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W ie lange sie unterwegs waren, vermochte Lukas nicht zu sagen. Es mochten wohl einige Stunden gewesen sein. Die Männer hatten ihm und den anderen die Augen mit einem schmutzigen Stück Stoff verbunden. Zudem war er gefesselt. Jemand zog ihn wie ein Kalb an einem Strick hinter sich her. Blind stolperte Lukas voran, immer wieder fiel er über Äste und Steine, schrammte sich die Knie auf, wurde hochgerissen und zur Eile angetrieben. Gelegentlich hörte er einen seiner Freunde schreien oder fluchen.

»Verdammt, ich bin kein Ochse!«, schimpfte Paulus, der direkt hinter ihm ging. »Passt gefälligst auf!«

»Sei still, Großer, sonst ergeht es euch wirklich noch wie Ochsen, und wir führen euch zum Schlachter«, sagte jemand laut. Lukas vermutete, dass es der bärtige Köhler namens Lorenz war. Die anderen lachten, und Lukas bekam einen weiteren Rempler.

So tappten sie durch die Dunkelheit. Es ging stetig aufwärts, offenbar marschierten sie auf einem schmalen Gebirgspfad. Lukas roch das Harz von Fichten, gelegentlich trat er in Schneehaufen, je höher sie kamen, desto kälter wurde es. Er fröstelte in seinem dünnen Mantel, seine Füße waren nass und klamm.

Während des Marschs verfluchte Lukas ihr Unglück. Noch in Münzenberg hatte man ihn vor den Harzschützen gewarnt. Nun waren sie von ihnen gefangen genommen worden. Wie dumme Schafe waren sie ihnen in die Falle gelaufen! Ob an den Geschichten was dran war, dass sich unter den Harzschützen auch Gefrorene befanden? Falk und Lorenz schienen keine zu sein, und auch die anderen Männer machten einen durchaus menschlichen Eindruck. Aber was hatte es mit dem Gerede vom Höllenschlund auf sich, den Falk vorher noch drohend erwähnt hatte?

Im Höllenschlund hat noch jeder geredet …

»Vorsicht jetzt!«, ertönte irgendwann eine Stimme neben ihm. Jemand packte Lukas am Kragen und schob ihn unsanft vor sich her. Es ging hinab in eine Senke. Dornen kratzten an seinen Hosenbeinen, das Wams riss mit einem hässlichen Ratschen ein. Vermutlich passierten sie eine dichte Hecke oder irgendein größeres Gebüsch. So ging es einige Zeitlang, bis das Kratzen durch die Dornen schließlich ein Ende hatte. Lukas roch Rauch und gebratenes Fleisch, Stimmengewirr war zu vernehmen.

»Ihr könnt ihnen die Binden jetzt abnehmen«, sagte Falk, der offenbar immer in ihrer Nähe gewesen war.

Der Stofffetzen wurde Lukas von Gesicht gerissen. Kurz dachte er, er wäre blind, bis ihm aufging, dass es ja noch immer Nacht war. Erst langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit ringsum. Ein paar größere Feuer brannten nicht weit entfernt, an denen etliche Männer saßen. Auf Dreibeinen waren Töpfe aufgehängt, aus denen es dampfte und verführerisch nach Essen roch. Dahinter erhob sich eine stachlige Weißdornhecke, die bestimmt über drei Schritt hoch war, massiv wie eine Mauer. Sie verlief in einem Rund, sodass das Lager von außen nicht einzusehen war. Ein paar Zelte standen am Rand der Hecke, dahinter waren die schwarzen Umrisse hoher Felsen auszumachen.

Das geheime Lager der Harzschützen , dachte Lukas. Die Schweden würden für dieses Geheimnis einen Batzen Geld zahlen.

»Bringt sie zum Höllenschlund!«, befahl Falk. »Ich knöpfe sie mir morgen wieder vor. Irgendwann werden sie schon reden.« Er lächelte grimmig. »Wie gesagt, im Schlund fangen alle irgendwann an zu reden.«

Lukas schluckte und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Nun würde er gleich erfahren, was es mit dem Höllenschlund auf sich hatte. Er sah sich nach seinen Freunden um, die nicht weit von ihm entfernt standen. Die Dornen hatten Jeromes schöne blaue Weste zerrissen, was ihm offenbar mehr zu schaffen machte als seine missliche Lage.

»Mon dieu , wisst ihr, was dieses Stück gekostet hat!«, schimpfte er. »Das Wams ist aus Paris!«

»Es wird bald noch viel übler aussehen, glaub mir«, gab der Köhler Lorenz zurück. Er spuckte vor ihm aus. »Französischer Verräter!«

»Ich bin kein Verräter! Sag das nicht nochmal, du schmutziger verlauster … He!«

Lorenz gab Jerome einen Schubs, der ihn vorwärts taumeln ließ. Auch Lukas und die anderen wurden jetzt quer durch das Lager gezerrt, vorbei an bestimmt fünfzig Harzschützen, die sie grimmig anstarrten.

»Söldnerpack!«, rief ihnen jemand hinterher. »Hängt sie am nächsten Baum auf!«

»Nicht, bis sie uns sagen, wer sie geschickt hat«, erwiderte Lorenz. »Ich vermute mal, die Schweden. Das sind sicher welche von Banniers Leuten, der hat auch Franzosen in seiner Armee.«

»Aber das sind doch fast noch Kinder«, warf ein älterer Mann mit zerbeultem Helm ein.

»Kinder wie die da haben auch meine Familie auf dem Gewissen«, entgegnete Lorenz. »Ihr wisst, was die Soldaten meinen Töchtern angetan haben. Die waren nicht viel älter! Na, der Höllenschlund bringt sie sicher bald zum Reden, dann wissen wir mehr.«

Ganz plötzlich endete ihr stolpernder Gang durch das Lager. Zunächst konnte Lukas keinen Grund dafür erkennen, dann sah er vor sich ein im Waldboden eingelassenes Holzgitter. Zwei Männer öffneten ein rostiges Vorhängeschloss und hoben das schwere Gatter hoch. Darunter war eine tiefe Grube zu erkennen, aus der es fürchterlich stank. Lorenz löste ihre Fesseln.

»Von da unten gibt es ohnehin kein Entkommen«, sagte er grinsend. »Und wir wollen doch nicht, dass ihr hübschen Vöglein euch die Flügel brecht, bevor ihr gesungen habt. Werft sie hinein!«

Die letzten Worte waren an einige der umstehenden Harzschützen gerichtet, die sie nun packten und einzeln zum Rand der Grube zerrten. Paulus war der erste. Es brauchte drei Männer, um ihn zu bewegen. Er wehrte sich mit Händen und Füßen.

»Das werdet ihr bereuen, ihr räudigen Bastarde!«, rief er noch, dann warfen sie ihn in die Grube. Die anderen Freunde und auch Gwendolyn folgten ihm unter wütenden Protesten.

»Ersauft nicht in eurem eigenen Kot!«, lachte Lorenz. Als Letztem gab er Lukas einen Tritt, und er fiel in die Dunkelheit.

Hinab in den Höllenschlund.

Glücklicherweise landete Lukas weich.

Die Grube, die fast vier Schritt tief war, war ein Pfuhl aus Schlamm, Unrat, fauligen Gemüseresten und Dingen, von denen Lukas gar nicht genau wissen wollte, was es war.

Über ihm war noch kurz Lorenz’ Gesicht im Mondlicht zu sehen. »Eine gute Nacht wünsche ich!«, rief er hinunter. Dann schloss sich das Gitter.

Lukas rümpfte die Nase. Neben ihm erhoben sich die anderen langsam aus dem stinkenden Dreck. Voller Abscheu blickte Jerome an sich herunter. Wams, Hose, Gesicht, alles war beschmiert.

»Merde !«, rief er.

»In diesem Fall hast du ausnahmsweise mal recht«, sagte Giovanni. »Das ist wirklich Sch… Naja, du weißt schon.«

»Sind alle unverletzt geblieben?«, erkundigte sich Gwendolyn und schüttelte sich.

»Naja, wenn man von Jeromes gebrochenem Herzen wegen seiner ruinierten Pariser Weste absieht, vermutlich schon«, brummte Paulus. »Aber das Schlimmste steht uns noch bevor. Dieser Anführer namens Falk war ja sehr klar in seiner Ansage. Solange wir nicht auspacken, kommen wir hier nicht raus.« Er sah sich um. »Brrr! Das ist wirklich ein Höllenschlund.«

Lukas fröstelte. Bis zu den Knien stand er im Unrat. Der nasse Schlamm hatte seine Kleidung durchgeweicht, an Hinlegen und Ausruhen war nicht zu denken.

So langsam verstand er, warum Falk gemeint hatte, dass noch jeder im Schlund geredet hatte. Wie lange würden sie es hier unten aushalten? Andererseits, was sollten sie Falk und seinen Harzschützen schon sagen? Dass sie zwar keine Söldner und Verräter waren, dafür aber einen Schwarzmagier suchten, der Lukas’ Schwester entführt hatte? Niemand würde ihnen glauben.

Niedergeschlagen sah Lukas nach oben, wo zwischen den Gitterstäben ein paar Sterne funkelten, unendlich weit weg. Gesang und Gelächter vom Lagerfeuer drangen zu ihnen herunter. Die Freunde schwiegen, nur ab und zu hörte man ein schlüpfriges, glitschiges Geräusch, wenn sich jemand in dem stinkenden Pfuhl bewegte.

»Ich muss gestehen, es sieht wirklich übel für uns aus«, seufzte Giovanni und wischte sich notdürftig den Dreck aus dem Gesicht. »Ich wüsste nicht, wie wir hier rauskommen sollen.«

»Wenn du schon keine Idee hast, wer dann?«, sagte Jerome.

»Nun, ich wüsste schon, was wir machen könnten«, meldete sich Gwendolyn. Sie deutete mit dem Finger auf Lukas. »Vielmehr, was du machen könntest. Du hast doch immer noch das Buch, oder?«

»Ja, schon«, gab Lukas zu. »Aber …«

»Na, dann zaubere uns hier raus.«

»Gwendolyn«, begann Lukas. »Ich hab es dir schon mal gesagt. So einfach geht das nicht. Außerdem kann ich nicht zaubern …«

»Das stimmt nicht!«, sagte sie. »In Prag hast du es auch gekonnt. Sogar ganz ohne Buch, einfach so.«

»Ja, aber das …« Lukas zögerte.

… hatte immer mit Liebe zu tun , dachte er.

Die Zauber hatten immer nur dann funktioniert, wenn es um jemanden gegangen war, den er liebte. Zweimal war das bei Gwendolyn der Fall gewesen. Aber er brachte es nicht übers Herz, ihr das zu sagen.

»Es ist einfach so passiert«, sagte er stattdessen. »Keine Ahnung, wieso. Und ich will es auch nicht.«

»Auch dann nicht, wenn deine Freunde hier unten erfrieren und ertrinken?«

»Herrgott, Gwendolyn … ich … ich kann es nicht! Und selbst, wenn ich es mit Hilfe des Buchs könnte …« Lukas schluckte. »Du weißt selbst, was das Grimorium mit Elsa angestellt hat. Es … es hat sie böse gemacht! Niemand kann voraussehen, was geschieht, wenn ich es benutze.«

»Nein, das nicht. Aber ich kann dir sagen, was geschieht, wenn du es nicht benutzt. Wir werden hier alle krepieren, wie die Tiere!« Sie sah ihn zornig an. »Du und deine Freunde! Willst du das?«

Lukas schwieg. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte. Gwendolyn hatte ja recht, das Zauberbuch konnte vielleicht ihre Rettung sein. Es hatte Lukas schon einmal geholfen, vielleicht würde es ihnen wieder helfen. Auch wollte er Gwendolyn so gerne beweisen, dass er auf ihrer Seite stand, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Seine Hand ging zum schmutzigen Wams, doch er holte das Buch nicht hervor.

Benutze mich! , erklang die mittlerweile vertraute Stimme in seinem Kopf. Ich kann euch helfen …

Lukas’ Hand zuckte zurück.

»Ich finde, Lukas hat recht«, sagte Giovanni. »Wir haben das doch schon einmal besprochen. Das Grimorium ist zu gefährlich, um es einzusetzen. Es war als Lohn für Merlin gedacht …«

»Aber Merlin hat sich aus dem Staub gemacht, und jetzt tragen wir dieses Ding durch die Gegend«, warf Paulus ein. »Ich weiß nicht. Also, wenn ich eine so mächtige Waffe hätte …«

»Du hast sie aber nicht, ich habe sie!« Lukas’ Stimme schwoll plötzlich an. »Komm nur nicht auf die Idee, mir das Buch zu stehlen!«

»He, wie kommst du denn auf so was?« Paulus hob die Hände. »Das würde ich nie tun. Du bist mein Freund, Lukas. Schon vergessen? Und ich hoffe, ich bin auch deiner«, fügte er düster hinzu.

»Natürlich bist du das«, murmelte Lukas. »Wir alle sind Freunde. Tut mir leid …«

Was war nur in ihn gefahren? Wie auch gestern schon bei Gwendolyn gingen ihm die Nerven durch, sobald es um dieses verfluchte Buch ging. Er wünschte, er hätte es nie mitgenommen!

»Ich schlage vor, dass wir versuchen, uns trotz allem erstmal ein wenig auszuruhen«, schlug Giovanni vor. Er fischte im Dreck nach einer abgebrochenen Holzlatte. »Damit können wir eine schmale Stufe in den Grubenrand graben, die kann uns als eine Art Bank dienen.« Er lächelte aufmunternd. »Nicht gerade ein Himmelbett, das gebe ich zu. Aber besser als nichts.«

Er fing an zu graben, während Lukas noch einmal zu den Sternen hinaufsah.

Doch auch die sagten ihm nicht, was er tun sollte.