A m nächsten Tag saßen die Gefährten immer noch im Höllenschlund.
Lukas hatte kein Auge zugetan, und das, obwohl er schon letzte Nacht kaum geschlafen hatte. Sie hatten sich auf dem schmalen Sims, den Giovanni in die Erde gegraben hatte, mit dem Sitzen abgewechselt. Ihre Kleidung war schmutzig und durchweicht, bis zu den Knien standen sie im stinkenden Pfuhl. Selbst Paulus war mit seinen Kräften am Ende. Im Stehen fielen ihnen allen die Augen zu, und sie mussten sich gegenseitig immer wieder anstupsen und stützen, um nicht in den Dreck zu fallen.
Noch nie hatte sich Lukas so verloren gefühlt.
Morgenlicht fiel in die Grube, ein paar wenige Sonnenstrahlen, die bis zu ihnen hinunterdrangen. Ab und an glotzte jemand hinein oder warf einen angenagten Knochen zu ihnen hinunter, ganz so, als ob sie Hunde in einem Zwinger wären. Andere lachten und zeigten mit dem Finger auf sie. Irgendwann tauchte Lorenz’ Gesicht zwischen den Gitterstäben auf, er musterte sie neugierig.
»Na, schon mürbe geworden?«
»Scher dich zum Teufel!«, rief Paulus zu ihm hoch.
Lorenz winkte ab. »Spar dir deine Kräfte, Großer. Sei froh, dass ich dir nicht auf den Kopf pisse.«
»Wir wissen nichts!«, sagte Lukas zum wiederholten Mal. »Und wir sind auch keine Söldner. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort!«
»Oho, ein ganz ein Edler! Gibt mir sein Ehrenwort.« Lorenz lachte. »Auf dein Ehrenwort spuck ich! Länger als zwei Nächte hat es dort unten im Schlund noch keiner ausgehalten. Du redest schon, so oder so. Spätestens, wenn Falk sich dich vorknöpft.«
Mit diesen Worten entfernte er sich wieder. Von fern waren weiterhin die Stimmen vieler Männer zu hören, Waffen klirrten, jemand rief irgendwelche Befehle. Offenbar bereitete man sich auf einen neuen Kampf gegen den Feind vor.
Gwendolyn hatte in den letzten Stunden kaum etwas gesagt, vor allem nichts zu Lukas. Er wusste genau, was sie von ihm erwartete: Dass er sie hier rauszauberte. Doch das konnte er nicht, und er wollte es auch nicht. Ihm war aber auch klar, dass sie keine zweite Nacht hier unten überstehen würden.
So vergingen die Stunden.
»Kannst du mal weniger laut mit den Zähnen klappern?«, fuhr Paulus Jerome an. »Das macht einen ganz wahnsinnig!«
»Und mich macht dein ständiges Genöle und Gebrüll wahnsinnig«, gab Jerome zurück. »Brüll doch den Schlamm an, wenn du unbedingt musst! Oder dein hässliches Spiegelbild im Wasser.«
»Freunde!«, ging Giovanni dazwischen. »Es bringt nichts, wenn wir uns hier gegenseitig zerfleischen. Wir müssen vielmehr …«
Plötzlich war von oben ein Geräusch zu hören. Das Vorhängeschloss wurde geöffnet, jemand schob das Gitter zur Seite.
»Der Bursche mit dem Ehrenwort!«, rief Lorenz runter. »Falk will dich sehen!«
»Nur mich?«, fragte Lukas überrascht.
»Ja, nur dich. Hoch mit dir, und mach keine dummen Sachen!«
Ein Seil wurde hinabgeworfen. Lukas’ Finger waren so klamm, dass er kaum danach greifen konnte. Endlich gelang es ihm, und er zog sich mühsam daran hoch.
»Lass dir gefälligst was einfallen!«, zischte ihm Gwendolyn hinterher. »Wenn du schon der Glückspilz bist, der hier raus kann.«
»Ob ich deshalb ein Glückspilz bin, wird sich noch zeigen«, erwiderte Lukas.
Oben wartete Lorenz mit zwei weiteren bewaffneten Männern auf ihn. Sie führten ihn von der Grube weg und auf ein Zelt zu, das am Rande der Hecke stand. Es war ein wenig größer als die anderen Zelte, eine blutrote Fahne, die das Bild eines Falken zierte, wehte an einem Mast.
»Da rein!« Lorenz schob ihn in das Zelt, in dem es erstaunlich wohnlich aussah. Es gab einige Schemel, Felle lagen auf dem Boden, eine Truhe stand an der Seite. In der Mitte befand sich ein Tisch mit einigen zerknitterten Landkarten darauf. Das Ganze erinnerte Lukas sehr an die Kommandozelte, die er von seiner Zeit im Heereslager der Schwarzen Musketiere her kannte. Falk stand am Tisch und studierte eben eine der Karten. Er blickte auf. Erst jetzt im Tageslicht sah Lukas, dass Falks blonde Haare an manchen Stellen schlohweiß waren, obwohl er sicher noch keine vierzig Jahre zählte. Tiefe Sorgenfalten lagen um seine Augen, der Krieg hatte den Anführer eindeutig gezeichnet.
»Lass uns allein, Lorenz«, sagte er.
»Aber der Junge …«, begann Lorenz.
»Ist nicht bewaffnet und vor Müdigkeit und Kälte fast ohnmächtig. Wenn, dann bringt mich höchstens sein Gestank um.«
»Ganz wie du meinst, Hauptmann.« Lorenz entfernte sich, und Lukas war mit Falk allein. Dieser sah ihn lange an.
»Ich kenne Burschen wie dich«, sagte Falk schließlich. »Hab’s an deinem Ton gemerkt, die Art, wie du redest, wie du die Führung übernimmst. Du kommst aus einer adligen Familie, nicht wahr?«
Lukas nickte schweigend.
»Ich weiß es auch noch aus einem anderen Grund«, fuhr Falk fort. »Ich selbst bin es nämlich auch. Falk von Dinkelsbühl heiße ich, unsere Burg liegt im Schwäbischen. Vielmehr, sie lag dort. Soldaten haben sie zerstört. Meine Frau und meinen Sohn haben sie umgebracht. Mein Sohn war ungefähr so alt wie du …« Falk machte eine Pause, er atmete tief durch. »Ich konnte ihnen nicht helfen, weil ich selbst im Krieg war, zog mit Tillys Heer gegen Magdeburg. Hast du schon mal was von der Magdeburger Hochzeit gehört?«
Lukas schüttelte den Kopf.
»Ein hübscher Name für ein Massaker! Wir haben die Stadt angezündet, keiner entkam, nicht einmal die Kinder. Auch wir waren Blutsäufer, o ja! Sowas macht der Krieg aus einem.«
»Warum erzählt Ihr mir das alles?«, fragte Lukas zögernd.
»Damit du verstehst, warum wir so sind, wie wir sind. So wie mir geht es allen Männern dort draußen. Lorenz, der Köhler, zum Beispiel hat seine Töchter verloren. Alle drei! Die Schweden haben sie auf dem Gewissen. Jetzt gerade kämpfen wir gegen die Schweden, davor waren es die Kaiserlichen, die Dänen, Kroaten … Soldat ist Soldat, für den kleinen Mann macht das keinen Unterschied.« Falk deutete zum Zeltausgang. »Diese Männer dort draußen sind keine Soldaten, sie sind Köhler, Jäger, Handwerker, einfache Leute … Sie mögen grausam erscheinen, doch im Grunde haben sie alle nur gebrochene Herzen. Sie wollen Rache, für das, was ihnen angetan wurde!«
»Rache ist nie ein guter Ratgeber«, meinte Lukas. »Das hat schon mein Vater gesagt.«
»Was weißt du, Grünschnabel, schon vom Leben?«, herrschte ihn Falk an. »Meine Männer wollen, dass ihre Heimat, der Harz, wieder frei ist. Dafür kämpfen wir Harzschützen. Und deshalb müssen wir wissen, wo der Feind ist, was er vorhat.« Er deutete auf die Karte am Tisch. »Also, wo stecken die Burschen? Ich verspreche, dass ich euch kein Leid antue, wenn ihr uns sagt, was Bannier mit seinen Truppen vorhat. Ihr kommt doch von Bannier, oder?«
»Ich … ich weiß überhaupt nicht, wer das ist«, erwiderte Lukas stockend.
»Du willst den Feldmarschall der Schweden nicht kennen, ihren mächtigsten Mann nach dem Tod ihres Königs Gustav Adolf?«, höhnte Falk. »Wo kommst du her, dass du glaubst, mir solche Märchen erzählen zu können?«
»Ich komme aus der Gegend von Heidelberg«, sagte Lukas. »Mein Vater hatte dort eine Burg …«
»Das wird ja immer bunter! Warum soll ich dir das glauben? Was macht ein adliger Junge aus Heidelberg ausgerechnet im Harz, hm?« Falk kam drohend auf ihn zu. »Ich wollte dir entgegenkommen, Junge, aber du …«
»Es ist wahr!«, rief Lukas verzweifelt. »Ich bin hier, weil wir meine Schwester suchen. Sie wurde entführt! Vielmehr, jemand hat sie mitgenommen, ein … ein böser Mann.«
Ein Magier , wollte er schon sagen. Doch das hätte Falk noch viel weniger verstanden. Dieser schüttelte den Kopf.
»Hör zu, ich bin deine Ausreden leid! Wir ziehen bald wieder los, gegen Banniers Männer, egal, ob du uns nun hilfst oder nicht. Aber eines sage ich dir! Wenn du nicht redest, werden du und deine Freunde im Höllenschlund verrotten.«
»Ihr müsst mir glauben!«, rief Lukas. »Bitte …«
»Schluss jetzt!« Falk wollte eben nach Lorenz rufen, als von draußen Schreie und Alarmrufe ertönten. Waffen wurden klirrend gezogen, schnelle Schritte huschten am Zelt vorbei.
»Was zum Teufel …?«
Der Hauptmann lauschte kurz, dann griff er zu dem mächtigen Korbdegen, der am Tisch lehnte. »Verflucht, wir werden angegriffen!«, brüllte Falk. »Wenn du Bürschchen irgendetwas damit zu tun hast, dann Gnade dir Gott …«
In diesem Augenblick war ein Knurren vor dem Zelt zu hören, dann ein langgezogenes Heulen.
»Was ist das?«, fragte Falk verwirrt.
Lukas erstarrte. »O Gott, ich glaube, ich weiß, was das ist«, sagte er leise. »Es … es sind Wölfe …«
»Wölfe? Willst du damit sagen, dass uns Wölfe angreifen?«
»Das sind keine normalen Wölfe«, erwiderte Lukas. »Es sind …«
Doch es war zu spät. Falk war bereits hinaus vor das Zelt getreten.
»Nehmt Euch in Acht!«, rief Lukas. Dann rannte er Falk hinterher. Er sah einen großen weißen Schatten, der auf den Hauptmann zu sprang. Schon im nächsten Moment warf der Wolf Falk zu Boden.
Lorenz und zwei weitere Männer standen nicht weit entfernt, sie waren vom Angriff des Wolfs so überrascht, dass sie nicht kämpften, sondern nur mit offenem Mund die weiße Bestie anstarrten.
»Aber … aber …«, stotterte Lorenz. »Was um Himmels Willen …«
Aus dem Augenwinkel nahm Lukas wahr, dass der weiße Wolf nicht der einzige Angreifer war. Überall sprangen Wölfe über die Hecke oder krochen darunter hindurch, es waren fast zwei Dutzend, ein ganzes Rudel. Es handelte sich um gewöhnliche Wölfe, das Fell schmutzig braun, von normaler Größe, doch dazwischen streiften auch die großen weißen Wölfe umher, die Lukas bereits kannte. Vier waren noch übrig, einer von ihnen hatte Falk zu Boden geworfen und ging ihm gerade an die Kehle.
»Was … was machen all diese Wölfe hier im Lager?«, fragte Lorenz, der noch immer starr vor Schrecken dastand. »Und dann dieses Monstrum …«
Ohne eine Antwort rannte Lukas auf den am nächsten stehenden Mann zu, zog dessen Schwert aus der Scheide und näherte sich damit dem weißen Wolf. Die Waffe war ein sogenannter Katzbalger, ein kurzes Schwert, das im Nahkampf eingesetzt wurde. Lukas mochte den Katzbalger nicht sonderlich, er war ihm zu klobig. Doch in seiner Zeit bei den Schaufechtern hatte er gelernt, auch mit diesem Schwert zu kämpfen. Lukas hieb auf den Wolf ein, der fauchte und sich von seinem Opfer abwandte. Die Bestie musterte Lukas, und er glaubte ein dämonisches Funkeln in dessen Augen zu sehen, so als ob der Wolf ihn erkannte.
»Du bist meinetwegen hier, nicht wahr?«, schrie Lukas den Wolf an. »Dann kämpfe auch mit mir und lass diese Männer in Frieden!«
Mit gefletschten Zähnen stellte sich der Wolf auf die Hinterbeine und sprang. Lukas wich aus und ging in Position, er versetzte dem Wolf einen Zwerchhau, so wie er es einst gelernt hatte. Als die Klinge den Wolf in der Seite traf, jaulte dieser kurz vor Schmerzen auf. Dann ging er seinerseits zum Angriff über. Sprung, Ausweichen, Finten, Attacken … Der Kampf wogte hin und her.
Lukas focht wie der Teufel. Eigentlich hassten Wölfe lange Waffen, doch dieser hier kannte offenbar keine Furcht. Bei seinem nächsten Angriff warf er sich dem Schwert in Todesverachtung einfach entgegen. Zwar traf ihn Lukas an der Pfote, doch die schiere Wucht des Aufpralls warf ihn um. Der aufgesperrte Rachen des riesigen Raubtiers war nur noch wenige Handbreit von ihm entfernt, er konnte bereits dessen fauligen Atem riechen. Verzweifelt versuchte er, mit seinen Händen das Biest von sich wegzudrücken. Doch es war, als wollte man einen Felsen versetzen. Die spitzen Zähne kamen näher und näher …
Plötzlich erklang eine Stimme in Lukas’ Kopf, es war ein tiefes unheimliches Grollen.
Wolfstöter … Rache für Fang und Blitz!
Lukas zuckte zusammen. Er konnte den Wolf sprechen hören! Was für ein Hexenwerk war das? Die Furcht verlieh Lukas neue Kräfte. Er drückte die Bestie von sich weg. Während er in die roten Augen des Untiers starrte, ertönte wieder die tiefe Stimme in seinem Inneren.
Wolfstöter mit Eisentatze … Verfluchter Buchdieb …
»Buchdieb?«, keuchte Lukas. »Du … du meinst das Grimorium, nicht wahr? Wer schickt euch? Ist es Schönborn, oder …«
In diesem Moment sauste eine Klinge auf den Kopf des Wolfs herab. Es war Falk von Dinkelsbühl, der sich wieder aufgerappelt hatte. Der große Korbdegen fuhr in den Hals der Bestie, und diese heulte vor Schmerzen auf. Sie ließ von Lukas ab, doch sie war noch immer nicht tot. Stattdessen warf sie sich nun den anderen Männern entgegen, die schreiend zurückwichen. Blut tropfte vom Fell des Wolfs, was ihn offenbar nur noch mehr anstachelte. Schon lag einer der Männer leblos am Boden. Lorenz holte mit seinem großen Spieß aus, doch es war zu spät. Die Fänge der Bestie schnappten zu und erwischten Lorenz am Arm. Wieder war Falk zur Stelle. Er hieb auf den Wolf ein und traf ihn mit der Klinge im Nacken. Endlich ließ das Tier Lorenz’ Arm los und blieb leblos und mit heraushängender Zunge liegen.
»Herrgott, was für ein Monstrum!«, keuchte Falk. Er sah sich um. »Wo kommen all diese Viecher nur plötzlich her?«
Tatsächlich streiften die Wölfe überall durchs Lager, die kleineren braunen, aber auch die drei verbliebenen großen weißen, von denen einer besonders gewaltig war. Er kämpfte gegen vier Männer gleichzeitig, andere lagen bereits vor ihm am Boden. Überall wehrten sich die Harzschützen verzweifelt gegen die Bestien.
»Mit den normalen Wölfen würden wir schon fertigwerden«, sagte Falk und wischte sich Blut und Schweiß von der Stirn. »Aber diese großen Weißen …« Er wandte sich Lukas zu. »Was weißt du darüber? Du kennst sie, nicht wahr?«
»Es würde zu lange dauern, das jetzt zu erklären«, entgegnete Lukas hastig. Noch immer ging ihm durch den Kopf, was der Wolf eben zu ihm gesagt hatte. Ob er wusste, wo Elsa sich aufhielt? Wer hatte ihn geschickt? Gerne hätte Lukas mehr erfahren. Doch der Wolf war tot. Hatte er sich dessen Stimme vielleicht nur eingebildet?
Er deutete auf Lorenz, der mit blutendem Arm neben ihnen kauerte. »Sammelt Eure Männer und kämpft gegen die braunen Wölfe. Ich kümmere mich um die großen Weißen.« Plötzlich fiel Lukas etwas ein. »Ihr sagtet vorher, auch Jäger seien unter Euren Männern?«
Falk nickte. »Ja, wieso?«
»Lasst sie zur Jagd blasen! Die braunen Wölfe mögen das Signal nicht. Mag sein, dass sie verschwinden.«
Mit diesen Worten rannte Lukas auf die Hecke zu. Währenddessen rasten seine Gedanken. Es konnte keinen Zweifel geben: Die Wölfe waren seinetwegen hier, sie waren ihm und seinen Freunden gefolgt. Die weiße Bestie hatte ihn als Buchdieb bezeichnet. Vermutlich waren die Tiere von Schönborn ausgeschickt worden, um das Grimorium zurückzuholen und sie zu töten. Einmal mehr spürte Lukas das Buch warm unter seinem Wams pochen. Er könnte das Buch jetzt einsetzen. Sicher gab es irgendeinen mächtigen Spruch, der ihm helfen konnte. Oder aber er gab es freiwillig her, damit die Kämpfe aufhörten …
Niemals! Ich gehöre dir, nur dir!
Die Stimme in seinem Kopf war so laut, dass sie den Kampfeslärm kurz übertönte. Sie klang anders als die des Wolfes vorher, hell und schrill, befehlend.
»Sei still!«, flüsterte er, ganz so, als könnte er mit dem Buch reden. Nein, er würde das Grimorium nicht weggeben, aber er würde es auch nicht einsetzen.
Instinktiv war Lukas auf die Hecke zugelaufen, weil er wusste, dass die Wölfe hinter ihm her waren. Wenn sie ihn witterten und ihm nachliefen, ließen sie hoffentlich die Harzschützen in Ruhe – und auch seine Gefährten, die immer noch wehrlos im Höllenschlund verharrten.
Der Höllenschlund!
Plötzlich kam Lukas ein Gedanke. Von den Jagden früher mit seinem Vater wusste er, dass man Tiere täuschen konnte. Sie witterten Menschen, aber nur, wenn sie ihren Geruch verfolgen konnten. Sein Vater hatte ihm deshalb mal geraten, sich mit stinkendem Dreck einzureiben, um den menschlichen Geruch zu übertünchen.
Und genau das würde Lukas jetzt tun. Er würde zurück in den Höhlenschlund springen, dort, im Auge des Orkans, war er am sichersten.
Nur, ob das auch für magische Kreaturen galt? Denn dass die Biester magischer Natur waren, stand außer Zweifel.
Als Lukas zurück ins Lager eilte, ertönte ein Jagdhorn. Offenbar hatte Falk einen der Jäger gefunden. Das Horn blies zum Halali, das Zeichen der Jagd, und tatsächlich ging mit den braunen Wölfen eine Veränderung vor. Sie hörten auf zu kämpfen, stattdessen winselten sie und zogen die Schwänze ein. Die ersten zogen sich zurück, andere folgten ihnen und krochen durch die Hecke in den Wald. Nur die weißen Wölfe blieben, wo sie waren.
Geduckt rannte Lukas weiter, bis er den Höllenschlund erreicht hatte. Er war unbewacht, das Vorhängeschloss war noch nicht wieder angebracht. Lukas öffnete das Gitter, unten sah er die dreckigen Gesichter seiner Freunde.
»Zum Teufel, Lukas, was geht dort oben vor?«, rief Paulus zu ihm hoch. »Klingt so, als würde das Lager von einem ganzen Rudel Wölfe angegriffen. Und dann das Jagdhorn …«
»Ich erzähle euch gleich mehr«, sagte Lukas. »Jetzt still!«
Er sprang hinab in den Höllenschlund, wo er weich im stinkenden Mantsch landete.
»Was hast du …«, begann Gwendolyn, doch Lukas legte den Zeigefinger auf seine Lippen.
»Psst!«
Kurz darauf war über ihnen ein tiefes Knurren zu hören. Lukas hielt den Atem an und drückte sich an den Rand der Grube, die anderen taten es ihm gleich. Er wagte kaum hochzuschauen, aus dem Augenwinkel sah er jetzt eine große weiße Schnauze, die oben am Gatter schnüffelte. Spitze gelbe Zähne nagten am Holz.
Lukas’ Herz klopfte rasend schnell. Es war der größte der weißen Wölfe, und er war direkt über ihnen! Wenn er sie jetzt bemerkte, und es ihm irgendwie gelang, das Gitter mit seinen Zähnen zu öffnen, war alles aus. Lukas konnte nur hoffen, dass der Trick mit dem stinkenden Schlamm funktionierte.
Die Freunde verharrten schweigend, während oben der Wolf um das Gitter herumstrich. Noch einmal tauchte die große Schnauze am Rande der Grube auf. Doch schließlich zog er weiter, das Heulen der anderen Wölfe wurde nach und nach leiser. Dafür hörte man jetzt die Schreie verletzter Männer, aber auch Jubelrufe. Offenbar waren alle Wölfe in die Flucht geschlagen worden.
»Also, erzähl schon«, hob Giovanni schließlich an. »Was ist dort oben geschehen?«
Lukas berichtete den Freunden. Auch dass der Wolf zu ihm gesprochen hatte, erwähnte er.
»Das Tier hat mit dir geredet?«, fragte Jerome ungläubig. »Wie … wie ein Mensch?«
»Die Stimme war in meinem Kopf«, erwiderte Lukas. »Keine Ahnung, wie das ging. Vielleicht, weil der Wolf eine magische Kreatur ist …«
»Es ging, weil du eben zaubern kannst«, sagte Gwendolyn.
»Herrgott, selbst wenn es so ist, ich kann es nicht steuern!«, entgegnete Lukas. »Etwas anderes ist wichtiger. Das Biest hat mich als Buchdieb bezeichnet. Ich wollte wissen, ob es deshalb von Schönborn geschickt wurde. Um das Grimorium zurückzuerlangen. Aber dann hat ihm Falk den Garaus gemacht.«
»Ich denke, damit ist klar, dass uns Schönborn auf den Fersen ist«, sagte Giovanni. »Verflucht, und wir sitzen hier unten fest!«
Keiner kümmerte sich um die Gefangenen. Nach einer Weile rief Paulus: »He, ihr Mistkerle, wir sind immer noch hier im Loch!«
»Und da gehört ihr auch hin!«, brummte ein Wachmann. Er sah nach unten. »Wir haben hier schon genug Schwierigkeiten, als dass …« Seine Miene veränderte sich, als er Lukas erkannte. »He, das ist doch der Bursche, den Falk sucht! Dachte, der wäre abgehauen. Na, da wird der Hauptmann aber Augen machen …«