senno knapp.

»Was?« Lukas war verblüfft, damit hatte er nicht gerechnet. Er selbst hatte Wallenstein, den obersten kaiserlichen General, nur einmal kurz in einer Schlacht gesehen. »Aber … aber wie ist das möglich? Er ist der mächtigste Feldherr in diesem Krieg …«

»Wohl zu mächtig«, erwiderte Giovanni. »Ich hatte so etwas schon länger befürchtet. Der Kaiser hat Wallenstein sein Vertrauen entzogen. Vermutlich hatte seine Majestät Ferdinand II. Angst, dass sich sein Generalissimus zum eigentlichen Herrscher über das Deutsche Reich aufschwingt.«

Senno nickte. »So ist es. Dabei wollte Wallenstein mit den Schweden Frieden schließen. Ein Waffenstillstandabkommen war beinahe schon unterzeichnet …«

»Aber wie kann man einen mächtigen Feldherrn wie ihn töten?«, warf Jerome ein. »Ich meine, er ist doch vermutlich der am besten bewachte Mann im Reich gewesen …«

»Tja, das ist die große Frage.« Senno zuckte die Achseln. »Wallenstein hatte sich mit hunderten seiner letzten Getreuen auf Burg Eger in Böhmen zurückgezogen, ich selbst war mit ihm dort. Doch der Stadtkommandant hat ihn wohl verraten. Bleibt zu klären, wie die Meuchler an seiner Leibgarde vorbeikamen und ihn schließlich töten konnten …« Er hob die Augenbraue. »Ich denke, ihr wisst, worauf ich hinauswill.«

»Schönborn!«, rief Giovanni. »Ihr glaubt, Waldemar von Schönborn hat Wallenstein mittels magischer Kräfte umgebracht. Er hat das auch mit dem schwedischen König gemacht, und beim deutschen Kaiser hat er es ebenso versucht …«

»Wir wissen doch nicht mal, ob Schönborn überhaupt noch lebt«, warf Paulus ein.

»O doch, er lebt«, sagte Senno. »Daran habe ich keinen Zweifel. Und tatsächlich bin ich überzeugt, dass er beim Attentat auf Wallenstein die Finger im Spiel hatte. Es gibt Hinweise …«

»Waren es wieder die verfluchten Gefrorenen?«, wollte Lukas wissen.

Ihn schauderte. Die Gefrorenen waren verzauberte spanische Söldner, die Schönborn ihre Seele verkauft hatten. Dafür waren sie unbesiegbar, zumindest fast. Giovanni hatte herausgefunden, dass man sie durch Feuer töten konnte. Schon ein paar Mal war ihnen Lukas eben noch entronnen.

»Nein, diesmal war es anders.« Senno schüttelte den Kopf. »Ich habe mir die Toten vor Ort angesehen, da war schwarze Magie im Spiel! Einige Wachen fielen in einen todesähnlichen Schlaf. Versperrte Türen öffneten sich wie von Geisterhand. Es sieht so aus, als hätte jemand von fern all diese Dinge, nun ja …«, er zögerte, »… gelenkt.« Der Astrologe sah Lukas an. »Du hast nicht zufällig wieder etwas von deiner Schwester gehört?«

Lukas erschrak. »Ihr meint, Elsa steckt hinter diesem Hexenwerk? Zusammen mit Schönborn? Aber das Grimorium ist hier auf Burg Lohenstein, ich habe es gut gesichert …«

»Ich fürchte, Elsa braucht das Buch gar nicht mehr. Sie ist auch so schon stark genug, vor allem zusammen mit ihrem verruchten Vater.« Senno musterte Lukas scharf. »Wir müssen sie aufhalten, Lukas. Beide! Schönborn benutzt diesen Krieg, um von Tag zu Tag stärker und mächtiger zu werden. Der Krieg gibt ihm Nahrung. Deshalb hat er den schwedischen König und nun auch Wallenstein getötet, um das Chaos für seine finsteren Zwecke zu nutzen.«

»Aber wie sollen wir ihn aufhalten?«, fragte Lukas. »Wir haben es schon einmal versucht und sind gescheitert.«

Senno nahm einen Schluck Wein und lehnte sich seufzend zurück. »Vermutlich hast du Recht, Junge, wir können es nicht. Wir sind nicht mächtig genug. Es gibt wohl nur einen, der das kann.«

»Und wer soll das sein?«, fragte Paulus. »Irgendein unbesiegbarer Krieger? Sowas wie ein Gefrorener vielleicht?«

»O nein, kein Krieger. Ein Zauberer. Der mächtigste, den diese Welt je gesehen hat. Mächtiger als Schönborn und auch mächtiger als Elsa.« Senno machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. »Dieser Zauberer heißt Merlin.«

Eine Weile sagte keiner etwas. Schließlich brach Giovanni in lautes Lachen aus. »Merlin? Das ist nicht Euer Ernst, Senno! Der Mann ist eine Sagengestalt. Genauso gut könntet Ihr sagen, dass Frau Holle Schönborn besiegen kann.«

»Merlin ist keine Sagengestalt, und er lebt, immer noch«, entgegnete Senno kühl. Er zwirbelte seinen Bart. »Ich habe in den letzten Monaten viel gelesen über ihn.«

»Wer soll denn dieser Merlin eigentlich sein?«, fragte Jerome. »Ich weiß nur, dass er wohl Zauberer am Hof von König Artus war, weit weg in England.«

»Merlin ist nicht sein einziger Name gewesen«, sagte Giovanni. »Die Waliser nennen ihn Myrddin. Bei den Römern wiederum hieß er Ambrosius Aurelianus. Es ist nicht mal geklärt, ob er ein Zauberer war oder ein Barde. Oder vielleicht sogar ein römischer Heerführer, der in England gegen die Sachsen gekämpft hat, vor über tausend Jahren. In den Artus-Sagen ist er dann Ratgeber und Erzieher des Königs …«

»Woher weißt du das bloß wieder alles?«, fuhr Paulus dazwischen.

Giovanni zuckte mit den Schultern. »Das steht in so Dingern, die Bücher heißen. Solltest deine Nase da auch mal reinstecken, nicht nur in Kochbücher.«

»He, hör mal …«, brauste Paulus auf.

»Egal, wer oder was Merlin war«, unterbrach Lukas. »Er war . Nun ist er tot und kann uns nicht helfen.«

»Er lebt, da bin ich sicher. Ich habe Erkundigungen über ihn eingeholt.« Senno nickte. »Und er lebt weiterhin in Wales.«

»Aber dann wäre er ja viele hundert Jahre alt!«, warf Jerome ein. »Für einen so mächtigen Zauberer wie ihn ist das kein Problem. Allerdings gilt er als, nun ja … schwierig.« Der Astrologe runzelte die Stirn. »Er interessiert sich nicht sonderlich für die Menschen und schon gar nicht für einen Krieg, der irgendwo weit weg von den englischen Inseln ausgefochten wird.«

»Dann wüsste ich nicht, warum er uns helfen sollte«, entgegnete Lukas.

»Nun, ich denke, es gibt schon etwas, das ihn interessiert.« Senno lächelte und zwirbelte erneut seinen Spitzbart. »Und dieses etwas hast du, Lukas …«

Lukas zuckte zusammen. »Ihr meint doch nicht etwa …«

»Das Grimorium, o ja! Merlins eigener Lehrmeister, ein Barde mit dem Namen Taliesin, hat es vor langer Zeit geschrieben. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Merlin dieses Buch nur zu gerne haben möchte. In gewissem Sinne gehört es ihm. Merlin ist der Erbe von Taliesin.«

»Wenn ich Euch recht verstehe, sollen wir Merlin das Buch als Pfand bringen, damit er uns dafür gegen Schönborn hilft«, meldete sich Giovanni. »Mal abgesehen davon, dass das eine saudumme Idee ist – wie sollen wir überhaupt nach Wales kommen? Das ist viele tausend Meilen entfernt!«

»Das lasst meine Sorge sein«, erwiderte Senno.

»Wenn Ihr glaubt, dass wir es machen wie damals bei unserer Reise nach Prag, habt Ihr Euch getäuscht«, sagte Lukas. Seine Lippen wurden schmal. »Ich bin nicht Elsa, und ich werde das Grimorium sicher nicht benutzen, niemals! Das habe ich auch meinen Freunden schon gesagt. Ich habe mit eignen Augen gesehen, was es mit meiner Schwester gemacht hat.«

Damals waren sie mit Hilfe des Grimoriums nach Prag gereist, in nur einem Wimpernschlag. In dieser Zeit hatte das Buch auch angefangen, seinen bösen Einfluss auf Elsa auszuüben.

Senno hob die Hand. »Ehrenwort, wir benötigen das Grimorium diesmal nicht. Es gibt, nun ja … andere Wege. Aber für den Handel mit Merlin brauche ich das Zauberbuch und dich, Lukas.« Der Astrologe sah Lukas eindringlich an. »Das Buch gehört zu dir! Nur du kannst es Merlin übergeben, kein anderer, du bist der Auserwählte. Und du hättest es los. Ist es nicht das, was du ohnehin willst?«

Lukas schwieg. »Ich … werde es mir überlegen«, sagte er schließlich zögernd.

»He!«, protestierte Paulus. »Das ist nicht dein Ernst, Lukas! Dieser Sternenschwafler will dich doch nur wieder in irgendeine üble Sache reinziehen.«

»Ihr müsst mich ja nicht begleiten«, entgegnete Lukas.

»Das würde dir so passen.« Jerome zwinkerte ihm zu. »Dass du allein zu diesem sagenhaften Zauberer aufbrichst. Wenn du gehst, gehen wir mit. So war es doch schon immer. Einer für alle …«

»… und alle für einen«, fielen die anderen mit ein.

»So oder so, bis morgen früh brauche ich eine Entscheidung«, sagte Senno und stand vom Tisch auf. »Wenn ihr nicht mitkommt, versuche ich, Merlin allein zu überzeugen. Er ist der Einzige, der uns jetzt helfen kann! Aber ich fürchte, ohne das Buch habe ich schlechte Karten.« Er wandte sich noch einmal an Lukas. »Denk dran, du könntest das Grimorium endlich los sein.« Er lächelte plötzlich. »Und vielleicht kennt Merlin ja auch einen Weg, wie du deine Schwester wiederfindest.« Der Astrologe verbeugte sich. »Ihr entschuldigt mich, ich hatte einen anstrengenden Ritt. Außerdem gibt es noch etliche Dinge vorzubereiten.«

Lukas starrte dumpf in sein Glas, ganz so, als könnte er im Wein erkennen, welchen Weg er einschlagen sollte. Nur eines wusste er: Wenn er nach Wales reiste, dann auch aus einem anderen, ganz speziellen Grund.

Doch den würde er seinen Freunden bestimmt nicht erzählen.

In dieser Nacht schlief Lukas lange nicht ein. Er wälzte sich im Bett hin und her und starrte hinüber zum Fenster, von wo aus der Mond hell ins Zimmer schien. Aus einem bestimmten Grund wollte Senno bis morgen eine Entscheidung. Warum wohl?

Lukas’ Gedanken drehten sich um Elsa und das Zauberbuch. War es richtig, das Grimorium aus der Hand zu geben? War das nicht zu gefährlich? Was geschah, wenn dieser Zauberer Merlin das Buch selbst für seine Zwecke einsetzte, so wie auch Schönborn das vorgehabt hatte? Magiern war nicht zu trauen, das hatte er gelernt.

Und dann war da noch etwas anderes: Auch wenn Lukas das Grimorium tief in den Bergfried gesperrt hatte, so mochte er sich doch nicht davon trennen. Allein der Gedanke daran schmerzte.

Das Grimorium gehörte ihm!

Es war seltsam: Er mochte es nicht verwenden, und doch kam er nicht davon los.

So hat es vermutlich auch bei Elsa angefangen , dachte er.

Manchmal träumte er von dem Buch. Dann rief es nach ihm. Sehnsüchtig, fordernd …

Lukas, Lukas … Nutze mich … Wir beide können die Welt verändern! Ich kann dir deine Schwester zurückbringen …

Doch Lukas wusste, dass das nicht stimmte. Das Buch konnte Elsa vielleicht zu ihm zurückbringen, doch sie würde ihn weiter hassen. Sie würden sich um das Buch streiten. Tatsächlich war es besser, es loszuwerden, bevor es ihn noch mehr in seinen Bann zog als jetzt schon.

Vielleicht war Sennos Vorschlag nicht der schlechteste. Sie brauchten den mächtigsten Zauberer der Welt, um es mit Schönborn aufzunehmen. Nur so konnte Lukas seine Schwester vielleicht zurückgewinnen. Doch wenn er das Buch mitnehmen sollte, musste er es vor fremden Blicken schützen.

Er musste sich selbst vor ihm schützen …

Lukas stand auf und kroch unter sein Bett, wo sich ein kleines Schatzkästchen aus Ebenholz befand, nicht viel größer als seine Hand. Die Schatulle verfügte über ein massives Schloss. Er besaß sie seit seiner frühesten Kindheit, darin befanden sich einige Dinge, die ihm ans Herz gewachsen waren. Ein Amulett mit dem Portrait seiner Mutter, einige alte römische Münzen, welche er auf einem nahegelegenen Feld gefunden hatte, ein silberner Ring … Aber auch ein kleines Samtsäckchen mit einer Haarsträhne seiner Schwester. Elsa hatte ihm die Strähne vor etlichen Jahren geschenkt, als sie sich noch nahegestanden hatten. Lukas nickte grimmig. In diesem Kästchen würde er das Grimorium mit auf die Reise nehmen. Es war zwar keine schwer gesicherte Schatztruhe, aber immer noch besser als nichts.

Ein wenig beruhigt legte er sich wieder hin. Erneut ging sein Blick zum Fenster, wo der fast volle Mond als helle Scheibe leuchtete. Lukas hatte keine Ahnung, wie Senno sie nach Wales bringen wollte. Doch der Name des Landes hatte eine Glocke in ihm angeschlagen. Es gab jemanden, der dort wohnte. Jemand, der ihn dorthin eingeladen hatte. Eine Person, der er vielleicht irgendwann den Ring aus der Schatulle schenken könnte.

Besuch mich doch mal in Wales, Lukas. Beannachd leibh!

Es war ein ganz bestimmtes Mädchen, das ihm seit einem halben Jahr nicht mehr aus dem Kopf ging.

Gwendolyn …

Mit dem Gedanken an sie schlief Lukas endlich ein.