V iele Meilen entfernt wartete Elsa mit klopfendem Herzen auf die Rückkehr ihrer weißen Boten.
Es war mitten in der Nacht, sie trug nur ihr Nachthemd und keine Schuhe. An den Zehen war ihr schrecklich kalt. Doch barfuß konnte sie sich lautloser bewegen. Die gefrorenen Wächter hatten nichts bemerkt, und das, obwohl sie einen Bereich betreten hatte, der ihr eigentlich verboten war. Sie stand nicht weit von einem der Tunnelausgänge entfernt, den sie auf ihren Erkundungsgängen durch das Höhlensystem entdeckt hatte. So weit hatte sie sich noch nie vorgewagt!
Von ihrem Platz aus konnte sie feuchtes Laub und Tannenharz von der Welt draußen riechen, eine frische Brise zog an ihr vorbei. Der Duft weckte Erinnerungen in ihr. Sie sah sich selbst mit nackten Füßen durch einen Wald laufen, weiter hinten thronte eine Burg … Wie lange war sie schon hier unten? Sie konnte es noch immer nicht sagen. Ihr Vater hatte sie hierhergeführt, das war alles, was sie wusste. An mehr konnte sie sich nicht erinnern.
Ab und an drang von oben her ein Rumoren und Hämmern zu ihr hinunter. Was das bedeutete, wusste sie nicht. Denn der Weg nach oben war ihr ebenso verboten wie manch anderer Gang. Überall waren die gefrorenen Wächter postiert.
Dies hier ist unser Reich, Elsa! , hatte ihr Vater zu ihr gesagt. Die Hallen des Bergkönigs. Von hier aus werden wir schon bald die Welt regieren, du und ich! Alles andere musst du vergessen!
Es war ein dunkles einsames Reich, doch das störte Elsa nicht weiter. Jedenfalls nicht, solange sie nicht daran dachte, wie einsam sie eigentlich war. Sie hatte ihre Bücher aus der Bibliothek, daneben gab es noch etliche andere wunderbare Zimmer, ein Laboratorium mit bunt leuchtenden Destillen, Mörsern und Phiolen, ein Spielzimmer mit silbernen Automaten, die sprechen und musizieren konnten, eine Küche mit Köstlichkeiten, die sich von ganz allein kochten; in allen Räumen leuchteten die magischen Kugeln, die auch Wärme spendeten.
All das war wie ein gigantisches Spielzimmer, nur für sie allein, es fehlte ihr an nichts. Eigentlich hätte sie glücklich sein können. Doch da war eine Leere in Elsas Herzen, von der sie nicht wusste, woher sie kam.
Mit der Zeit hatte sie herausgefunden, wie riesig das unterirdische Labyrinth war. Immer wieder stieß sie auf Gänge, die sie noch nicht kannte. Viele waren Sackgassen, die früher wohl einmal ins Freie geführt hatten, sie waren verschüttet und zugemauert.
Doch ein Gang war es nicht, vermutlich hatte Schönborn ihn einfach übersehen.
Der Zugang war mit Farn und Efeu zugewachsen, auch Elsa hatte ihn zunächst nicht gefunden, und auch danach hatte sie sich ihm nie weiter als bis auf zehn Schritt genähert. Ihr Vater hatte ihr verboten, die Hallen des Bergkönigs zu verlassen. Mehr noch, er hatte sie eindringlich gewarnt.
Die Luft dort draußen ist giftig für dich, Elsa! Du bist bald eine mächtige Magierin, die mächtigste von allen, aber die Luft kann dich töten. Denk immer daran!
Tatsächlich spürte Elsa ein Kratzen im Hals, als sie die kühle Brise von draußen einatmete. Oder bildete sie sich das nur ein? Sie wich ein Stück zurück, wie ein Tier, das nur in der Finsternis leben konnte. Ihr Vater meinte, es habe etwas mit dem Erlernen der Zaubersprüche zu tun. Ihr Körper sei dadurch sehr geschwächt, nur das feuchte Klima in der Höhle könne sie ertragen. Draußen lauere der Tod.
Dass Elsa sich überhaupt so weit vorgewagt hatte, hatte mit dem fernen Ruf zu tun, den sie mitten in der Nacht empfangen hatte. Ihre Lieblinge kamen zurück! Dafür war sie extra aufgestanden und heimlich hierhergekommen. Ihr Vater wusste von nichts.
Tatsächlich hörte sie schon bald ein Kratzen und Schaben. Etwas Großes kroch von draußen in den engen Höhleneingang.
»Greif!«, rief Elsa erfreut. Es war der Größte der Wölfe, der Anführer. Ihre Miene änderte sich schlagartig, als sie im Licht der magischen Kugeln Greifs Fell sah.
Es war blutig.
»Was ist geschehen?« Sie eilte auf ihn zu und untersuchte seine Wunden. »Wer hat das getan, Greif?«
Zweibein mit Eisentatze , erklang eine tiefe Stimme in ihrem Kopf.
»Menschen mit Schwertern?«, erkundigte sich Elsa. Ihr Herz klopfte wild, während gleichzeitig der Zorn in ihr wuchs.
Ja. Ein dumpfes Grollen ertönte aus dem Rachen des weißen Wolfs. Und wieder vernahm sie die Stimme in ihrem Kopf. So viele wie Krallen an meinem Fuß.
Es war die Art, wie sie miteinander sprachen. Ihr Vater hatte ihr die weißen Wölfe zum Geschenk gemacht. Sie stammten aus einem Rudel, das Waldemar von Schönborn im Harz von einem Mann aus dem fahrenden Volk gekauft hatte, sehr seltene Exemplare. In den letzten Monaten waren die Wölfe, auch durch Elsas magische Hilfe, zur Größe von Kälbern herangewachsen. Es waren ihre einzigen Spielkameraden, und nun musste sie sehen, dass ihnen Leid zugefügt worden war. Ein grenzenloser Schrecken durchfuhr sie, als hinter Greif die anderen Wölfe in die Höhle traten.
Zwei fehlten.
»Wer …«, hauchte Elsa.
Fang und Blitz. Einer durch die Eisentatze, der andere durch fliegende Äste …
»Schwerter und Pfeile!«, zischte Elsa. Eine unendliche Trauer überkam sie, als ihr klar wurde, dass zwei ihrer Spielkameraden für immer von ihr gegangen waren. Dann brandete die Wut in ihr auf. »Das sollen sie tausendfach büßen!«
Es war, als hätte man ihr das Herz herausgerissen. Wer immer ihren Lieblingen das angetan hatte, er sollte dafür bestraft werden!
Trotz dieser schrecklichen Nachricht beschloss Elsa, ihrem Vater auch weiterhin nichts zu erzählen. Um sich selbst zu beruhigen, kraulte sie nacheinander die übrigen vier Wölfe und sprach ihnen gut zu.
Währenddessen erzählte ihr Greif, was geschehen war. Die Wölfe hatten das Buch gefunden, doch derjenige, der es bei sich trug, hatte gekämpft wie ein Löwe. Andere hatten ihm geholfen. Selbst der Schlafzauber, den Elsa ihren Wölfen mitgegeben hatte, hatte nichts gebracht. So waren die Mörder schließlich davongeschlichen, im Schutze der Nacht. Doch Greif hatte etwas mitgenommen, etwas, das dem Buchdieb gehört hatte.
Der weiße Wolf öffnete seinen großen Rachen. Zwischen seinen Zähnen blitzte eine Schatulle.
Schau …
Vorsichtig stellte er das Kästchen vor Elsa ab, die es öffnete.
In der Schatulle waren einige Silbermünzen, ein Ring …
Und ein Amulett.
Etwas an dem Amulett zog Elsa wie magisch an. Sie nahm es in die Hand und untersuchte es. Es ließ sich öffnen. Im Inneren befand sich das fein gemalte Portrait einer Frau. Der Anblick löste in Elsa einen Wirbelsturm von Gefühlen aus.
Sie … kannte die Frau.
Mit höchster Konzentration betrachtete sie das Portrait.
Wer ist das …? Wer … Wer …?
Doch so sehr sie sich auch bemühte, es mochte ihr nicht einfallen. Stattdessen bekam Elsa fürchterliche Kopfschmerzen. Sie klappte das Amulett wieder zu und überlegte. Sie musste unbedingt erfahren, wer diese Frau war! Und es gab einen, der es ihr sagen konnte.
Der verfluchte Buchdieb. Derjenige, der ihren Wölfen das angetan hatte!
Sie sah Greif an, und dieser nickte. Er hatte verstanden, auch ohne, dass sie ihn darum gebeten hatte.
Wir gehen zurück. Wir holen das Buch und den Dieb.
»Ich will ihn lebend«, flüsterte Elsa. »Hörst du? Ich muss etwas von ihm erfahren. Dann werden wir uns rächen.« Sie streichelte Greifs blutiges Fell. »Und passt auf euch auf! Ich will nicht noch einen von euch verlieren. Ihr seid alles, was ich habe. Seid diesmal vorsichtig!«
Diesmal nehmen wir unsere Freunde mit. Wir holen das Buch und den Dieb. Wenn du erfahren hast, was du wissen musst, dann bekommen wir ihn …
Elsa nickte. »Dann bekommt ihr ihn. Versprochen.«
Rache für Fang und Blitz!
»Rache für Fang und Blitz! Und kein Wort zu meinem Vater. Das ist eine Sache nur zwischen uns, ja?«
Ja, Meisterin.
Der große weiße Wolf knurrte. Dann wandte er sich ab und trabte mit den anderen Wölfen wieder dem Ausgang zu.