»W arst du da oben auf dem Münzenberg von allen guten Geistern verlassen?«, schimpfte Paulus zum wiederholten Mal. »Herrgott, wenn du kein Magier wärst, sollte man dich wirklich übers Knie legen!«
»Willst du es versuchen, so wie der Wachmann?«, entgegnete Merlin kühl.
»Vergiss es.« Paulus winkte ab. »Du hast mich schon einmal in eine Ziege verhext, das reicht mir fürs Leben.«
Seit ihrer überstürzten Flucht war etwa eine Stunde vergangen. Sie hatten die erstbeste Straße genommen und waren die meiste Zeit gerannt, wobei sie sich immer wieder nach möglichen Verfolgern umgedreht hatten. Doch keiner schien ihnen gefolgt zu sein.
Trotz der nächtlichen Kühle stand Lukas der Schweiß auf der Stirn. Er hatte ein paar böse Kratzer und Schmisse abbekommen, ebenso wie Giovanni und Jerome. Sie konnten von Glück sagen, dass nicht mehr passiert war. Schlimmer als die paar Verletzungen war, dass Lukas den Proviantsack hatte zurücklassen müssen, ebenso wie den Weinschlauch und die warmen Decken. Nur den Lederbeutel mit der Schatulle hatte er retten können.
»Besser hätten wir nicht auf uns aufmerksam machen können«, sagte er und sah Merlin dabei böse an. »Einen Wachmann in eine Kröte verwandeln! Diese Nachricht wird sich wie ein Lauffeuer in der Gegend verbreiten. Gut möglich, dass Schönborns Schergen schon bald von uns erfahren.«
Merlin schnaubte. »Ich hatte den Kerl gewarnt! Soll ich vielleicht zulassen, dass der mächtigste Zauberer der Welt wie ein Lausbub verprügelt wird?«
»Du bist ein Lausbub«, bemerkte Gwendolyn trocken, während sie nebenbei die Pfeile in ihrem Köcher überprüfte. »Schon vergessen? Und überhaupt, wo bist du gewesen? Die Wache meinte, sie hätte dich unten an der Mauer geschnappt. Warst du etwa in der Stadt?«
»Das ist meine Sache«, gab Merlin zurück. »Ich hatte was … zu erledigen. In Quedlinburg.«
»Soso, zu erledigen.« Paulus hob die Augenbraue. »Wenn Zauberer was zu erledigen haben, verheißt das meist nichts Gutes.«
Merlin schien etwas antworten zu wollen, doch dann schwieg er. Lukas hatte den Eindruck, dass der Magier irgendetwas ausbrütete – er hoffte, dass es kein weiterer Streich war.
Zu allem Überfluss fing es jetzt auch noch an zu regnen. Sogar einige Schneeflocken tanzten vom Himmel. Schon bald waren die Freunde bis auf die Knochen durchnässt, sie froren in ihren durchweichten Gewändern. Schweigend vor sich hinbrütend stapften sie die Straße entlang. Es war stockdunkel, trotzdem glaubte Lukas, in der Dunkelheit einen riesigen Schemen auszumachen, der aus den Hügeln vor ihnen aufragte. Er war hoch wie eine Wand.
»Was, in Gottes Namen, ist das?«, murmelte Lukas.
Noch war das Ding zu weit weg. Als sie näherkamen, erblickten sie etwas, das wie der Teil einer gigantischen Mauer aussah. Sie verlief quer zu ihnen und war teilweise bis zu zwanzig Schritt hoch. Dazwischen klafften immer wieder große Lücken, wie im Gebiss eines Riesen. Die Felswand schien kein Ende zu nehmen.
»Die Teufelsmauer!«, entfuhr es Lukas.
»Tatsächlich.« Giovanni nickte und starrte entgeistert auf die hohe Wand vor ihnen. »Und ich dachte, dieser abergläubische Scherenschleifer schwafelt nur Unsinn.«
Lukas erzählte den Übrigen die unheimliche Geschichte von der Mauer, die einst der Teufel um den Harz errichtet hatte. Auch von den sogenannten Harzschützen berichtete er ihnen.
»Der Scherenschleifer meinte, dass unter den Harzschützen auch Gefrorene sein könnten«, endete Lukas. »Vielleicht stecken sie mit Schönborn ja unter einer Decke?«
»Jaja, und dass sich im Harz ein Riese, Zwerge und was weiß ich noch alles herumtreibt, hat der Bursche auch erzählt.« Giovanni winkte ab. »Ich denke, das müssen wir nicht so ernst nehmen.«
»Aber wenn Waldemar von Schönborn sein Versteck wirklich im Kyffhäuser hat, könnte das doch gut sein«, warf Gwendolyn stirnrunzelnd ein. »Giovanni, du meintest, Schönborn würde versuchen, sich zum neuen deutschen Kaiser aufzuschwingen, mit Elsas Hilfe. Dafür braucht er Mitstreiter, Armeen …«
»Und du glaubst, all diese üblen Kreaturen versammeln sich jetzt gerade im Harz?«, hauchte Lukas. Er sah hinüber zu den dunklen Umrissen der Teufelsmauer. »Verflucht, das könnte sein!«
Die Wolken, die eben noch den Mond verhüllt hatten, zogen plötzlich weiter. Als wäre ein Vorhang zur Seite gerissen worden, zeigte sich für einen kurzen Moment die Teufelsmauer. Schroff und feindselig ragte sie auf, dahinter dräute schwärzlich der Harz.
Das Reich des Bösen , ging es Lukas durch den Kopf. So sieht es tatsächlich aus.
Neue Wolken schoben sich vor die Mondscheibe, der Regen wurde stärker, eine eisige Gischt, die ihnen ins Gesicht wehte.
»Ich denke, wir sollten nicht über das Gebirge gehen«, sagte Jerome und zog sich die Kapuze seines Mantels über den Kopf. »Mir ist das alles nicht geheuer. Gegen Menschen kämpfe ich jederzeit, aber Gefrorene, Dämonen und Unholde? Damit haben wir schlechte Erfahrungen gemacht …« Er sah sich um. »Was meint denn eigentlich unser großer Magier dazu? Der sollte sowas doch am besten wissen. Warum kann er uns nicht einfach auf die andere Seite des Gebirges zaubern?«
Doch Merlin war wieder einmal verschwunden.
»Vermutlich ist er immer noch beleidigt, weil wir seine Hexenkünste nicht genügend gewürdigt haben«, sagte Paulus achselzuckend. »Lasst uns hier irgendwo lagern. Ich bin müde und durchgefroren, morgen ist auch noch ein Tag. Wir wollen bei Sonnenlicht entscheiden, welchen Weg wir nehmen.«
In den Hügeln unterhalb der Teufelsmauer fanden sie einige Felsen, die eine natürliche Höhle bildeten. Dorthin flüchteten sie vor dem Regen und dem Wind. Für ein Feuer war es zu nass, außerdem fürchtete Lukas, dass sie so auf sich aufmerksam machen könnten. Merlin tauchte weiterhin nicht auf.
In seinen nassen Kleidern fror Lukas jämmerlich. Er dachte an die warmen Decken, die er gekauft hatte und die vermutlich noch immer am warmen Lagerfeuer in Münzenberg lagen. Auch knurrte ihm der Magen. Die anderen hatten ein wenig altes Stroh gesammelt und zu einem Schlaflager hinten in der Höhle angehäuft. Lukas blieb noch eine Weile vorne am Eingang sitzen und starrte hinaus in die Dunkelheit.
»Hältst du nach Merlin Ausschau?«
Gwendolyn setzte sich neben ihn, und sofort wurde Lukas ein wenig wärmer. Vor lauter Verlegenheit wusste er zunächst nicht, was er sagen sollte. Es war das erste Mal seit ihrem Treffen in Wales, dass Gwendolyn mit ihm allein war.
»Diese Magier sind wirklich ein merkwürdiges Volk«, fuhr Gwendolyn schließlich nachdenklich fort. »Man weiß nie, woran man bei ihnen ist. Ob wir ihm trauen können?«
»Warum sollten wir ihm nicht trauen?«, fragte Lukas. »Wir haben ein Abkommen. Merlin bekommt das Grimorium erst, wenn er Schönborn besiegt hat.«
»Und wenn er sich das Zauberbuch einfach so nimmt? Hast du daran schon mal gedacht?«
Lukas durchfuhr ein eisiger Schrecken. Er tastete nach dem Beutel mit dem Schatzkästchen und zog es näher zu sich heran. Wieder spürte er ein drängendes Verlangen nach dem Buch, gleichzeitig empfand er abgrundtiefen Hass auf alle, die es ihm wegnehmen wollten.
Ich würde denjenigen töten! , fuhr es ihm durch den Kopf.
Er erstarrte. Was dachte er da eigentlich?
»Wenn Merlin das Grimorium stehlen könnte, hätte er es schon längst getan«, sagte er zögernd. »Er ist ein Magier, ich könnte ihn nicht daran hindern. Doch er kann es nicht, solange das Buch mich ausgewählt hat. Das hat er selbst gesagt.«
»Und wenn das Buch dich fallenlässt, so wie vor dir Elsa?«, fragte Gwendolyn. »Sich jemand anderen aussucht?«
»Dich vielleicht?« Lukas musterte sie kalt. »Ist es das, was du damit sagen willst?« Seine Hände umklammerten den Beutel, die Finger krallten sich in das Leder.
Gwendolyn runzelte die Stirn. »Wie kommst du nur auf so einen Blödsinn?«, fragte sie kopfschüttelnd. »Was sollte ich mit dem Buch anfangen? Ich kann ja nicht mal lesen.« Sie stand abrupt auf. »Du bist verrückt …«
»Gwendolyn, es … es tut mir leid!«, stotterte Lukas. »Ich … hab das nicht so gemeint.«
»Hör zu, ich bin müde.« Sie gähnte. »Und du vermutlich auch. Am besten, wir vergessen einfach, was du da eben gesagt hast.«
»Ich dachte, wir könnten uns ein wenig unterhalten …«
»Dafür hast du doch dein Buch. Das weiß sicher viele spannende Geschichten zu erzählen.« Sie lächelte spöttisch. »Gute Nacht, Lukas.« Mit diesen Worten ging sie zu den anderen.
Lukas fluchte leise. Was war er nur für ein Idiot! Da setzte sich das Mädchen seiner Träume neben ihn und er vergraulte sie. Dieses Grimorium machte ihn noch ganz wirr! Aber vielleicht war es ja auch Gwendolyn, die ihn verhexte. Lukas wusste, dass einem die Frauen den Kopf verdrehen konnten. Es gab viele Lieder und Gedichte darüber. Das war wahrlich auch eine Art Magie.
Trübe starrte er weiter hinaus in den Regen.
»He, Lukas, ruh dich aus!«, erklang Paulus’ brummige Stimme. »Der Zauberknirps kommt schon wieder. Er will ja das Buch.«
»Ich komme gleich«, sagte Lukas.
Dass Merlin nicht wiederkam, beunruhigte ihn. Was hatte der Zauberer nur allein in Quedlinburg gemacht? Es musste etwas sein, vom dem sie nichts erfahren durften. Was war das?
Und wenn der Zauberer doch versuchte, das Buch zu stehlen …?
Das durfte Lukas nicht zulassen! Aus einer plötzlichen Laune heraus holte er das Grimorium aus dem Kästchen und steckte es unter sein Wams. So würde es ihm niemand wegnehmen können.
Das Buch gehörte ihm, nur ihm allein!
Irgendwann nickte Lukas ein. In seinen Träumen war das Grimorium groß wie ein schwarzer Riesenvogel. Es breitete seine Seiten aus wie Flügel. Lukas flog auf ihm in den dunklen nebligen Harz hinein, auf einen Berg zu, unter ihm kreischten hohe Stimmen, ein großes Feuer brannte. Es war furchtbar heiß. So heiß, dass das Feuer sich bis zu seinem Herzen durchfraß …
Mit einem leisen Schrei wachte er auf. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Hand ging zum Wams, wo er eine seltsame Hitze spürte.
Es war das Buch. Es pochte warm, wie ein zweites Herz.
»Was zum Teufel …«, murmelte Lukas.
In diesem Moment sah er draußen einen Schatten vorbeihuschen.
»Merlin?«, rief er. »Bist du das?«
Doch keiner antwortete.
Er wandte sich um, um die anderen zu warnen, doch offenbar schliefen alle. War das möglich? Normalerweise wechselten sie sich beim Wacheschieben nachts ab, gerade wenn Gefahr drohte. Doch die Freunde lagen alle reglos am Boden, keiner rührte sich. Eben wollte Lukas sie laut ansprechen, als erneut ein Schatten vor der Höhle auftauchte. Diesmal war er näher, sodass Lukas mehr erkennen konnte. Es war ein großes vierbeiniges Wesen, das hinter einem der naheliegenden Felsen Deckung suchte. Lukas griff zu seinem Degen, als vom Felsen her ein lautes Knurren ertönte.
Im gleichen Moment sprang etwas auf ihn zu.
Es war ein riesiger weißer Wolf.
Seine Augen glühten rot wie Kohle, sein Rachen war weit aufgerissen, Geifer troff von seinen spitzen Zähnen. Instinktiv sprang Lukas zur Seite, und die Bestie rauschte an ihm vorbei. Sie landete auf ihren großen Tatzen und drehte sich fauchend zu ihm um.
»Alarm!«, schrie Lukas. »Zu den Waffen!«
Da griff ihn der Wolf erneut an.
Diesmal war Lukas vorbereitet. Er stach mit dem Degen nach dem Tier, das daraufhin knurrend zurückwich. Lukas hatte bereits einmal gegen einen riesigen Wolf gekämpft, es war eine Zauberkreatur Schönborns gewesen. Auch dieser Wolf schien nicht von dieser Welt. In seinen Augen funkelte etwas Dämonisches, ein intelligenter abwägender Blick, mit dem er Lukas musterte, bevor er zu einem weiteren Sprung ansetzte.
Etwas zischte knapp an Lukas vorbei, und der Wolf heulte auf. Ein Pfeil hatte ihn mitten in den Rachen getroffen. Ein zweiter und ein dritter Pfeil bohrten sich in sein Fell. Mit einem letzten Knurren verschwand die Bestie im Dunkel der Nacht.
»Da draußen sind sicher noch mehr!«, ertönte eine Stimme hinter Lukas.
Es war Gwendolyn, die mit gespanntem Bogen in der Mitte der Höhle stand. Hinter ihr näherten sich jetzt Giovanni, Jerome und Paulus mit ihren Waffen. Sie wirkten verwirrt, als wären sie gerade erst aufgewacht.
»Was zum Teufel …«, knurrte Paulus.
»Wir werden angegriffen!«, unterbrach ihn Gwendolyn. »Raus aus der Höhle!«
»Aber …«, sagte Jerome.
»Ich sagte, raus, ihr Schlafmützen! Und bleibt dicht hinter mir!«
Mit diesen Worten rannte Gwendolyn voraus, die Freunde liefen geduckt hinterher. Als sie vor die Höhle traten, entdeckte Lukas gleich drei der weißen Bestien. Sie kauerten im nassen Gras, bereit zum Sprung. Gwendolyns Pfeile zischten wie Hornissen an Lukas’ Ohren vorbei.
Nun verstand er auch, was Gwendolyn vorhatte. Hier draußen im offenen Gelände konnte sie die Wölfe mit ihrem Bogen besser auf Abstand halten. Schon damals in Prag hatte Lukas ihre Schusstechnik bewundert. Gwendolyn trug ihren Köcher nicht auf dem Rücken, sondern am Gürtel. Anders als andere Bogenschützen schoss sie ihre Pfeile auch im Nahkampf ab. Dabei hielt sie mehrere von ihnen gleichzeitig in der Hand. Sie feuerte sie so schnell hintereinander ab, dass man glauben konnte, einer ganzen Armee gegenüberzustehen.
Die Pfeile trafen jeder ihre Ziele. Die Wölfe knurrten und wichen zurück, doch hinter den nahegelegenen schwarzen Felsen zeigten sich bereits neue. Insgesamt ein halbes Dutzend. Einer von ihnen durchbrach den Pfeilhagel und sprang Paulus an, der den Angriff mit seinem wuchtigen Palasch abwehrte. Lukas kam ihm zur Hilfe, zückte seinen Degen und traf das Tier genau ins Herz. Blutend brach die weiße Bestie vor ihm zusammen; eine weitere lag bald, von Gwendolyns Pfeilen tödlich getroffen, am Boden.
»Kommt nur, ihr Schmusetierchen!«, zischte Gwendolyn und spannte erneut die Bogensehne. »Wer möchte der Nächste sein?«
Die weißen Wölfe verharrten geifernd, und die Freunde gingen langsam rückwärts, Schritt für Schritt, bis nur noch die glühenden roten Augen der Tiere in der Dunkelheit zu sehen waren.
Schließlich waren auch diese verschwunden, als hätte jemand ganz plötzlich eine Laterne gelöscht.
»Wo sind sie?«, fragte Jerome.
»Ich denke, die Biester ziehen sich zurück«, erwiderte Giovanni. »Aber ich fürchte, nicht für lange. Lasst uns schleunigst von hier verschwinden.«
»Und wohin?«, fragte Paulus. »Hier im offenen Gelände sind wir ungeschützt wie auf dem Präsentierteller.«
»Du hast recht.« Lukas sah hinüber zur Teufelsmauer, die nicht weit von ihnen entfernt aufragte. »Wir brauchen mehr Deckung. Lasst uns hoch in die Mauer steigen.«
»Und was ist mit Merlin?«, fragte Jerome.
»Verdammt, ich glaube, der Bengel hat uns einfach im Stich gelassen!«, schimpfte Paulus. »Wie auch immer, wir müssen von hier weg, bevor die Biester zurückkommen.«
Über einige Felsbrocken kletterten sie auf ein höheres Plateau. Sie standen jetzt direkt unterhalb der Teufelsmauer. Ein schmaler Pfad führte zwischen den Felsen hindurch. Schon bald hatten sie die andere Seite der Mauer erreicht. Die Landschaft, die sich vor ihnen ausbreitete, war sumpfig, durchsetzt mit groben Felsklötzen und Findlingen, als hätte ein Riese einen Sack Steine ausgeleert. Dorniges Gestrüpp wuchs dazwischen, dahinter erhob sich dunkel das Gebirge.
»Ich denke, damit ist klar, wohin unser Weg führt«, sagte Lukas grimmig. »Wir gehen in den Harz. Wollen wir hoffen, dass uns die Wölfe dort nicht finden.«
Sie marschierten noch eine Zeitlang, bis sie sicher sein konnten, dass ihnen die weißen Wölfe nicht weiter folgten. Eine Fackel anzuzünden wagten sie nicht, und so war der Weg dunkel und beschwerlich. Dornen zerrten an ihren Gewändern, gelegentlich blieben sie im sumpfigen Schlamm stecken, oder sie mussten über größere Felsen kletterten.
Lukas tappte mutlos voran. Sie hatten den Angriff der Bestien zwar unverletzt überstanden, aber bei ihrer Flucht hatten sie alles zurücklassen müssen, was ihnen noch geblieben war – auch die Schatulle. Das Grimorium trug Lukas weiter unter seinem Wams, doch die Silbermünzen, das Amulett mit dem Bild seiner Mutter, auch der Ring, den er Gwendolyn hatte schenken wollen, alles war in der Höhle geblieben! Lukas dachte daran, wie das Grimorium heiß geworden war. Hatte es ihn etwa warnen wollen?
Das Gelände wurde schnell steiler, sie betraten einen finsteren Tannenwald, in dem viel Totholz am Boden lag. Es knackte und knirschte bei jedem Schritt, als würden sie auf Knochen treten.
»Himmelherrgott, so hört man uns noch meilenweit!«, fluchte Paulus. »Lasst uns erstmal hier rasten und weiter beratschlagen.« Er setzte sich auf einen umgefallenen Baumstamm und atmete tief durch. »Kann mir jemand sagen, was das für Biester waren?«
»Nun, jedenfalls keine gewöhnlichen Wölfe«, sagte Giovanni. »Sie waren viel größer und außerdem weiß. Und ihre Augen leuchteten rot, als würden sie von innen heraus glühen.«
»Schönborn!«, flüsterte Lukas. Er erinnerte sich an den Wolf, den ihm Waldemar von Schönborn einst in seinen Träumen geschickt hatte. »Jede Wette, dass er dahintersteckt! Gut möglich, dass er schon weiß, dass wir ihm auf der Spur sind. Vielleicht gab es ja in Münzenberg jemanden, der uns an ihn verraten hat.«
»Apropos verraten …« Gwendolyn runzelte die Stirn. »Dass Merlin verschwunden ist, kann kein Zufall sein.«
»Du meinst, er und nicht Schönborn hat uns diese Wölfe geschickt?«, fragte Lukas.
»Wer weiß? Er ist ein Zauberer so wie Schönborn, und er hat seine eigenen Pläne. Was hatte er in Quedlinburg verloren, das wir nicht wissen durften? Und warum sind wir in der Höhle alle so plötzlich eingeschlafen, als hätte uns jemand verhext?« Gwendolyn sah Lukas an. »Hast du das Buch noch?«
Lukas nickte. »Es … es hat mich gewarnt.«
»Gewarnt?«, fragte Jerome ungläubig. »Wie kann ein Buch einen warnen?«
»Ich bin aufgewacht, weil das Grimorium plötzlich heiß wurde. Sonst hätten uns diese Bestien vermutlich im Schlaf den Garaus gemacht.« Auch jetzt fühlte sich das Buch noch warm an. Lukas schauderte. Vielleicht waren die weißen Wölfe immer noch irgendwo in der Nähe.
»Ich sag euch, was passiert ist«, brummte Paulus. »Merlin hatte einfach keine Lust mehr, uns zu begleiten. Er ist zurück nach Wales und geht jetzt irgendjemand anderen auf die Nerven. Ich bin jedenfalls froh, dass wir den Zauberknirps los sind.«
»Aber was ist mit Schönborn, mit meiner Schwester?«, warf Lukas verzweifelt ein. »Merlin sollte uns helfen, Schönborn zu besiegen! Ohne ihn sind wir machtlos …«
»Wirklich?«, fragte Gwendolyn. »Wir haben es das letzte Mal doch auch fast geschafft, ihn zur Hölle zu schicken. Erinnert euch!« Sie lächelte. »Außerdem hast du das Buch, und wir haben dich, Lukas …«
»Was meinst du damit?«, fragte Lukas.
»Auch du hast magische Kräfte, schon vergessen? Vielleicht solltest du dich einfach mehr darauf einlassen. Es versuchen, auch mit dem Buch …«
»Niemals!«, rief Lukas. »Ihr wisst, was das Buch mit Elsa gemacht hat.«
»Aber das muss nicht für dich gelten«, wandte Gwendolyn ein. »Du hast deine eigenen Zauberkräfte.«
Tatsächlich besaß auch Lukas magische Fähigkeiten. Doch sie zeigten sich nur sehr selten. In Prag war es ihm ein paar Mal gelungen, und auch später auf Burg Lohenstein hatte er es gelegentlich versucht.
Einmal hatte er einen Hund geheilt, der etwas Giftiges gefressen und schon im Sterben gelegen hatte. Ein anderes Mal war es ihm gelungen, ein Abbild seiner Mutter zu erzeugen, die ihn in den Schlaf gesungen hatte.
Seine Zauber, das hatte er mittlerweile herausgefunden, hatten immer mit Liebe zu tun. Und sie gingen oft mit Anfällen einher, waren unkontrollierbar, sie passierten einfach.
Wie auch die Liebe einen manchmal einfach so überkam.
Lukas überlegte. Vielleicht hatte Gwendolyn recht. Möglicherweise wäre es anders, wenn er sich mehr mit dem Buch beschäftigte …?
»Ich denke, es ist gut, dass Lukas auf die Zauberei verzichtet«, unterbrach Giovanni Lukas’ Grübeleien. »Magie ist gefährlich, das mussten wir schon zu oft am eigenen Leib erleben. Sie kann einen in den Abgrund reißen.«
»Und was sollen wir deiner Meinung nach dann tun?«, fragte Gwendolyn. »Wir haben nichts mehr als unsere Waffen.«
»Eben.« Giovanni grinste. »Wir tun, was wir immer getan haben. Wir halten zusammen, und besiegen das Böse mit tödlichem Stahl.« Er zog seinen Degen aus der Scheide. »Wir werden Schönborn und Elsa finden, ganz ohne Zauberer und Magie. Einer für alle …«
»… und alle für einen!«, fielen Lukas, Jerome und Paulus mit ein. Sie hielten ihre Klingen aneinander. Das alte Ritual gab Lukas Kraft.
»Dann solltet ihr auch auf meinen Bogen nicht verzichten«, sagte Gwendolyn. »Vergesst nicht, dass ich euch eben erst den Hintern gerettet habe.«
»Du musst uns nicht begleiten«, murmelte Lukas. »Du kannst jederzeit …«
»Ach, hör schon auf!«, schimpfte Gwendolyn. »Meinst du, ich lass euch gerade jetzt allein, ihr Hosenscheißer? Im unheimlichen Harz? Ohne mich findet ihr nicht mal bis zur nächsten Wasserstelle. Ihr braucht eine starke Frau an eurer Seite.« Sie lächelte grimmig. »Und eines ist wohl klar: Mein Preis steigt jeden Tag. Noch ein paar von diesen weißen Bestien, und ihr müsst mein Gewicht in Gold aufwiegen.«