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E ine dunkle Gasse führte steil den Hügel hinauf, die Häuser zur Linken und Rechten waren alle klein und schief.

Wie Hexenhäuschen , ging es Lukas durch den Kopf.

Die meisten Gebäude in Münzenberg waren aus billigem morschem Holz gezimmert, einige wirkten so krumm und schief, als würden sie jeden Moment umfallen. Aus den offenen Fenstern, aber auch von den Seitengassen her, erklang Musik. Lukas sah Trommler und Flötisten, aber auch Lauten- und Drehleierspieler, andere bliesen den quäkenden Dudelsack oder schlugen das Tambourin. All das verwebte sich zu einem Klangteppich, der ihn unwillkürlich mitriss. Seine Beine marschierten ganz automatisch im Takt der Musik. Frauen tanzten auf den Straßen, wobei sie besonders Jerome wohlwollend musterten und anzüglich zuzwinkerten.

»Ich gebe Gwendolyn recht«, sagte Jerome. »O lala! Ich mag es hier, das ist ja fast wie in Paris!«

»Pass nur auf deine Börse auf«, erwiderte Wolfram lachend. »Es heißt, dass man in Münzenberg den Neugeborenen eine Trompete und eine Münze in die Wiege mitgibt. Greifen die Säuglinge zur Trompete, werden sie Musikant. Greifen sie zur Münze, ist ein neuer Dieb geboren.«

Es gab nur ein paar wenige schummrige Laternen, die ihnen den Weg wiesen. Oben auf dem Hügel standen noch immer Teile des alten Klosters, doch es war kaum noch als solches zu erkennen. Die Münzenberger hatten viele der Mauersteine für ihre Häuser verwendet, mancher Bewohner nutzte die Kirchenmauern als eine von vier Wänden. Sogar der Friedhof diente als Bauplatz, die ehemaligen Klosterställe waren zu winzigen Katen umgebaut worden, die sich zum Teil wie Schachteln aufeinandertürmten. Dort, wo früher wohl der Kreuzgang des Klosters gewesen war, breitete sich jetzt, inmitten der alten verwitterten Säulen, ein kleiner Platz aus. Hier tummelten sich besonders viele Menschen, die sangen, musizierten oder einfach nur lachten und tranken.

»Der Sängerwettstreit findet erst in drei Tagen statt, doch die Leute kommen jetzt schon, um zu üben und zu feiern«, erklärte der junge Walther. Er sah sich suchend um und entdeckte ein paar alte Bekannte, die er freudig begrüßte. Auch Wolfram verschwand bald in der Menge, sodass die Gefährten wieder unter sich waren.

In der Mitte des Platzes brannte ein großes wärmendes Feuer. Fremde Menschen drückten den Freunden jedem einen Humpen Bier in die Hand, sodass sie für kurze Zeit ihre Sorgen vergaßen. Für zwei der römischen Silbermünzen aus dem Schatzkästchen erstand Lukas Ausrüstung und Proviant für die nächsten Tage, auch einen Weinschlauch, von dem er hoffte, dass ihn Paulus nicht gleich wieder leerte. Morgen würden sie in Münzenberg vielleicht auch einen Packesel bekommen, dann würde man weitersehen.

Zum ersten Mal, seit Senno verschwunden war, fasste Lukas wieder ein wenig Mut. Möglicherweise sah er seine Schwester ja wirklich schon bald wieder.

»Weiß jemand, wo Merlin ist?«, fragte er, als er mit einem großen Leinensack voller Vorräte und einigen warmen Decken zu den anderen ans Lagerfeuer zurückkam. »Ich kann ihn nirgendwo entdecken.«

Paulus zuckte die Achseln. »Er wird halt das machen, was achtjährige Jungen bei solch einem Fest tun. Äpfel stibitzen, vom Wein naschen, durch die Gassen stromern …«

»Du vergisst, dass Merlin eigentlich kein achtjähriger Junge ist, sondern ein mächtiger Magier«, entgegnete Lukas.

»Nun hör doch mal mit Merlin auf und dem, was uns noch alles Schlimmes erwartet, das hat Zeit bis morgen. Heute wollen wir uns amüsieren!« Jerome grinste breit. »Das blonde Mädchen da hinten schaut mich die ganze Zeit schon so keck an. Ich denke, ich gehe mal rüber und fordere sie zum Tanz auf. Paulus ist auch schon dort, mit dem dritten Bier …«

»Tut, was ihr nicht lassen könnt.« Lukas seufzte und setzte sich neben Giovanni, der sich eben in einem Gespräch mit einem bärtigen Kerl mit zottligen Haaren befand, der ein langes Messer trug. An seinem Gürtel hingen zudem Holzlöffel, kleine Wetzsteine, Zangen und Feilen.

»Dein Freund meinte eben, dass ihr überlegt, durch den Harz zu reisen«, wandte sich der Bärtige an Lukas. »Das würde ich an eurer Stelle bleiben lassen. Nicht in diesen Zeiten.«

»Wir haben schon gehört, dass es gefährlich ist«, sagte Lukas. »Aber wir haben ja unsere Waffen und …«

»Waffen sind gut, wenn man damit umgehen kann.« Der Bärtige musterte ihn spöttisch. »Wie alt seid ihr Grünschnäbel eigentlich?«

»Alt genug, um auf uns selber aufzupassen«, mischte sich Gwendolyn ein und spielte mit der Sehne ihres Bogens.

»Hört mal, ihr wisst nicht, was euch erwartet. Ich bin als Kesselflicker und Scherenschleifer dort öfter unterwegs. Der Harz gehört den Harzschützen, die machen mit euch kurzen Prozess, vor allem, weil ihr mit euren Waffen wie Söldner ausseht.«

»Die Harzschützen? Wer soll das sein?«, erkundigte sich Giovanni.

»Nun, die einen nennen sie Freiheitskämpfer, für die anderen sind sie nichts weiter als Räuber und Mörder.« Der bärtige Scherenschleifer runzelte die Stirn. »Sie wehren sich gegen all die fremden Soldaten, die ihre Heimat, den Harz, nun schon seit Jahren verheeren. Es sind Männer aus allen Schichten, Bauern, Handwerker, Jäger … Auch ein paar Adlige sind wohl dabei. Viele haben ihre Familien im Krieg verloren und rächen sich nun auf grausame Weise an den Soldaten. Sind selbst zu Bestien des Krieges geworden.« Der Scherenschleifer schlug ein Kreuz und senkte die Stimme. »Es gibt Leute, die sagen, manche der Harzschützen hätten dem Teufel ihre Seele verkauft. Sie seien jetzt Gefrorene …«

»Gefrorene?« Lukas zuckte zusammen. So hießen auch die unverwundbaren Schergen Schönborns.

»Nichts kann diese Hunde töten, o ja!« Der bärtige Mann nickte. »Und das ist nicht das einzig Unheimliche im Harz. Ist schon so eine gespenstische Gegend, über die es viele Sagen und schaurige Märchen gibt, aber in letzter Zeit mehren sich die unheimlichen Geschichten.«

»Was denn für Geschichten?«, fragte Giovanni und rückte näher.

»Nun, die Rede ist von Geistern, Zwergen und Hexen, die gesichtet wurden! Sogar ein leibhaftiger Riese soll oben in den Wäldern unterwegs sein …«

»Ein Riese?« Lukas lachte. »Jetzt übertreibt Ihr aber!«

»Spotte nicht! Der Harz war schon immer eine finstere Gegend, in die sich üble Kreaturen zurückgezogen haben.« Der Scherenschleifer sah sich ängstlich um. »Man sagt, dass der Teufel eine Mauer um das Gebirge errichtet hat, als sich das Christentum ausbreitete. Die Teufelsmauer! Alles innerhalb dieser Mauer gehört dem Gehörnten, die Mauer steht immer noch, nicht weit von hier. Vielleicht sind des Teufels Schergen ja auch hier auf dem Münzenberg schon unterwegs …«

»Teufelsmauer, Riesen, Hexen … Guter Mann, ich fürchte, Ihr habt zu tief ins Glas geschaut.« Giovanni lächelte. »Entschuldigt, aber wir müssen jetzt wirklich …«

In diesem Augenblick ertönte ein langgezogener Schrei. Lukas blickte auf und sah den vernarbten Wachmann, der ihnen noch vor Kurzem unten das Tor geöffnet hatte. Er hatte einen kleinen Jungen am Kragen gepackt und zog ihn hinter sich her.

Es war Merlin.

»Hab das Kerlchen eben dabei ertappt, wie er über die Mauer zu uns reingeschlüpft ist«, knurrte der Wachmann und leckte sich einen blutigen Finger. »Meinte, er würde zu irgendjemanden hier gehören. Als ich ihn hochbringen will, beißt er mich. Na warte!« Er hob die Hand zum Schlag.

»Wartet!«, rief Lukas. »Er gehört tatsächlich zu uns. Tut uns leid, wenn es Schwierigkeiten gab.«

Lukas hatte keine Ahnung, warum der Zauberer noch einmal draußen vor den Toren Münzenbergs gewesen war und was er dort getrieben hatte. Er konnte nur hoffen, dass Merlin nichts angestellt hatte. Was sie jetzt am wenigsten brauchen konnten, war Ärger.

»Dann bringt dem Frechdachs gefälligst Manieren bei!« Die Wache warf Lukas und seinen Freunden einen bösen Blick zu. »Seid ja selbst fast noch Kinder. Na, da muss ich ihm wohl selbst ein wenig Anstand einbläuen …« Er war kurz davor, zuzuschlagen, als Merlins wütende Stimme erklang.

»Wag es ja nicht, du Krötenfratze! Oder du wirst dein blaues Wunder erleben!«

»He, was fällt dir ein!« Der Wachmann mit den Narben im Gesicht lief vor Wut puterrot an. »Krötenfratze, na warte, ich werde …«

»Ich bin ein mächtiger Zauberer, ich warne dich!«, quiekte Merlin.

Auch andere hatten den Streit nun mitbekommen. Sie lachten und feixten, darauf gespannt, was dem Kleinen noch an Frechheiten einfallen würde.

»Der mächtige Zauberer bekommt gleich den Arsch voll!«, schimpfte der Wachmann. Er legte Merlin übers Knie und zog ihm die Hosen runter.

»Himmel hilf!«, zischte Lukas. »Das geht böse aus …« Mit lauter Stimme wandte er sich an die Wache. »Äh, ich glaube wirklich, Ihr solltet auf den Jungen hören …«

»Weil mich dieser Bengel sonst verhext?« Der Mann lachte grob, und seine Hand klatschte auf Merlins nackten Hintern. »Dem zaubere ich Striemen auf den Arsch, dass er drei Tage nicht mehr sitzen kann. Er wird schon sehen, was …«

Eben wollte er ein weiteres Mal zuschlagen, als er entsetzt aufschrie. Er ließ Merlin fallen und betrachtete seine Hand, aus der plötzlich Pusteln und Warzen quollen. Auch sein Gesicht sah immer mehr aus wie das einer Kröte. Der Wachmann öffnete den Mund, doch mehr als ein »Quaaaaak« kam nicht daraus hervor. Verzweifelt hüpfte er auf der Stelle, eine grausame Mischung aus Mensch und riesiger Kröte.

»Krötenfratze, Krötenfratze!«, feixte Merlin.

Die umstehenden Menschen hatten das grässliche Schauspiel mitbekommen. Mit schreckensstarren Gesichtern wichen sie zurück, als der Wachmann quakend an ihnen vorbeihüpfte.

»Ein Hexer!«, rief jemand. »Himmel hilf! Das Kind ist ein leibhaftiger Hexer!«

Der bärtige Scherenschleifer, der noch immer neben Lukas und Giovanni am Feuer saß, sah diese zutiefst erschrocken an. »Der Junge gehört zu euch? Verflucht, wer seid ihr eigentlich? Am Ende gar selbst Gefrorene?« Er stand auf und zeigte mit dem Finger auf sie. »Die da sind mit dem Hexer gekommen!«, schrie er. »Dämonen in Gestalt von Kindern!«

»Hört, das ist alles ein großes Missverständnis …«, begann Lukas, doch sein Satz ging im allgemeinen Gezeter unter.

Gwendolyn packte ihn an der Schulter. »Wir müssen hier weg, bevor sie uns umbringen«, zischte sie ihm ins Ohr.

Tatsächlich zogen einige Männer bereits ihre Messer und näherten sich den Freunden bedrohlich. Jerome und Paulus hatten in der Zwischenzeit ihre eigenen Waffen gezückt und sich zu ihnen durchgekämpft.

»Aus dem Weg, ihr alle!«, rief Paulus und hob drohend seinen Palasch. »Ich kann zwar nicht zaubern, aber ich schwöre euch, wer sich mir in den Weg stellt, erlebt auch so sein blaues Wunder!«

Er stürmte voraus, und die anderen folgten ihm, die schmale Gasse hinunter zum Tor. Lukas sah sich nach der wütenden Menge um. Merlin konnte er nirgendwo entdecken. Einige Männer warfen sich ihm entgegen, doch Lukas konnte sie jedes Mal mit ein paar schnellen Degenstreichen vertreiben. Endlich hatten sie das Ende der Gasse erreicht.

»Verdammt, das Tor ist versperrt!« Paulus warf sich wütend dagegen. »Hier kommen wir nicht raus!«

Gwendolyn zielte mit dem Bogen auf ein paar Wachsoldaten und hielt sie so in Schach, als Lukas in einer Hausnische doch noch Merlin entdeckte. Der Magier beobachtete mit amüsiertem Gesichtsausdruck den Trubel um sich herum. Er schien ihm durchaus zu gefallen.

»Merlin!«, rief Lukas verzweifelt. »Wir kommen hier nicht raus!«

Die Menge kam dem Tor immer näher, die Freunde standen mit dem Rücken an der Mauer.

»Soll ich euch etwa helfen?«, fragte Merlin unschuldig.

»Herrgott, ja!«, brüllte Paulus. »Immerhin hast du uns das hier eingebrockt. Tu was, egal was! Bevor sie uns noch in Stücke hauen!« Er wehrte einen weiteren Angriff mit dem Palasch ab, während Giovanni und Jerome mit ihren spitzen Degen nach Händen und Füßen schlugen.

»Also gut.« Merlin tänzelte zu ihnen hinüber. »Besser, ihr schließt eure Augen. Furor fulminictus

Mit seinem Stock schlug Merlin auf den Boden, und ein gleißender Feuerball explodierte zwischen den Leuten. Der Ball war zwar nicht heiß, aber so grell, dass viele Menschen wie blind umherstolperten, versehentlich aufeinander einschlugen und sich gegenseitig niederrempelten. Alles schrie, kreischte und zeterte.

»Gehen wir«, sagte Merlin in aller Seelenruhe. »Foramen porta !« Mit dem Stock klopfte er gegen das Tor, das sich daraufhin lautlos öffnete.

Sie ließen das Chaos zurück und flüchteten in den Schutz der Dunkelheit.