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V ersorgt mit Gwendolyns letztem Dörrobst saß Merlin ihnen im Schneidersitz gegenüber und lauschte Lukas’ Bericht. Ab und zu schob er sich einen Apfelring in den Mund und schmatzte genüsslich, ansonsten hörte er aufmerksam zu.

»Und Schönborn ist der Vater deiner kleinen Schwester?«, fragte Merlin schließlich, nachdem der letzte Apfelring verzehrt war.

Lukas nickte. »Ein böser Magier …

»Ach, böse Magier kommen und gehen.« Merlin winkte ab. »Ihr wisst gar nicht, wen ich alles schon erlebt habe. Den finsteren Ulambor, den Hexer Withger, Berengar, ach ja, nicht zu vergessen Klingsor, den alten Miesepeter …«

»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Jerome. Wie den anderen fiel es ihm immer noch schwer, in dem Körper eines etwa achtjährigen Jungen einen uralten mächtigen Zauberer zu sehen.

»Vor ein paar Sommern waren es tausend Jahre.« Der Junge verzog schmollend die Lippen. »Geburtstagfeiern werden da irgendwann langweilig. Überhaupt wiederholt sich vieles, alles wird irgendwann langweilig … Sterbensöde! Selbst im Schach kenne ich mittlerweile alle möglichen Züge und Partien auswendig.«

»Und warum, äh …« Lukas zögerte. »Warum bist du dann immer noch da?«

»Du meinst, warum ich nicht einfach sterbe? Tja, ein wenig hängt wohl jeder am Leben. Würdest du nicht unsterblich sein wollen, wenn du könntest?«

»Ich … weiß nicht«, erwiderte Lukas. »Vermutlich schon.«

»Eben. Aber eigentlich ist es was anderes, was mich bleiben lässt.« Merlin grinste spitzbübisch. »Es sind Burschen wie ihr, die mich ab und zu besuchen. Die meine Hilfe brauchen. Das verspricht Abwechslung.« Er beäugte Lukas’ Lederbeutel. »Das Grimorium ist da drin, ja? Dürfte ich es mal sehen?«

Lukas holte das Schatzkästlein heraus. Mit einem kleinen silbernen Schlüssel sperrte er es auf und öffnete den Deckel. Zwischen Lukas’ wenigen wertvollen Habseligkeiten lag dort das Grimorium. Merlin sog hörbar die Luft ein.

»Das Grimorium Nocturnum, das Buch der Nacht! Dass ich es nach so langer Zeit wieder zu Gesicht bekomme …« Sein Blick bekam etwas Verklärtes. »Du musst wissen, ich war etwa so alt wie du, als ich zum ersten Mal darin las. Mein Lehrmeister, der Barde Taliesin, hatte es einst geschrieben, um die fremden Mächte von der Insel Britannica zu vertreiben, die Angeln und Sachsen und wie die Eindringlinge nicht alle hießen. Doch das Buch hatte immer seinen eigenen Willen, wir konnten es nie zähmen. Man sagt, der Teufel selbst habe Taliesins Hand beim Schreiben des Grimoriums geführt. Seitdem hat es einen weiten Weg zurückgelegt, war in vielen Händen, und ich fürchte, es hat auch viel Unheil angerichtet …«

Merlin streckte die Hand danach aus, und die Seiten flatterten ganz plötzlich, obwohl kein Wind wehte. Ein Knarren und Ächzen ertönte, als würde der ganze Berg sich hinter ihnen erheben. Merlins Hand zuckte zurück.

»Verdammt, wenn es könnte, würde es mich beißen! Es ist wie ein kleines zorniges Tier.« Der Magier sah Lukas an. »Und es hat dich erwählt, das spüre ich. Du bist der neue Auserwählte.« Er machte eine unschuldige Miene. »Hm, du kannst es mir allerdings schenken, dann …«

»Ich werde es dir schenken«, sagte Lukas, zog jedoch die Schatulle näher zu sich heran. »Aber erst, wenn du Schönborn besiegt und mir meine Schwester zurückgebracht hast.«

»He, Moment mal!«, rief Paulus. »So haben wir nicht gewettet. Der Plan war, dass wir Merlin dieses dämliche Buch geben und dann schleunigst wieder heimreisen.«

»Und wer sagt, dass Merlin seine Abmachung einhält?« Lukas wandte sich an Paulus. Seine Stimme klang plötzlich sehr kühl. »Woher sollen wir das wissen?« Lukas’ Finger krallten sich um das Kistchen. »Nein! Das Buch bleibt bei mir, solange ich es für richtig halte!«

Wieder spürte er ein warmes Pochen, das von der Truhe ausging. Mit einem Mal war das Grimorium für ihn das Wichtigste auf der Welt, ein unendlicher Hass erfüllte ihn gegen alle, die ihm das Buch wegnehmen wollten. Doch dann fiel ihm ein, dass es bei Elsa wohl genauso gewesen war.

Das Buch frisst mich auf … Das darf ich nicht zulassen!

Lukas’ Miene wurde wieder weicher, die Finger lösten sich von der Truhe.

»Tut … mir leid«, sagte er stockend. »Das … das habe ich nicht so gemeint. Natürlich soll das Grimorium Merlin gehören. So war es vereinbart.«

»Trotzdem halte ich Lukas’ Vorschlag für vernünftig«, meldete sich Giovanni. Er musterte Merlin, der mit schmollender Miene vor ihnen saß. »Quid pro quo! Der Handel gilt erst, wenn du deinen Teil der Abmachung erfüllt hast. So lange bleibt das Buch bei Lukas.« Er wandte sich an Jerome und Paulus. »Und so lange bleiben auch wir bei Lukas. Einverstanden?«

»Von mir aus.« Paulus nickte grimmig. »Ihr habt ja recht. Diesen Magiern ist nicht zu trauen, vor allem dann nicht, wenn sie frech und erst acht Jahre alt sind.«

»Wenn ihr mich im Kampf gegen Schönborn begleitet, wird das kein Zuckerschlecken«, sagte Merlin. »Ganz im Gegenteil, es könnte den einen oder anderen von euch das Leben kosten. Wenn ihr mir hingegen einfach das Buch aushändigt …«

»Wir lieben die Gefahr«, fuhr Jerome dazwischen. »Es ist der Stoff, der uns erst am Leben hält. Vive le danger! «

»Also gut …« Merlin nickte, und Lukas glaubte eine kindliche Enttäuschung in seinem Blick zu erkennen. Das Grimorium war vor seiner Nase und doch unerreichbar. »Meinetwegen, dann soll es so sein.«

»Und was ist mit mir?«, fragte Gwendolyn.

Lukas sah sie erstaunt an. »Willst du uns etwa begleiten?«

»Im Kampf gegen Schönborns Schergen könnt ihr eine Bogenschützin wie mich gut gebrauchen. Aber natürlich habe auch ich einen Preis.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich muss Jussi, meinen kleinen Bruder, weiterhin unterstützen. Wie ihr wisst, hat er einen Buckel und ist nicht ganz richtig im Kopf. Ich habe einen guten Platz in einem walisischen Kloster für ihn gefunden, aber der kostet Unsummen …«

»Und was ist mit dem Diebesgut, das du damals in Prag gestohlen hast?«, brummte Paulus. »Das war einen Haufen wert!«

»Ach, du weißt ja, wie das ist.« Gwendolyn zwinkerte ihm zu. »Einen großen Teil habe ich für gutes Essen und schnelle Pferde ausgeben. Den Rest habe ich einfach verprasst.«

»Du sollst einen angemessenen Lohn erhalten«, sagte Lukas.

Und einen ganz bestimmten Ring aus dem Schatzkästchen , dachte er insgeheim.

Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es ihn freute, dass Gwendolyn sie auf dieser Reise begleitete. Vielleicht gelang es ihm ja, dass sie sich näherkamen, immerhin war er seitdem ein halbes Jahr älter geworden. Das musste auch Gwendolyn auffallen.

»Zunächst mal müssen wir herausfinden, wo Waldemar von Schönborn überhaupt steckt«, meinte Giovanni. Er wandte sich an Merlin. »Kannst du das?«

Der Junge zuckte die Achseln. »Eine meiner leichtesten Übungen. Wir können auch gleich anschließend dorthin reisen, ganz ohne das ganze Brimborium, das euer Sternendeuter benötigt hat. Alles, was ich brauche, ist irgendwas, das zu Schönborn gehört. Ein Ohr zum Beispiel, seine Nase, ein Finger …«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst!«, protestierte Paulus. »Wenn wir Schönborns Ohr hätten, wären wir ja wohl nicht hier. Dann hätte ich ihm auch gleich den ganzen Kopf abgeschnitten.«

Merlin bohrte in der Nase. »Tja, dann wird es schwierig. Eigentlich unmöglich. Hm, es müsste zumindest eine Haarsträhne sein …«

»Eine Haarsträhne!«, rief Lukas. »Ich habe eine Haarsträhne. Zwar keine von Schönborn, aber eine von Elsa. Das ist noch viel besser! Die beiden sind sicher irgendwo zusammen, immerhin ist Schönborn ihr Vater.«

Ihm war die Strähne eingefallen, die Elsa ihm vor Jahren geschenkt hatte, und die er in dem Schatzkästchen zusammen mit den anderen Habseligkeiten verwahrte. Er öffnete die Schatulle und holte das Seidensäckchen mit Elsas Haaren hervor. »Hier ist die Strähne.« Er reichte sie Merlin, der sie mit missmutiger Miene annahm.

»Naja, besser als nichts«, murrte er.

Der Zauberer schnippte mit den Fingern, und in der Mitte der erkalteten Feuerstelle züngelten plötzlich bläuliche Flammen. Mit spitzen Fingern zog er die Haare aus dem Säcklein und warf sie ins Feuer, wo sie kokelnd und stinkend verbrannten.

»Locis occzidente, locis oriente, hoc !«, rief Merlin mit heller kindlicher Stimme.

Ein leises Klingeln ertönte von irgendwoher. In den Flammen war nun eine Pergamentrolle zu sehen. Merlin ergriff sie, ohne sich dabei zu verbrennen, rollte sie auseinander und beugte sich darüber.

»Warum muss das Zeug auch so klein geschrieben sein!«, schimpfte er. »Dabei habe ich schon die Augen eines Achtjährigen, nicht die eines Greises. Das liegt daran, dass wir nur eine Haarsträhne haben. Mit einem Finger deiner Schwester wäre es viel besser gegangen!«

Die Freunde sahen dem Magier über die Schulter. Auf dem Pergament waren gezackte Umrisse mit Zeichen darin zu erkennen, eine gewisse Gegend im oberen Drittel leuchtete blutrot.

»Eine Landkarte.« Gwendolyn nickte. »Und es ist nicht Wales, so viel ist sicher.«

»Das ist das Deutsche Reich!«, kommentierte Giovanni aufgeregt. »Man erkennt oben die Nordseeküste mit den kleinen Hansebooten, und unten, dieser Stiefel, das ist Italien. Das in der Mitte, die kleinen Hügel, das müssen die Alpen sein …«

»Dort, wo es rot ist, sind auch Hügel eingezeichnet«, sagte Lukas. »Welche Gegend ist das?«

»Hm, ich denke, das ist der Harz.« Giovanni runzelte die Stirn. »Auch ein Gebirge, nicht so hoch wie die Alpen. Aber ganz sicher bin ich nicht. Dort war ich noch nie. Wohl eine raue Gegend, obwohl es mal sowas wie der Ursprung des Deutschen Reiches war. Die ersten deutschen Kaiser stammten von dort.«

»Vom Harz hat mir mal mein Vater erzählt«, ergänzte Paulus. »Der war ja Schmied. Aus der Gegend kommt wohl jede Menge Eisenerz.« Er blinzelte. »Ach, verflucht, das ist aber wirklich undeutlich gezeichnet!«

»Wie gesagt, ein Finger oder ein Ohr …« Merlin stockte. »Ah, wenigstens bekommen wir noch eine Botschaft. Seht selbst!

Eine grüne Schrift tauchte plötzlich auf dem Pergament auf, die Buchstaben schrieben sich von allein. Merlin las laut vor.

»In monte, supra monte, sub monte …«

Jerome stöhnte. »Was soll denn das jetzt schon wieder heißen?«

»Das ist lateinisch, und es heißt ‚im Berg, über dem Berg, unter dem Berg’«, erklärte Giovanni. Er runzelte die Stirn. »Das ist allerdings ziemlich seltsam. Ein Rätsel vielleicht? Wobei …« Plötzlich veränderte sich seine Miene. »Ich hab’s! Ha, ich hab’s! Es ist ganz einfach, wenn man nur ein wenig nachdenkt.«

Merlin verdrehte die Augen. »Wenn ich was noch nie leiden konnte, dann waren es Klugscheißer. Die gab es schon vor tausend Jahren. Lancelot war auch so einer, glaubte immer zu wissen, wo der Heilige Gral ist …«

»Ich denke, diese Schrift bezieht sich auf den Kyffhäuser«, fuhr Giovanni aufgeregt fort. »Versteht ihr?«

»Der Kyffhäuser?« Lukas überlegte. »Ist das nicht dieser Berg, in dem der alte Kaiser Barbarossa schlafen soll? Aber das ist doch nur eine Legende, oder?«

»Nun, Barbarossa hat es wirklich gegeben«, erklärte Giovanni. »Er lebte vor etwa fünfhundert Jahren. Ein mächtiger deutscher Kaiser, der allerdings bei einem Kreuzzug nach Jerusalem ganz jämmerlich in einem Fluss ertrank. Die Leute wollten das nicht glauben, vor allem, weil schon bald nach ihm eine schreckliche gesetzlose Zeit im Reich anbrach.«

Paulus nickte. »So wie heute auch.«

»Der Berg Kyffhäuser befindet sich nahe am Harz«, fuhr Giovanni fort. »In einer Gegend, die man die Goldene Aue nennt. Der Kaiser schläft dort in einer Höhle. Alle hundert Jahre wacht er auf und bittet einen Zwerg zu schauen, ob die Raben nicht mehr um den Berg kreisen. Erst dann kommt er zurück als neuer deutscher Herrscher.«

»Der Kaiser schläft im Berg …«, begann Gwendolyn.

»Die Raben kreisen über dem Berg, und die Höhle ist unter dem Berg«, ergänzte Giovanni »In monte, supra monte, sub monte! Das ist des Rätsels Lösung. Schönborn hat sich mit Elsa im Kyffhäuser versteckt!«

»Bist du sicher?«, fragte Lukas.

Giovanni nickte. »Ich denke schon. Immerhin ist die Gegend auf dem Pergament rot gekennzeichnet.«

»Nun, wenn dem so ist, dann kennen wir ja jetzt das Ziel unserer Reise«, sagte Merlin. Er griff zu seinem Stab. »Bitte einmal gut festhalten.«

»He, sollten wir nicht vorher …«, warf Lukas ein.

Doch Merlin warf das Pergament ins Feuer. Es gab einen lauten Knall …

Und die Höhle war verschwunden.

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Sehr weit weg und gleichzeitig ganz nah spürte Elsa einen Windhauch. Sie bekam eine Gänsehaut, die Haare stellten sich ihr auf, und sie zuckte zusammen, getroffen wie von einer leicht magischen Ladung.

Was war das …?

Sie schreckte auf und sah sich im dämmrigen Licht der Höhle um. Doch da war nichts, nur sie und die Bücher, viele Bücher … Sie befand sich in der unterirdischen Bibliothek, die ihr Vater für sie beide eingerichtet hatte. Aus den Felsen waren Säulen gehauen, die wie in sich gewundene Lindwürmer aussahen. Zwischen ihnen hingen Regale, bis hoch in schwindelnde Höhen. Es gab Leitern und gewundene Steintreppen, die in höhere Lagen führten. Weit oben wölbte sich die Decke wie in einem Dom. Statt Fackeln glühten in der Bibliothek magische Lichter, grün phosphoreszierende Leuchtkugeln, die unter der Decke und über den Tischen schwebten. Wenn man durch den Raum ging, begleiteten sie einen wie treue Hunde.

Elsa war oft hier, es war ihr liebster Ort in dem riesigen unterirdischen Gewölbe. Sie mochte es, allein die Bücher zu studieren, es gab noch so vieles, was sie lernen musste! Manche der Schriften stammten noch aus dem alten Ägypten, andere aus dem längst untergegangenen römischen Reich oder aus dem fernen Griechenland. Mönche hatten die alten Papyrusrollen und Pergamente immer wieder abgeschrieben und sie so vor dem Verfall bewahrt.

Nicht alle waren Zauberbücher, es gab auch Werke über Mechanik, die einem zeigten, wie man Wasser den Berg hinaufbeförderte oder einen silbernen Vogel zum Singen brachte. Ein gewisser Leonardo da Vinci, der vor etwa hundert Jahren gelebt hatte, hatte Flugmaschinen gezeichnet, mit denen man bis zu den Sternen reisen konnte. Andere Bücher beschäftigten sich mit der Sonne, dem Lauf der Planeten oder dem menschlichen Körper. Auch das war für Elsa Magie.

All das saugte sie auf wie ein Schwamm. Die Bücher waren ihre Freunde, mit ihnen konnte sie sich stundenlang unterhalten. Ansonsten sah sie kaum jemand hier unten in den weit verzweigten Gängen. Ab und zu einen spanischen Söldner, der mit toten Augen an ihr vorbeistakte. Doch die Söldner schienen sie meist gar nicht zu bemerken, sie waren wie die Automaten aus den Zeichnungen Leonardo Da Vincis. Sie sprachen kaum, lächelten nie … Nur wenn Elsa in einen Gang abzweigte, der ihr verboten war, stellten sie sich ihr mit gezogenen Waffen und grimmigen Mienen in den Weg. Ihr Vater kam nur sehr selten vorbei, meist war er mit anderen, wichtigeren Dingen beschäftigt.

Manchmal kam es ihr vor, als wäre sie der letzte Mensch auf der Welt. Als wären alle anderen tot, und nur sie lebte noch in diesem riesigen unterirdischen Gewölbe.

Elsa beugte sich wieder über das Buch, in dem sie eben noch geblättert hatte, doch sie konnte sich nicht recht konzentrieren.

Was ist nur mit mir …?

Woher war der magische Schlag gekommen? War das ein neuer Trick ihres Vaters, mit dem er sie beobachtete und bei Bedarf auch bestrafte, wenn sie nicht ausgiebig lernte? Wenn sie ihre Hausaufgaben vernachlässigte?

Waldemar von Schönborn hatte Elsa gesagt, dass er mit ihrer Hilfe die Welt neu ordnen würde. Dafür müsse sie viel lernen, viel mehr als andere Mädchen in ihrem Alter. Wenn er sie besuchte, sprachen sie jedes Mal über Magie, sie zauberten viel, so wie das letzte Mal, als Elsa mit dem magischen Spiegel die Männer dirigiert hatte wie Marionetten. So etwas machte ihr Spaß, es war wie früher das Spielen mit ihrer Puppe.

Früher …

Warum nur konnte sie sich an nichts erinnern, was länger als etwa ein halbes Jahr zurücklag? Ihre Vergangenheit war versunken wie im Nebel. Nur manchmal, kurz vor dem Einschlafen, sah Elsa eine Burg vor sich, einen Wald, und immer wieder diesen Jungen ...

Lukas …

Da war er wieder, dieser Name.

Erneut spürte Elsa ein Britzeln in der Luft. Was war das nur? Gleichzeitig tauchte ein Bild in ihrem Kopf auf. Das Bild eines Buches. Und plötzlich kam ein Teil ihrer Erinnerung zurück.

Das Grimorium Nocturnum!

Das Buch der Nacht! Es war ein Zauberbuch, ein sehr mächtiges. Ihr Vater hatte ihr davon erzählt, doch als sie mehr wissen wollte, hatte er plötzlich geschwiegen. Er meinte nur, sie brauche es nicht mehr. Es schien so, als hätte das Buch früher ihr gehört, doch jemand hatte es ihr gestohlen! So war es doch gewesen, oder …? Wieder verblassten die Erinnerungen. Je mehr Elsa überlegte, desto verschwommener wurde alles. Doch die Sehnsucht nach dem Grimorium schlummerte weiter in ihr, wie sie jetzt feststellte.

Und gerade eben wuchs diese Sehnsucht wieder …

Nun verstand Elsa auch, woher der magische Schlag rührte, der sie eben getroffen hatte. Das Buch …. Es war irgendwo in der Nähe, sie spürte es deutlich! Der Dieb, der es ihr einst gestohlen hatte, war nicht weit entfernt. Sollte sie ihrem Vater davon erzählen? Etwas in Elsa sträubte sich dagegen. Das Buch gehörte ihr! Ihr ganz allein! Auch ihr Vater sollte nichts davon erfahren, jedenfalls jetzt noch nicht. Zuerst brauchte sie Klarheit.

Sie brauchte jemanden, der für sie Ausschau hielt.

Elsa klappte das Buch zu und verließ die Bibliothek. Sie wanderte durch die kalten einsamen Gänge, in denen magische Leuchtkugeln schwebten und sie begleiteten. Ab und zu zweigten andere Gänge ab, sie kam an verschlossenen Türen vorbei und durchwanderte Hallen, hoch wie Kathedralen, in denen unterirdische Seen glitzerten. Wie immer war sie ganz allein, ihre Schritte hallten durch die Gänge, von der Decke tropfte Wasser. Dies hier war ihr kaltes dunkles Reich, hier war sie die Königin.

Sie ging auf ein bestimmtes Ziel zu. Es war eine felsige Kammer, nicht weit entfernt von der Welt draußen.

Dort wohnten ihre einzigen Freunde.

Je näher Elsa der Kammer kam, desto stärker wurde der Geruch nach fauligem Fleisch und Tierdung. Etwas schabte, kratzte und raschelte, so, als würde sich etwas sehr Großes von seinem Lager erheben.

»Meine Schätzchen«, sagte Elsa mit sanfter Stimme. »Könnt ihr mich hören?«

Ein dämonisches Knurren ertönte, wie aus den Tiefen der Hölle.

Wir hören dich, Freundin und Gebieterin , erklang eine grollende Stimme in ihrem Kopf.

»Ich möchte, dass ihr für mich etwas erledigt«, fuhr sie flüsternd fort. »Ihr müsst für mich einen Dieb finden. Einen Buchdieb.«

Dein Wunsch ist uns Befehl …

Im Dunkel der Höhle blitzten spitze weiße Zähne.